Die besten 10 im Juli 2021
1. Mathias Énard (31 Punkte)
„Das Jahresbankett der Totengräber“, Hanser Berlin
Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller
Für seinen Roman „Kompass“ wurde Mathias Énard mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Nun ist ein neuer Roman Enards auf Deutsch erschienen: „Das Jahresbankett der Totengräber“. Erzählt wird darin von dem jungen Ethnologen David, der aufs Land zieht, um Feldforschung für eine Doktorarbeit über das Moderne Landleben zu betreiben. Es verschlägt den jungen Mann nach La-Pierre-Saint-Christophe, einen verschlafenen Ort im französischen Westen – eine Region, in der Mathias Énard aufgewachsen ist. Schnell wird Davids teilnehmende Beobachtung mehr Teilnahme als Beobachtung und er mischt sich in das Dorfleben.
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2. Steve Sem-Sandberg (21 Punkte)
„W.“, Klett-Cotta
Übersetzung: Gisela Kosubek
Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg zählt zu den großen Erzählern der europäischen Literatur. Seit kurzem ist er auch im Komitee der schwedischen Akademie und entscheidet über die Vergabe des Literatur-Nobelpreises mit. In seinen Romanen stellt Steve Sem-Sandberg oft erschütternde historische Begebenheiten ins Zentrum. Sein neuer Roman „W“ ist dem historischen Kriminalfall Woyzeck auf der Spur. Die Hauptfigur Woyzeck wird darin als ein von Wahnsinn, Schuld und Liebe zerrissener Mann, der seine Freundin ermordet, beschrieben. Er hört Stimmen, ist schwer traumatisiert und gänzlich unfähig, Empathie zu empfinden. Sem-Sandberg erstellt ein vielschichtiges Psychogramm eines Mörders, mit dem Woyzeck weder auf seine Täterschaft, noch auf seinen Opferstatus festgeschrieben wird.
3. Dževad Karahasan (20 Punkte)
„Tagebuch der Übersiedlung“, Suhrkamp
Übersetzung: Katharina Wolf-Grießhaber
Er ist einer der großen europäischen Gelehrten der Gegenwart: der Schriftsteller Dzevad Karahasan. Während des Bosnien-Krieges ist der heute 68jährige Autor nach Österreich geflohen, pendelt heute zwischen Graz und Sarajevo. Einer seiner Schlüsseltexte liegt nun in neuer Übersetzung vor: „Tagebuch der Übersiedlung“ heißt das Buch, das erstmals Anfang der 1990er Jahre, während des Krieges, erschienen ist. „Ich komme aus einem zerstörten Land“, schreibt Dzevad Karahasan darin. Dieses Buch: es ist der Versuch, zu verstehen, was der Krieg war und was er angerichtet hat. Am Beispiels Sarajevos etwa, das bis vor dem Krieg Sinnbild für gelebte multikulturelle und multireligiöse Offenheit war. Dass zur Erträglichkeit des Lebens während des Krieges auch die Kultur beigetragen hat: das macht Karahasan in das „Tagebuch der Übersiedlung“ deutlich. Ein Buch, das man jedenfalls gelesen haben sollte, wenn man die jüngste, schmerzvolle Geschichte Europas besser verstehen möchte.
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4. Anna Baar: Nil, Wallstein (18 Punkte)
„Nil“, Wallstein
Eine der Hauptfiguren im neuen Roman Anna Baars ist ein Krokodil. Eines, das sich nach seiner Herkunft, dem titelgebenden Nil sehnt. Am Beginn des Textes sei der Wunsch gestanden, sich ganz vom Biographischen im Schreiben zu lösen, sagt die Autorin. So ist Nil ein Buch geworden, das sich in seinem Kern damit beschäftigt, wen wir meinen, wenn wir „Ich“ sagen und was wir meinen, wenn wir „Heimat“ sagen - auch den zentralen Protagonisten treibt das um. Anna Baar legt mit Nil ein Buch vor, das nicht der Logik der Realität folgt und gerade deshalb sehr viel Erkenntnisreiches über diese aussagt.
5. Egon Christian Leitner (16 Punkte) NEU
„Ich zähle jetzt bis drei“, Wieser
Egon Christian Leitner ist in der österreichischen Literaturlandschaft ein ungewöhnlicher Einzelgänger. Durch seinen erfolgreichen Aufritt beim Bachmannpreis 2020 (er wurde mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet) wurde er einem breiteren Publikum bekannt. Seit Jahren schreibt er an seinem Projekt eines „Sozialstaatsromans“, den nun das 900-seitige „Ich zähle jetzt bis 3“ abschließt. In einer experimentellen Zusammenstellung von Interventionen und Tagebuchauszügen breitet da ein umfassend gebildeter Erzähler Thesen von Erasmus bis Hannah Arendt und Geschichten aus allen Kontinenten aus. Diese versammeln sich zur Fundamentalkritik am Neoliberalismus und seinen Auswirkungen. Ein dermaßen politisch engagiertes Buch gelingt künstlerisch nur im absoluten Glücksfall, Leitners Buch ist ein solcher.
