Zum 85. JT Novemberpogrom am 9.11.:

zeit.geschichte

Der Riss der Zeit - Die Vertreibung von Intelligenz und Kultur

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Sofort nach Hitlers Machtergreifung im März 1933 setzte die erste große Fluchtbewegung aus Deutschland ein – Künstler, Schriftsteller, Wissenschafter, Journalisten, darunter viele aus Österreich – weil sie Juden oder politische Gegner des NS-Regimes oder beides waren. Sie flüchteten meist über die nahen Grenzen, nach Wien, Prag oder Paris.

Die nächste Fluchtwelle setzte der Bürgerkrieg in Österreich im Februar 1934 in Gang, vor allem aus Wien, denn wer hier in einem engen Arbeitsverhältnis zur Sozialdemokratie gestanden war, hatte praktisch keine Chance mehr, Aufträge zu erhalten. Dazu kam die ständige Bedrohung durch den immer stärker werdenden aggressiven Antisemitismus, die „kalte" Vertreibung von Juden aus staatlichen Positionen und der Aufschwung der illegalen Nationalsozialisten in Österreich – der Brain Drain von gut ausgebildeten und international vernetzten Wissenschaftern, Künstlern und Architekten war nicht mehr aufzuhalten.

1938, nach dem „Anschluss" an das Deutsche Reich, wurden über 200.000 Juden in Österreich von einem Tag auf den anderen vogelfrei, und als die Vertreibung, von den NS-Behörden euphemistisch „Auswanderung" genannt, nicht schnell genug vor sich ging, inszenierten sie durch das Novemberpogrom einen derartigen Druck, dass jeder, der irgendwie nur die horrende Fluchtsteuer bezahlen und ein Aufnahmeland finden konnte, so schnell wie möglich versuchte, das Land zu verlassen – wenn nicht anders möglich, illegal, was hoch riskant war. 150.000 schafften es, trotz schwierigster Bedingungen, denn keine Flüchtlingskonvention schützte sie, und die Quotenbestimmungen waren eng.

Der Film „Der Riss der Zeit" erzählt von jenen, die die wissenschaftliche und kulturelle Elite Österreichs gebildet hatten und nun, oft unter großen Gefahren, zumeist für immer ins Exil gingen. Darunter waren – um einige wenige zu nennen – Sigmund und Anna Freud und die gesamte psychoanalytische Schule, der Philosoph Karl Popper und der Mathematiker Kurt Gödel, die Physiker Lise Meitner, Wolfgang Pauli und Erwin Schrödinger, Architekten wie Josef Frank und Margarete Schütte-Lihotzky, Schriftsteller wie Joseph Roth, Robert Musil, Vicki Baum, Franz Werfel und Friedrich Torberg, Musiker wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek und Robert Stolz, praktisch die ganze Kleinkunstszene um Karl Farkas, Greta Keller und Armin Berg, die Film- und Theaterleute wie Hans Jaray, Ernst Deutsch, Elisabeth Bergner, Fritz Kortner, Leopold Lindtberg .... die Liste ist sehr lang.

Etwa 15.000 Menschen umfasste das kreative Potential, das durch ihren kulturellen und wissenschaftlichen Transfer ihren Asylländern einen enormen Aufschwung verschaffte, vor allem den USA, aber auch einigen Ländern Lateinamerikas. Helene Maimann hat dieser Vertreibung und den Folgen nachgespürt und darüber auch mit der Psychoanalytikern Elisabeth Brainin, dem Filmhistoriker Christian Cargnelli, dem Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler, der Kunsthistorikerin Sabine Plakolm und dem Soziologen Christian Fleck gesprochen.