
Die besten 10 im Dezember 2023

1. Zadie Smith (32 Punkte) NEU
„Betrug“, Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Tanja Handels
Mit ihrem Romandebüt „Zähne zeigen“ wurde die damals 25-jährige Zadie Smith im Jahr 2000 schlagartig bekannt. Etliche Romane, Erzählungen und Essays später, zählt die 1975 in London als Tochter einer Jamaikanerin und eines Briten geborene Smith zu den großen Stars der Literaturszene. In der Vergangenheit hat die Schriftstellerin ihr Schreiben meist im multikulturellen London der Gegenwart verankert, in „Betrug“ nimmt sie sich erstmals eines historischen Stoffes an. Die Handlung spielt im viktorianischen England und kreist um einen historischen Gerichtsprozess, den sogenannten „Tichborne Fall“. Arthur Orten, ein Londoner Fleischhacker steht vor Gericht, weil er behauptet, Roger Tichborne zu sein, der Jahre zuvor verschollene Erbe des Tichborne-Clans. Lady Tichborne meint in dem Mann ihren Sohn wiederzuerkennen, doch die restliche Verwandtschaft durchschaut den Betrug. Die gänzliche Unähnlichkeit zwischen den beiden Männern, sowie Ortons völlige Unkenntnis des Französischen (Tichbornes zweiter Muttersprache) sollte aus dem Fall eigentlich eine klare Angelegenheit machen – doch die Presse macht aus dem Hochstapler zu eine Art Robin Hood, zu einer Galionsfigur des Klassenkampfs.
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2. Peter Handke (28 Punkte) NEU
„Die Ballade des letzten Gastes“, Suhrkamp
In „Die Ballade des letzten Gastes“ erzählt Peter Handke, wieder einmal, vom Aufbrechen und Zurückkehren und davon, wie sehr Veränderung und Vertrautheit Hand in Hand gehen. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist die in Peter Handkes Werk immer wieder kehrende Figur des Gregor: Gregor ist es, der in diesem Text in sein ‚vormaliges Vieldörferland’ aufbricht aus Anlass der Geburt eines Kindes: seine Schwester wünscht sich, er, Gregor, solle der Taufpate sein. Es ist ein Text, in dem Peter Handke erneut zeigt, wozu seine radikal subjektive Literatur befähigt: mittels Sprache, mittels eines Erzählens, das sich an keiner Stelle aufplustert, in eine Bewegung zu kommen, in der Gegenwärtiges und Vergangenes, Grauen, Geheimnis und Glanz in ihrer fürchterlichen wie friedvollen Verflechtetheit spürbar werden. Nicht zufällig spielt das Wort „Flechte“ in diesem Buch eine so wichtige Rolle.

3. Paul Auster (24 Punkte) NEU
„Baumgartner“, Rowohlt
Übersetzung: Werner Schmitz
Mehr als 30 Romane, übersetzt in rund 40 Sprachen – Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Der bevorzugte Erzählkosmos des 1947 in New Jersey geborenen Schriftstellers: seine Heimatstadt New York, genauer gesagt der Stadtteil Brooklyn, wo er mit seiner Frau, der bekannten Autorin Siri Hustvedt, wohnt. Sein neuer Roman „Baumgartner“ ist mit knapp 200 Seiten ungewohnt schmal ausgefallen, hatten doch die beiden Vorgänger „4321“ und „In Flammen“ weit über 1.000 Seiten – was mit der Krebserkrankung zu tun haben mag, gegen die Auster seit Monaten ankämpft. Geschmälter hat sich allerdings nur der Umfang, denn an erzählerischer Brillanz hat Auster hier nichts eingebüßt. Der titelgebende Baumgartner ist ein emeritierter College-Professor, der an der renommierten Princeton-University Philosophie gelehrt hat und seine Zeit mit dem Verfassen neuer philosophischer Schriften, zunehmend aber auch mit dem Schwelgen in Erinnerungen verbringt, in einem Leben, das nicht mehr ist. Seit 10 Jahren ist Baumgartner nun schon verwitwet, doch über den Tod seiner geliebten Frau Anna ist er mitnichten hinweg. Was klingt wie ein melancholisches Alterswerk, ist tatsächlich eine durchaus humorvolle Charakterstudie, gespickt mit literarischen und philosophischen Querverweisen.

