
Jahrzehnte in Rot Weiß Rot
Die 2010er Jahre - Die Welt in der Hosentasche
Die 2010er Jahre waren ein rasantes, ein aufregendes Jahrzehnt. Das „Smartphone“ hielt Einzug in die Hosentaschen der Österreicherinnen und Österreicher und veränderte fast alle Lebensbereiche – in der Freizeit, in der Arbeitswelt, in der Politik. Politische Karrieren begannen mit Social-Media-Kampagnen, politische Skandale mit dem Leaken geheimer Chat-Nachrichten. Alle konnten immer live dabei sein, beim Song-Contest-Sieg Conchita Wursts genauso wie bei der Situation an den Grenzen im Sommer 2015, bei Sportereignissen ebenso wie bei politischen Skandalen.
Im Rahmen des ORF-Schwerpunkts „80 Jahre Zweite Republik“ zeigt Gregor Stuhlpfarrer in seiner Analyse der 2010er Jahre, dass viele Themen, die heute den öffentlichen Diskurs bestimmen, ihren Ursprung im vergangenen Jahrzehnt haben. „Die 2010er Jahre – Die Welt in der Hosentasche“, der zehnte Teil der ORF-Serie „Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot“, komplettiert die österreichische Jahrhundertgeschichte von den 1920er Jahren bis in die jüngste Geschichte.
2011 gehen die Wogen hoch. Der Nationalrat beschließt, eine Zeile der Bundeshymne zu ändern. Österreich ist nicht mehr nur ein Land der „großen Söhne“, sondern auch der „großen Töchter“. Als die Formel 1 2014 in Österreich Station macht, singt Andreas Gabalier die Hymne vor einem Millionenpublikum in der alten Version. „Ich werde sie so singen, wie ich sie gelernt habe“, kündigte der populäre Sänger bereits im Vorfeld an. Die ÖVP-Abgeordnete Maria Rauch-Kallat entgegnet live im TV-Studio, dass Andreas Gabalier doch auch gelernt habe, seine „Schließmuskel zu beherrschen“ und nicht mehr in die Windel zu machen. Daher sei von ihm auch zu erwarten, Texte neu zu lernen.
2014 gewinnt Conchita Wurst den Eurovision Song Contest – mit einer Bühnenfigur, die sich traditionellen Geschlechterkonzepten entzieht. Das Siegerlied „Rise Like A Phoenix“ wird zu einer Hymne der Toleranz für ganz Europa – während Österreichs Öffentlichkeit weiter darüber diskutiert, ob in der Bundeshymne „Töchter“ genannt werden sollen. Einige Jahre später erschüttern die Aussagen von Schauspielerinnen das Film-Business, auch in Österreich wird sexualisierte Gewalt im Rahmen der „MeToo“-Bewegung breit thematisiert. Über dieses Tabu wird nun aber nicht nur im Film, sondern auch im Sport gesprochen: Nicola Werdenigg erzählt, dass sie als junge Skirennläuferin vergewaltigt wurde: „Danach habe ich mich jahrelang schuldig gefühlt, schmutzig gefühlt.“
„Es war eine dramatische Wende“, sagt Christian Kern im Rückblick auf die Flüchtlingsbewegung im Sommer 2015. „Wir schaffen das!“ hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel postuliert. „Das funktioniert nicht!“, meint Sebastian Kurz im Interview für den Film. Unter dem Smartphone-kompetenten jüngsten Parteivorsitzenden ihrer Geschichte färbt sich die ÖVP türkis und gewinnt Wahlkämpfe mit dem „Ausländer-Thema“. Die jahrzehntelange Geschichte der „Großen Koalition“ in der Zweiten Republik ging in den 2010er Jahren zu Ende. Nicht mehr zwei Großparteien, sondern drei Mittelparteien bestimmen jetzt die Innenpolitik: ÖVP, SPÖ und FPÖ. 2017 geht Kurz in eine umstrittene Koalition mit der FPÖ unter Heinz Christian Strache, mit einem Innenminister Herbert Kickl, der Polizeipferde einführen möchte und eine aufsehenerregende Hausdurchsuchung im Inlandsgeheimdienst BVT durchführen lässt. Erstmals werden politische Absprachen über Smartphone-Chats abgewickelt. Nach Beschlagnahmungen Jahre später sollten Hunderte dieser Chat-Nachrichten öffentlich bekannt und zum Skandal werden.
Fast 80 Prozent der Bevölkerung sind im Jahr 2019 im Besitz eines Smartphones. Und im Mai 2019 läuft auf vielen Bildschirmen das „Ibiza -Video“. Für die einen ein Beleg für Korruption und grenzenlose Schamlosigkeit in der österreichischen Innenpolitik. Für Bundespräsident Alexander Van der Bellen der Anlass für einen Appell: „So sind wir nicht!“ Schauspielerin Nina Proll glaubt heute, mit einigen Jahren Abstand, an das Gegenteil: „Natürlich wäre es schön, wenn wir nicht so wären, aber leider sind wir so.“ „Rückblickend ist man immer gescheiter,“ sagt Strache und ist mit seinem damaligen Regierungskollegen Kurz bis heute nicht ausgesöhnt: „Er hat sein Wort nicht gehalten.“ Strache behauptet, Kurz habe versprochen, dass die Koalition aus ÖVP und FPÖ weitergeführt wird, wenn Strache zurücktritt. Doch trotz Straches Rücktritt nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos lässt Kurz die Regierung platzen. Kurz heute dazu: „Es stimmt, dass es unterschiedliche Optionen gegeben hat.“
Die Schauspielerinnen Nina Proll und Ursula Strauss, Ex-Manager Christian Konrad, Snowboard-Olympiasiegerin Anna Gasser sowie die Ex-Spitzenpolitiker Elisabeth Köstinger, Heinz-Christian Strache, Christian Kern und Sebastian Kurz blicken zurück auf ein Jahrzehnt, in dem Politik und Gesellschaft sich immer schneller im Strudel der Social-Media-Kanäle und der Internet-Blasen drehen. Ein Jahrzehnt, in dem Skandale, Affären und Umwälzungen scheinbar zur Normalität wurden. Und das Smartphone den Menschen in Österreich das Gefühl gab, die Welt in die Hosentasche stecken zu können.
Ein Film von Gregor Stuhlpfarrer