Menschen & Mächte

Anklage Massenmord. 75 Jahre Urteile von Nürnberg

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„Ich bekenne mich nicht schuldig!“

Arthur Seyß-Inquart leugnete jede Mitschuld an den Verbrechen des Dritten Reiches genauso wie Ernst Kaltenbrunner, der zweite österreichische Angeklagte und alle anderen 20 Angeklagten im Hauptkriegsverbrecherprozess von Nürnberg. Mit seinen Urteilen machte das Nürnberger Tribunal Geschichte und wurde zu einem Meilenstein auf dem Weg zu Frieden und Menschenrechten.

Nürnberger Prozess - Gerichtsaal - Verhör Arthur Seyß-Inquart
ORF/Stadtarchiv Nürnberg/Ray D'Addrio
Nürnberger Prozess - Gerichtsaal - Verhör Arthur Seyß-Inquart

75. Jahrestag der Urteilsverkündung 1946

Robert Gokl und Gregor Stuhlpfarrer in der Menschen & Mächte-Dokumentation „Anklage Massenmord“ die Umstände des Prozesses und seine Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Justizpalast Nürnberg - Hauptkriegsverbrecher-Prozess Nürnberg
ORF/Stadtarchiv Nürnberg/Ray D'Addario
Justizpalast Nürnberg - Hauptkriegsverbrecher-Prozess Nürnberg

„Wir haben die Lektion von Nürnberg gelernt!“

Siegfried Ramler musste als Kind einer Wiener jüdischen Familie 1938 in einem Kindertransport nach London flüchten. Nach Kriegsende war er Dolmetscher beim Nürnberger Prozess. Danach lebte er in Hawaii, wo ihn Robert Gokl 2016 traf und interviewte. Er erzählt über seine Erlebnisse in Nürnberg, von 1945 bis 1949: „Ich musste damals dabei sein und alles übersetzen. Heute macht mich das stolz, weil seit damals jeder Politiker die Prinzipien von Völkerrechts und Menschlichkeit beachten muss.“

Siegfried Ramler - Übersetzer beim Hauptkriegsverbrecher-Prozess in Nürnberg.
ORF
Siegfried Ramler - Übersetzer beim Hauptkriegsverbrecher-Prozess in Nürnberg.

„Ich bekenne mich nicht schuldig!“

Arthur Seyß-Inquart glaubte 1945 noch, niemals für seine Mitwirkung am ‚Anschluss‘ und vor allem für seine Verbrechen als Reichskommissar der Niederlande zur Verantwortung gezogen zu werden. „An seinen Händen klebte zwar kein Blut, aber er war mitverantwortlich für die Deportation der Juden, für die Unterdrückung des Widerstandes, für die Erschießung von Geiseln und ähnliches“, meint Andreas Mix, Historiker am „Memorium Nürnberger Prozesse“, das heute in Nürnberg die Geschichte des Prozesses dokumentiert und aufarbeitet.

Arthur Seyß-Inquart im Zeugenstand in Nürnberg.
ORF/NARA Washington
Arthur Seyß-Inquart im Zeugenstand in Nürnberg.

Das werden Gerichte entscheiden, Rudi!“

„Mein Vater hat mir die Hand zurück gerissen und gesagt: Das werden Gerichte entscheiden, Rudi!“ Rudolf Gelbard wurde von seinem Vater 1945 daran gehindert, Rache zu nehmen an den Wachmannschaften des KZ Theresienstadt. Als Fünfzehnjähriger war er dort von sowjetischen Truppen befreit worden. Ein Rechtsanwalt aus Oberösterreich wurde für Völkermord und Massenmord in den Konzentrationslagern verantwortlich gemacht: Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes der SS. Kaltenbrunner aber lehnte jede Verantwortung ab: „Ich glaube, mich nicht schuldig gemacht zu haben.“ - „Wie kleine Diebe haben auch diese Leute, die früher die absolute Macht hatten, versucht, ihr kleines Leben zu retten!“ meint Hans Kauffmann, der Sohn des Verteidigers von Ernst Kaltenbrunner.

Ernst Kaltenbrunner im Zeugenstand in Nürnberg
ORF/NARA Washington
Ernst Kaltenbrunner im Zeugenstand in Nürnberg

„Mein Mann hat sich verpflichtet gefühlt, seine Kameraden, die man getötet hat, in Nürnberg zu rechtfertigen,“

meinte die Witwe des wichtigsten Zeugen der Anklage: Generalmajor der Wehrmacht Erwin Lahousen, im Interview mit Gregor Stuhlpfarrer. Erwin Lahousen Zeugenaussagen belegten die Verantwortung der politischen und der militärischen Führung für die Verbrechen auf den Kriegsschauplätzen in ganz Europa. „Lahousen ist ein kleines Ruhmesblatt für Österreich! Österreich hat nicht nur Kriegsverbrecher für Nürnberg geliefert! Österreich hat auch einen Lahousen geliefert!“ meint der Zeitzeuge und Wissenschaftsjournalist Hellmut Butterweck.

Erwin Lahousen im Zeugenstand in Nürnberg
ORF/NARA Washington
Erwin Lahousen im Zeugenstand in Nürnberg

Auf den Hauptkriegsverbrecherprozess folgen in Nürnberg zwölf Nachfolgeprozesse

Parallel dazu werden in ganz Europa NS-Verbrecher vor Gericht gestellt. In Österreich folgt auf die Phase der Volksgerichtsprozesse eine Zeit der Verdrängung und des Vergessen. Gleichzeitig kommt es weltweit zu neuen Verbrechen: Vietnam, Afghanistan, Jugoslawien, Ruanda, Syrien ... Die Überlebenden fordern Gerechtigkeit, die Täter werden nur selten verurteilt. Hellmut Butterweck: „Natürlich hofft man, dass die Weltgeschichte ein Weg aufwärts ist. Aber die Hoffnung von 1945, dass das jetzt schon so weit ist, war leider verfrüht.“

Anklage-Bank - Hauptkriegsverbrecher-Prozess Nürnberg
ORF/Stadtarchiv Nürnberg/Ray D'Addario
Anklage-Bank - Hauptkriegsverbrecher-Prozess Nürnberg

Aber ohne Nürnberger Prozess keine Erklärung der Menschenrechte, keine Gründung der UNO, kein Srebrenica- oder Ruanda-Tribunal. Und kein ständiger internationaler Strafgerichtshof in Den Haag, der seit 2002 die Prinzipien des Nürnberger Prozesses fortführt. Jurist und Rechtshistoriker Klaus Kastner: „Der Strafgerichtshof in Den Haag heute wäre nicht vorstellbar ohne die Entwicklungen in Nürnberg der Jahre 1945 bis 1949.“

Fotografie der zerstörten Nürnberger Altstadt, Pegnitzpartie zwischen Karlsbrücke und Fleischbrücke
ORF/Stadtarchiv Nürnberg/Ray D'Addario
Fotografie der zerstörten Nürnberger Altstadt, Pegnitzpartie zwischen Karlsbrücke und Fleischbrücke