Bestenliste November
ORF

Die besten 10 im November 2023

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Lichtspiel
Rowohlt

1. Daniel Kehlmann (53 Punkte) NEU

Lichtspiel“, Rowohlt

Wie hätten wir uns damals verhalten? Was können wir aus der Geschichte lernen? Wann trifft man die richtigen Entscheidungen? Warum die falschen? All diese Fragen verhandelt Daniel Kehlmann in seinem Roman „Lichtspiel“ anhand der Biografie von G.W. Pabst, dem großen Kinopionier und Meister des Stummfilms. Zu Beginn der 1930er Jahre ist Pabst,  nach Filmen wie „Die Büchse der Pandora“ und der Brecht-Verfilmung „Die Dreigroschenoper“, längst ein großer Star des europäischen Kinos. Als die Nazis in Deutschland die Macht ergreifen, beschließt Pabst sein Glück in Hollywood zu versuchen – und scheitert. Während viele seiner Kollegen vor den Nazis Richtung USA fliehen, kommt der aus Böhmen stammende Österreicher in seine Heimat zurück, um seine kranke Mutter zu besuchen. Es ist das Jahr 1939, bald sind die Grenzen dicht und Europa ist im Krieg. Wie soll er nun weiter arbeiten? Es dauert nicht lange, bis das Propaganda-Ministerium vor der Türe steht. Im Spiel mit Fakt und Fiktion sucht Daniel Kehlmann Antworten auf die Frage, wie jemand wie G.W. Pabst, ein weltoffener Regisseur, dessen frühe Filme politisch klar im linken Spektrum verortet sind, unter dem NS-Regime Filme machen konnte.

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Muna
Luchterhand Literaturverlag

2. Terézia Mora (33 Punkte)  

Muna oder Die Hälfte des Lebens“, Luchterhand

Die 1971 in Sopron geborene Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora kann auf eine beachtliche Liste von Auszeichnungen zurückblicken, darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis, der Deutsche Buchpreis und nicht zuletzt der Georg-Büchner-Preis, der ihr 2018 für ihr Gesamtwerk verliehen wurde. Im Begründungsschreiben der Jury war damals zu lesen: „In ihren Romanen und Erzählungen widmet sich Terézia Mora Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit.“ Das trifft auch auf ihren neuen Roman „Muna oder die Hälfte des Lebens“ zu, der es abermals auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Die Handlung setzt im Jahr 1989 ein, in der DDR, unmittelbar vor dem Mauerfall. Die Abiturientin Muna verbringt eine Nacht mit dem Französischlehrer und Fotografen Magnus, doch im Wirbel der politischen Ereignisse verlieren sich die beiden sogleich wieder aus den Augen. Sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und lassen sich schnell auf eine Beziehung ein, doch schon früh treten die ersten Probleme auf. Magnus ist oft unbeherrscht und begegnet Muna mit zunehmender Distanz und Gefühlskälte. Doch sie hält an der Beziehung fest, schluckt ihre verletzten Gefühle runter und redet sich ein, dass alles besser wird. Mit bedrückender Genauigkeit beschreibt Terézia Mora was es bedeutet, sein Leben in gänzlicher Abhängigkeit von einem anderen zu führen.

Minihorror
Residenz

3. Barbi Marković (29 Punkte) NEU

Minihorror“, Residenz

Die Schriftstellerin Barbi Marković hat ein gutes Jahr hinter sich. Gleich zwei Mal wurde sie heuer ausgezeichnet, mit dem Berliner Kunstpreis und dem Outstanding Artist Award des Bundesministeriums für Kunst und Kultur. Nach „Die verschissene Zeit“ ist „Minihorror“ der zweite Roman, den die in Belgrad aufgewachsene Schriftstellerin auf Deutsch geschrieben hat und der sich, wie der Vorgänger, durch einen unverkennbar originellen Sound auszeichnet. Horror trifft das „Lustige Taschenbuch“, so könnte man das Buch, das aus rund zwei Dutzend zusammenhängenden Geschichten besteht, mit wenigen Worten beschreiben. Die Hauptfiguren Miki und Mini lassen ganz bewusst an die weltbekannten Disney-Mäuse denken, bieten aber gleichzeitig reichlich Identifikationspotenzial, denn ihr Horror ist der ganz normale städtische Alltag: Da lauern menschenfressende Cousinen-Monster im Supermarkt, es zerbröckeln Gesichter unter den Abschminktüchern und ein Besuch bei Ikea wird zum existenzialistischen Spießrutenlauf. Skurril, bissig und doch einfühlsam widmet sich Barbi Marković in „Minihorror“ den Ängsten des Mittelstands.