4. Wolf Haas (22 Punkte)
„Eigentum“, Hanser
Der Autor Wolf Haas ist Kult: nicht zuletzt seiner legendären „Brenner“-Krimis wegen - und deren nicht minder erfolgreichen Verfilmungen. Aber der studierte Germanist schreibt nicht nur Krimis: sein jüngstes Buch „Eigentum“ ist ein weiterer Beleg dafür. Haas setzt nicht nur seiner eigenen Mutter ein unsentimentales Denkmal, sondern legt damit auch ein Buch vor, das das Verhältnis zwischen Schreiben und Leben erforscht. So zu erzählen, dass es möglichst jeder lesen kann, zugleich mit hohem literarischen und ethischen Anspruch: das war immer schon die Ambition von Wolf Haas. Im Herzen des Romans „Eigentum“ steht die Frage: „Kann man vom Leben schreiben?“ Alles dreht sich darin um einen Autor, der mit der Geschichte seiner Mutter ringt und sie schließlich doch zu Papier bringt: es ist die Geschichte einer Frau aus armen Verhältnissen, die ihr Leben lang vom sozialen Aufstieg träumte, davon, selbst einmal Eigentum zu besitzen.

5. ex aequo: Barbi Marković (21 Punkte)
„Minihorror“, Residenz
Die Schriftstellerin Barbi Marković hat ein gutes Jahr hinter sich. Gleich zwei Mal wurde sie heuer ausgezeichnet, mit dem Berliner Kunstpreis und dem Outstanding Artist Award des Bundesministeriums für Kunst und Kultur. Nach „Die verschissene Zeit“ ist „Minihorror“ der zweite Roman, den die in Belgrad aufgewachsene Schriftstellerin auf Deutsch geschrieben hat und der sich, wie der Vorgänger, durch einen unverkennbar originellen Sound auszeichnet. Horror trifft das „Lustige Taschenbuch“, so könnte man das Buch, das aus rund zwei Dutzend zusammenhängenden Geschichten besteht, mit wenigen Worten beschreiben. Die Hauptfiguren Miki und Mini lassen ganz bewusst an die weltbekannten Disney-Mäuse denken, bieten aber gleichzeitig reichlich Identifikationspotenzial, denn ihr Horror ist der ganz normale städtische Alltag: Da lauern menschenfressende Cousinen-Monster im Supermarkt, es zerbröckeln Gesichter unter den Abschminktüchern und ein Besuch bei Ikea wird zum existenzialistischen Spießrutenlauf. Skurril, bissig und doch einfühlsam widmet sich Barbi Marković in „Minihorror“ den Ängsten des Mittelstands.
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5. ex aequo: Maruša Krese (21 Punkte)
„Trotz alledem“, S. Fischer
Übersetzung: Liza Linde
Die 2013 verstorbene Maruša Krese gilt bis heute als eine der wichtigsten Intellektuellen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Neben ihrer literarischen Arbeit war sie als Psychotherapeutin und als Reporterin tätig, bereiste die Krisengebiete dieser Welt und wurde für ihr humanitäres Engagement während des Bosnien-Krieges 1997 mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ihr Werk umfasst Gedichte, Essays, Hörspiele – und einen Roman, den sie trotz schwerer Krankheit noch vor ihrem Tod fertigstellen konnte. Zehn Jahre später ist „Trotz alledem“ nun endlich in deutscher Übersetzung erschienen. Es ist ein Abgesang auf Jugoslawien, eng verwoben mit der Familiengeschichte der Autorin, die 1947 als Tochter eines Partisanen und einer Partisanin in Ljubljana geboren wurde. Vier Jahreszahlen gliedern das Erzählte: 1941, 1952, 1968 und 2012. Drei Ichs berichten aus ihrem Leben: die Mutter, der Vater und die Tochter. Fern jeglicher Jugo-Nostalgie erzählt Krese vom Freiheitskampf der Partisanen, deren unausweichlicher menschlichen Verrohung und den Gewissensbissen der Eltern. Von der raschen Musealisierung des Partisanentums zu Gunsten linientreuer Emporkömmlinge, von der Studentenrevolte 68, die auch vor Titos Jugoslawien nicht Halt machte – bis hinein in eine Zeit, in der all das längst Geschichte ist.

7. Viktor Jerofejew (17 Punkte) NEU
„Der Große Gopnik“, Matthes & Seitz
Übersetzung: Beate Rausch
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew hat dem Regime von Vladimir Putin lange widerstanden. Bereits 2009 warf er dem Präsidenten öffentlich einen Staatsstreich vor, 2011 wurde er vom staatlichen Fernsehen als Moderator einer literarischen Talkshow gefeuert, in der Folge tat er sich als Kritiker der Krim-Annexion hervor. Nach dem Beginn des Ukrainekrieges allerdings sah sich Jerofejew gezwungen, Moskau zu verlassen und sich nach Berlin ins Exil zu begeben. Nun hat er den Roman „Der große Gopnik“ veröffentlicht.
Ein „Gopnik“, das ist eine Art Hinterhofgangster, ein Hooligan, der sein Umfeld aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex heraus malträtiert. Die Kernthese des Romans: Vladimir Putin – auch wenn sein Name nie genannt wird – ist ein ebensolcher Gopnik. In einer bis ins Absurde übersteigerten Hyperrealität erzählt Jerofejew vom Aufstieg Putins, von seinen bescheidenen Anfängen bis hin zum russischen Präsidenten. Als Gegenspieler stellt ihm Jerofejew sich selbst gegenüber, besser gesagt eine fiktionalisierte, fast schon parodierte Version seiner selbst. Fragmentarisch springt die sich über 600 Seiten erstreckende Handlung zwischen den beiden Protagonisten hin und her und kreist dabei ebenso humorvoll wie scharfsinnig um die Frage: wie konnte es so weit kommen, dass die gesamte Welt ausgerechnet von einem solchen Schlägertypen, von einem großen Gopnik, tyrannisiert wird?

