Menschen & Mächte
Ukraine - Der lange Kampf um Unabhängigkeit
Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 sucht die neue „Menschen & Mächte“-Dokumentation „Ukraine – Der lange Kampf um Unabhängigkeit“ von Gregor Stuhlpfarrer und Viktoria Tatschl nach den historischen Wurzeln dieses Krieges. Nach Erklärungen für die vielen Auseinandersetzungen und Konflikte, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine schon im Laufe des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben. Und deren Auswirkungen bis heute nachwirken. Das 20. Jahrhundert war für die Ukraine ein Jahrhundert der Kriege, der Umbrüche und der Fremdherrschaft. Das zeigt sich etwa an Galizien, dem einst östlichsten Kronland der Donau-Monarchie, einem der Hauptschauplätze des Ersten Weltkrieges. Im vorletzten Kriegsjahr, 1917, erlangt die Ukraine erstmals ihre Unabhängigkeit: die „Ukrainische Volksrepublik“ wird in Kiew ausgerufen. Doch eine von Russland und den Mittelmächten, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich unabhängige Ukraine hat keine Zukunft. 1920 ist der Staat wieder Geschichte. Dafür gibt es politische, vor allem wirtschaftliche Gründe, etwa den „Hunger“ der Großmächte auf ukrainisches Getreide: „Die Ukraine gilt es damals auszuplündern“, sagt der Historiker Hannes Leidinger von der Universität Wien. „Die Zentralräume Russlands sowie Wien und Berlin wollen auf die ukrainischen Ressourcen nicht verzichten.“
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Ukraine zerschlagen. Einfluss von außen gibt es weiterhin: Die Sowjetunion herrscht nun über den Osten der heutigen Ukraine, Polen über den Westen. „Die Ukrainer fühlten sich zurückgedrängt, sie hatten kaum Aufstiegschancen“, erläutert die US-amerikanische Historikerin Katherine Younger. „Das ist auch der Zeitpunkt, an dem sich Bürger radikalisierten und die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) entstand“ sagt Younger.
Einer der Köpfe der OUN ist Stepan Bandera. Er spielt im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle: Seine „Banderisten“ setzen 1941 beim Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion zunächst große Erwartungen in die Deutschen. „Die Hoffnung ist, dass man mit den deutschen Truppen gemeinsam voranzieht und eine unabhängige Ukraine schafft. Nichts davon passiert,“ sagt Historiker Leidinger. Die Erwartungen bleiben unerfüllt, Bandera wird später von den Nazis unter Hausarrest gestellt und kommt schließlich ins KZ Sachsenhausen. Die Jubelstimmung in Teilen der heutigen Ukraine beim Einmarsch der NS-Truppen – ähnlich wie in Wien beim sogenannten „Anschluss“ 1938 – ist auch mit dem Terror des vorangegangenen Stalin-Regimes zu erklären. „Das Gefühl bei großen Teilen der Bevölkerung, etwa in Lviv, war: Erleichterung“, sagt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak von der Universität Lviv.
Erleichterung darüber, dass man so die Sowjets loswurde. Unter ihrer Herrschaft gab es extreme Gewalt.“ Schon in den 1930er Jahren sorgte Stalin auf dem Gebiet der heutigen Ukraine für eine Diktatur des Schreckens: Er lässt seine Gegner in Politik, Militär und Verwaltung millionenfach verhaften, deportieren oder erschießen. Seine brutale Politik führt zudem zum millionenfachen Hungertod, dem Holodomor.
Millionenfach von NS-Tätern getötet wird die jüdische Bevölkerung in der Ukraine. „Jedes vierte der insgesamt sechs Millionen jüdischen Opfer stammte aus der Ukraine“, erklärt Historikerin Barbara Stelzl-Marx vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung. Etwa in Babij Jar, in der Nähe von Kiew, wo 1941 mehr als 30.000 Jüdinnen und Juden von Einsatzgruppen sowie deutschen und ukrainischen Polizeieinheiten innerhalb von 48 Stunden auf brutalste Weise umgebracht werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Ukraine als „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ wieder Teil der Sowjetunion. Und nach dem Tod Stalins 1954 setzt eine Tauwetterperiode ein: Sie gipfelt darin, dass der neue Generalsekretär Nikita Chruschtschow Kiew die Krim als Schenkung überlässt.
Damals eine Geste mit großem Symbolcharakter – heute Teil des Aggressionskrieges, den Wladimir Putins Russland seit Februar 2022 führt. „Eigentlich ist der Krieg 2014 ausgebrochen. Alles hat mit der Annexion der Krim begonnen“, so Andrij Kurkow, einer der bekanntesten ukrainischen Gegenwartsliteraten, im ORF-Interview.
Welch enormes Leid dieser Krieg in der Zivilgesellschaft erzeugt, zeigen Interviews, die bei den Dreharbeiten im Jänner 2023 in Transkarpatien entstanden sind. „Ich wünsche mir nur Frieden, das ist das Wichtigste“, sagt die 36-jährige Sina Kostiak, die mit ihren vier Kindern im März aus Charkiw nach Transkarpatien geflohen ist. Nur wenige Wochen nach der Geburt des jüngsten Kindes.
Und wie stehen die Chancen auf Frieden in der Ukraine? Auch darüber versucht die Dokumentation Antworten zu geben: Mit Interviews mit dem Innsbrucker Politikwissenschafter Gerhard Mangott oder der ehemaligen ORF-Korrespondentin Susanne Scholl. Um die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert nachzeichnen zu können, wurden eindrucksvolle, historische Filmbestände eingesetzt.
Ein Film von Gregor Stuhlpfarrer und Viktoria Tatschl
Gestaltung
Viktoria Tatschl
Gregor Stuhlpfarrer