6. Rosmarie Waldrop (14 Punkte) NEU
„Pippins Tochters Taschentuch“, Bibliothek Suhrkamp
Rosmarie Waldrop gilt als ein Leitstern der experimentellen Literatur. 1935 wurde sie in Kitzingen in Deutschland geboren, in den 50er Jahren emigrierte sie mit ihrem Mann Keith in die USA, wo das Paar die „Burning Deck Press“ gründete, bis heute einer der wichtigsten Lyrikverlage der USA. Ihr Schreiben ist stark von der Arbeit als Übersetzerin geprägt: Friederike Mayröcker, Paul Celan, Elke Erb – meisterlich hat Waldrop schwierig zu übersetzende Dichter und Dichterinnen dem englischen Sprachraum näher gebracht. Der 1986 erschienene Roman „Pippins Tochter Taschentuch“ liegt nun in einer Übersetzung der Schriftstellerin Ann Cotten auf Deutsch vor: Eine Konzertpianistin tritt in Korrespondenz mit ihrer Schwester, um gemeinsam einer zweifelhaften Vaterschaft auf den Grund zu gehen. Über klassische Romanmotive wie Untreue und Verrat arbeitet sich Waldrop dabei auch an erzähltheoretischen Grundsatzfragen ab.
7. Leïla Slimani (13 Punkte) NEU
„Das Land der Anderen“, Luchterhand
Übersetzung: Amelie Thoma
Leila Slimanis „Dann schlaf auch du“ hat in Frankreich regelrechte Schockwellen verursacht, der Roman über Kindsmord wurde 2016 mit dem größten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet, dem Prix Goncourt. Ihr jüngster Roman „Das Land der anderen“ stand wochenlang auf den französischen Bestsellerlisten, nun liegt das Buch in deutscher Übersetzung vor. Die Handlung spielt in Slimanis Heimatland Marokko: die junge Elsässerin Mathilde verliebt sich 1944 in einen marokkanischen Offizier der französischen Armee, nach dem Krieg folgt sie ihm nach Marokko. Die Ehe zwischen den beiden stellt in der Kolonialgesellschaft eine absolute Ausnahme dar: Mathilde, die voll Abenteuerlust und Freiheitsdrang über das Mittelmeer gekommen war, findet sich bald im Zwiespalt zwischen dem Alltagsrassismus der Kolonialisten und den patriarchalen Strukturen der Einheimischen. Als Vorlage diente Leila Slimani die Geschichte ihrer Großeltern, auch ihre eigene Existenz zwischen den Kulturen hat die Schriftstellerin mit dem Schicksal ihrer Hauptfigur verwoben.
8. ex aequo: Adelheid Duvanel (12 Punkte) NEU
„Fern von hier“, Limmat
Adelheid Duvanel: man würde sie in einem Atemzug mit Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger nennen, wäre das Werk dieser großen Dichterin des 20. Jahrhunderts nicht dem Vergessen anheimgefallen. 1936 in der Schweiz geboren verdingte sich Duvanel ihren Lebensunterhalt als Textilzeichnerin, bis sie in den 60er Jahren unter dem Pseudonym „Judith Januar“ beginnt Erzählungen zu veröffentlichen. Ihr Schreiben ist Anwaltschaft der Schwachen, der Aussätzigen und Suchtkranken, ihre Poetik eine Art schwarze Anthropologie, die den versehrten Existenzen ihrer Literatur ihre Würde zurückzugeben vermag. 1996 stirbt Duvanel in einem kleinen Wald im Umkreis von Basel, an Unterkühlung und Medikamentenmissbrauch. Unter dem Titel „Fern von hier“ ist nun erstmals das gesamte Erzählwerk der Schriftstellerin zugänglich gemacht: Adelheid Duvanel zeigt sich darin als präzise Prosaistin, deren Erzählkraft sich mit der Kafkas messen kann. Eine längst überfällige Wiederentdeckung.
8. ex aequo: James Baldwin (12 Punkte) NEU
„Ein anderes Land“, dtv
Übersetzung: Miriam Mandelkow
James Baldwin zählt nicht nur zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, er war auch einer der zentralen Intellektuellen der Bürgerrechtsbewegung rund um Martin Luther King. Die deutsche Neuübersetzung seines Romans „Another Country“ kommt angesichts des Erstarkens der „Black Lives Matter“-Bewegung genau zur richtigen Zeit: der 1962 erschienene Text kreist um den Selbstmord des schwarzen Jazzmusikers Rufus, der sich aus Verzweiflung über seine Lebensrealität im segregierten Amerika in den Hudson River stürzt. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Rufus‘ Schwester Ida, die nach Erklärungen für den Selbstmord ihres Bruders sucht und sich dabei immer stärker mit der tieftraurigen Wahrheit über das Leben der schwarzen Bevölkerung konfrontiert sieht.
8. ex aequo: Judith Fanto (12 Punkte) NEU
„Viktor“, Urachhaus
Übersetzung: Eva Schweikart
In den Niederlanden zählte Judith Fantos Debutroman „Viktor“ zu den erfolgreichsten Büchern des Jahres 2020, nun liegt der Roman auf Deutsch vor. Fantos Vorfahren stammen aus Wien, im zweiten Weltkrieg musste die jüdische Familie flüchten: ihre Geschichte hat Judith Fanto mit dem Roman „Viktor“ aufgeschrieben. Geschickt verwebt sie darin zwei Handlungsfäden: Im Holland der 90er Jahre versucht eine junge Frau zu erforschen, warum alles, was mit dem Krieg oder dem Judentum zu tun hat, in ihrer Familie totgeschwiegen wird. Im Wien der 1930er wiederum kann ein junger Mann nicht fassen, warum seine Familie die bedrohlichen Zeichen der Zeit nicht erkennen will. Schritt für Schritt bewegt Judith Fanto die beiden Erzählebenen auf ein Familiengeheimnis zu, das erklärt, warum der Name „Viktor“ in der Verwandtschaft zum Tabu geworden ist.