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Arson
Jung und Jung

4. Laura Freudenthaler (27 Punkte)       

„Arson“, Jung und Jung

Wer sich für österreichische Gegenwartsliteratur interessiert, kommt an ihr nicht umhin: Laura Freudenthaler. „Arson“ lautet der Titel ihres jüngsten Roman, Auszüge daraus waren bereits im Rahmen des Auftritts der Autorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 zu hören, wo Freudenthaler mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde. „Arson“ bedeutet „Brandstiftung“ - die Welt, die Laura Freudenthaler hier beschreibt, ist eine, die außer Kontrolle geraten ist: der menschengemachte Klimawandel zeitigt verheerende Folgen. Die Schriftstellerin hat für den Roman viel recherchiert, das prägt den Text in seinen Tiefenschichten. Ins Zentrum stellt sie zwei Figuren: eine weibliche, die die aus den Fugen geratende Welt beobachtet und sich zunehmend aus dieser zurückzieht und eine männliche: einen Wildfeuerforscher, den der sich verschlechternde Zustand unseres Planeten immer hilfloser macht. Depression, Schlaflosigkeit: sie sind im Text allgegenwärtig. „Ich muss glauben, dass mein kleines Leben eine Bedeutung hat, sonst mache ich gar nichts mehr“, schreibt Laura Freudenthaler an einer Stelle. „Arson“ zeigt nicht zuletzt: Literatur greift viel tiefer als jede Therapie.

Nachtfrauen
Suhrkamp

5. Maja Haderlap (18 Punkte)        

Nachtfrauen“, Suhrkamp

Mit einem Auszug aus dem Roman „Engel des Vergessens“ hat Maja Haderlap 2011 den Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen. Das Buch ist ein Bestseller geworden und hat Haderlap schlagartig bekannt gemacht. Entsprechend groß war die Neugier auf ihr neues Buch „Nachtfrauen“. Es ist Haderlaps erster Roman nach „Engel des Vergessens“, und er spielt erneut in Kärnten. Es sind drei Frauen, die Maja Haderlap in den Mittelpunkt ihres neuen Romans „Nachtfrauen“ stellt: sie gehören unterschiedlichen Generationen an, Großmutter, Mutter, Tochter: gemeinsam ist ihnen die Herkunft aus prekär-bäuerlichen, streng-patriarchalen Verhältnissen, die der Zweiter Krieg noch brutalisiert hat. „Nichts Schlimmeres als zu verweichlichen“, ist hier das Credo. Der Roman ist im zweisprachigen Südkärntner Raum angesiedelt und weist doch weit über diesen hinaus: In „Nachtfrauen“ von Maja Haderlap steckt ein eindringliches Plädoyer für all die vielen unterprivilegierten Frauen, die im Stillen einfach ihr Leben meistern -  ein Roman von hoher zeithistorischer Relevanz und literarischer Qualität. 

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Erinnyen
Suhrkamp

 

6. Marion Poschmann (16 Punkte) NEU     

Chor der Erinnyen“, Suhrkamp

Poesie, Mythos und die schnöde Realität des Alltags: Marion Poschmanns Schreiben zeichnet sich durch eine ebenso gewitzte wie gewiefte Verbindung dieser Elemente aus. „Chor der Erinnyen“ heißt der neue Roman der 1969 in Essen geborenen Schriftstellerin, es ist eine Art Fortsetzung von „Die Kieferninseln“, der von der Kritik umjubelt wurde. Während letzterer von einem deutschen Kulturwissenschaftler erzählt, der nach Japan abhaut, weil er sich einbildet, von seiner Frau betrogen worden zu sein, widmet sich „Chor der Erinnyen“ nun ebendieser verlassenen Frau. Mathilda ist Gymnasiallehrerin für Musik und Mathematik, sie führt ein geordnetes Leben ohne große Überraschungen – bis ihr Mann kommentarlos verschwindet. Auch wenn Mathilde vehement versucht, sich dadurch nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, passieren immer seltsamere Dinge: sie hat Visionen, die sich wenig später bewahrheiten, ihre Mutter übt plötzlich eine unerklärliche Macht über sie aus, und immer wieder meint sie einen flüsternden Singsang zu vernehmen – den Chor der Erinnyen, der griechischen Rachegöttinnen? Mit viel Humor schreibt Poschmann über eine Frau, der die Kontrolle über ihr Leben entgleitet.

0 1 2
Luchterhand

7. Daniel Wisser (14 Punkte) NEU

0 1 2“, Luchterhand

Als Daniel Wisser 2018 mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, sagte er in seiner Dankesrede: Ja, er sei Schriftsteller und er sei Österreicher, aber er sei kein österreichischer Schriftsteller – denn mit literarischen Etiketten tut sich der 1971 in Klagenfurt geborene Autor grundsätzlich schwer. Tatsächlich hat sich Wisser in seinem umfangreichen Werk als extrem wendig erwiesen, sowohl was seine Themen angeht, als auch seinen Stil. Was jedoch alle seine Bücher auszeichnet, ist ein rebellischer Witz. Als Beleg dafür eignet sich auch sein neuer Roman „Null Eins Zwei“: Darin erfindet er einen Programmierer, Erik Montelius, der 30 Jahre nach seinem Tod wieder ins Leben zurückgeholt wird: Die Zeit, die er versäumt hat, ist die zwischen 1991 und 2021 - vom Ende des Kalten Krieges bis zum letzten Lockdown in Österreich. Dieser literarische Kniff ermöglicht es Daniel Wisser auch, diese Zeitspanne kritisch Revue passieren zu lassen und zu zeigen: der Fortschritt westlicher Demokratien: er liegt hinter uns. Mit „Null Eins Zwei“ ist Daniel Wisser ein höchstvergnüglicher, formal gewiefter und politisch brisanter Gegenwartsbefund gelungen.