8. Valentin Polanšek (14 Punkte) NEU
„Schicksalsherbst der Brüder“, bahoe books
Übersetzung: Metka Wakounig
Den Verdienst des Valentin Polanšek für das kulturelle Leben der Kärntner Slowenen und Sloweninnen kann man gar nicht hoch genug schätzen: als Schriftsteller, Komponist und auch als Lehrer an einer zweisprachigen Volksschule ist Polanšek längst zu einem personifizierten Kulturgut geworden. Er war Gründer des Verbandes Slowenischer Schriftsteller in Österreich, initiierte und organisierte die Tagungen der europäischen Minderheitsschriftsteller und arbeitete für die slowenische Abteilung des ORF in Klagenfurt. „Schicksalsherbst der Brüder“ gilt als einer seiner bedeutendsten Romane und liegt nun, knapp 30 Jahre nach Veröffentlichung, erstmals auf Deutsch vor. Es ist ein Partisanenroman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Polanšek erzählt darin die tragische Geschichte zweier seiner Nachbarn: Die Brüder Matevž. Nach dem Einmarsch Hitlers schlossen sich die beiden schon als Jugendliche dem slowenischen Widerstand an und verloren ihre Leben im Kampf. Über das Schicksal der beiden Brüder macht Polanšek die grausame Verfolgung der slowenischen Minderheit greifbar, die er selbst schmerzlich erleben musste: der Großteil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet.

9. Maja Haderlap (12 Punkte)
„Nachtfrauen“, Suhrkamp
Mit einem Auszug aus dem Roman „Engel des Vergessens“ hat Maja Haderlap 2011 den Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen. Das Buch ist ein Bestseller geworden und hat Haderlap schlagartig bekannt gemacht. Entsprechend groß war die Neugier auf ihr neues Buch „Nachtfrauen“. Es ist Haderlaps erster Roman nach „Engel des Vergessens“, und er spielt erneut in Kärnten. Es sind drei Frauen, die Maja Haderlap in den Mittelpunkt ihres neuen Romans „Nachtfrauen“ stellt: sie gehören unterschiedlichen Generationen an, Großmutter, Mutter, Tochter: gemeinsam ist ihnen die Herkunft aus prekär-bäuerlichen, streng-patriarchalen Verhältnissen, die der Zweiter Krieg noch brutalisiert hat. „Nichts Schlimmeres als zu verweichlichen“, ist hier das Credo. Der Roman ist im zweisprachigen Südkärntner Raum angesiedelt und weist doch weit über diesen hinaus: In „Nachtfrauen“ von Maja Haderlap steckt ein eindringliches Plädoyer für all die vielen unterprivilegierten Frauen, die im Stillen einfach ihr Leben meistern - ein Roman von hoher zeithistorischer Relevanz und literarischer Qualität.
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10. Daniel Kehlmann (11 Punkte)
„Lichtspiel“, Rowohlt
Wie hätten wir uns damals verhalten? Was können wir aus der Geschichte lernen? Wann trifft man die richtigen Entscheidungen? Warum die falschen? All diese Fragen verhandelt Daniel Kehlmann in seinem Roman „Lichtspiel“ anhand der Biografie von G.W. Pabst, dem großen Kinopionier und Meister des Stummfilms. Zu Beginn der 1930er Jahre ist Pabst, nach Filmen wie „Die Büchse der Pandora“ und der Brecht-Verfilmung „Die Dreigroschenoper“, längst ein großer Star des europäischen Kinos. Als die Nazis in Deutschland die Macht ergreifen, beschließt Pabst sein Glück in Hollywood zu versuchen – und scheitert. Während viele seiner Kollegen vor den Nazis Richtung USA fliehen, kommt der aus Böhmen stammende Österreicher in seine Heimat zurück, um seine kranke Mutter zu besuchen. Es ist das Jahr 1939, bald sind die Grenzen dicht und Europa ist im Krieg. Wie soll er nun weiter arbeiten? Es dauert nicht lange, bis das Propaganda-Ministerium vor der Türe steht. Im Spiel mit Fakt und Fiktion sucht Daniel Kehlmann Antworten auf die Frage, wie jemand wie G.W. Pabst, ein weltoffener Regisseur, dessen frühe Filme politisch klar im linken Spektrum verortet sind, unter dem NS-Regime Filme machen konnte.
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