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Weil da war etwas im Wasser
Picus

8. ex aequo: Luca Kieser (12 Punkte)   

Weil da war etwas im Wasser“, Picus

Der in Wien lebende Autor Luca Kieser entführt die Leser:innen in seinem Debütroman „Weil da war etwas im Wasser“ in die Tiefen des Ozeans. Dort lebt eine Riesenkalmarin – ein besonders großer Tintenfisch. Aus der Sicht ihrer acht Arme wird in dem Roman die Geschichte dieser Riesenkalmarin erzählt. Kieser lässt jeden Arm seine eigene Geschichte erzählen und spielt in dem Roman damit, die klassischen Regeln des Lesens zu brechen. Immer wieder laden die Arme ein, einige Kapitel zu überspringen und Einschübe querzulesen. Außerdem erzählen die Arme historische Geschichten von Männern, die sich in ihrem künstlerischen Schaffen in unterschiedlichen Epochen mit Meerestieren auseinandergesetzt haben. Sie alle sind zu dem Zeitpunkt – ebenso wie der Autor – etwa 30 Jahre alt. Luca Kieser verknüpft in seinem Roman geschickt verschiedene Geschichten mit autofiktionalen und naturphilosophischen Elementen ineinander, die allesamt von einem Meereswesen, der Riesenkalmarin, zusammengehalten werden. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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Trotz alledem
S. Fischer

    

8. ex aequo: Maruša Krese (12 Punkte) NEU     

Trotz alledem“, S. Fischer
Übersetzung: Liza Linde

Die 2013 verstorbene Maruša Krese gilt bis heute als eine der wichtigsten Intellektuellen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Neben ihrer literarischen Arbeit war sie als Psychotherapeutin und als Reporterin tätig, bereiste die Krisengebiete dieser Welt und wurde für ihr humanitäres Engagement während des Bosnien-Krieges 1997 mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ihr Werk umfasst Gedichte, Essays, Hörspiele – und einen Roman, den sie trotz schwerer Krankheit noch vor ihrem Tod fertigstellen konnte. Zehn Jahre später ist „Trotz alledem“ nun endlich in deutscher Übersetzung erschienen. Es ist ein Abgesang auf Jugoslawien, eng verwoben mit der Familiengeschichte der Autorin, die 1947 als Tochter eines Partisanen und einer Partisanin in Ljubljana geboren wurde. Vier Jahreszahlen gliedern das Erzählte: 1941, 1952, 1968 und 2012. Drei Ichs berichten aus ihrem Leben: die Mutter, der Vater und die Tochter. Fern jeglicher Jugo-Nostalgie erzählt Krese vom Freiheitskampf der Partisanen, deren unausweichlicher menschlichen Verrohung und den Gewissensbissen der Eltern. Von der raschen Musealisierung des Partisanentums zu Gunsten linientreuer Emporkömmlinge, von der Studentenrevolte 68, die auch vor Titos Jugoslawien nicht Halt machte – bis hinein in eine Zeit, in der all das längst Geschichte ist.

   

Steine aus dem Himmel
Bibliothek Suhrkamp

8. ex aequo: Tomaž Šalamun (12 Punkte) 

Steine aus dem Himmel“, Bibliothek Suhrkamp
Übersetzung: Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck

Tomaž Šalamun gilt als der bedeutendste und international bekanntester Dichter der slowenischen Gegenwartsliteratur, 2014 ist der 1941 in Zagreb geborene Schriftsteller verstorben. 51 Gedichtbände zählt sein Werk, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Er war Herausgeber des Literaturmagazins „Perspektive“, sein Debüt „Poker“ im Jahr 1966 gilt heute als Wendepunkt in der slowenischen Lyrik. Er war studierter Kunsthistoriker, arbeitete nebenher auch als Broker an der Börse, war Kulturattachée in New York, wo er bis heute als Dichter hoch verehrt wird. In der Reihe Bibliothek Suhrkamp ist nun eine Auswahl der Gedichte aus seinem Spätwerk erschienen, die erstmals in deutscher Übersetzung und gleichzeitig ein guter Einstieg in den lyrischen Kosmos des Dichters ist. Er selbst beschrieb seine Gedichte als „Steine aus dem Himmel“ – denn genau so würden sie ihm zufliegen. 

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