András Visky
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Der Beste im Dezember 2025: András Visky

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Berichte aus dem Lager: Nur die Soldaten bekamen Essen

Eine Mutter und sieben Kinder ziehen allein durch die Steppe, nachdem der Vater zu 22 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. András Viskys Roman „Die Aussiedlung“ ist gespickt mit biblischen Motiven und gleichzeitig ironisch.

Viel Geschwätz, wenig Gewissheiten. Im Vorfeld der Verleihung des Literatur-Nobelpreises spekulieren die professionellen Beobachter Jahr für Jahr mit zuverlässiger Eintönigkeit. Auf keinen Fall, so kurz nach Pinter, ein Autor aus dem englischen Kulturkreis, auf keinen Fall, so kurz nach Jelinek, eine Feministin. Als dann Doris Lessing benannt wurde, eine vielleicht verspätete, auf jeden Fall aber unanfechtbare Entscheidung, mussten sie die skurrilsten Begründungen aus dem Hut zaubern, um ihre eigene Orientierungslosigkeit zu camouflieren. Jeder Kommentator: ein Möchtegernjuror, der es nicht ertragen kann, dass andere seine Wertungen nicht teilen.

Foto von András Visky
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Kein Newcomer

Heuer besetzten ein Japaner und ein Inder, wenn auch nicht unisono (wo bliebe sonst die Spannung?) die Spitzenpositionen bei den Amateurpropheten und in den Wettbüros. Geworden ist es ein Ungar. Zwar liegen seine Werke repräsentativ in deutscher Übersetzung vor, aber dass László Krasznahorkai bei uns – vor der Zuerkennung des Nobelpreises, wohlgemerkt – ein allgemein bekannter und gar gelesener Autor wäre, muss als gelinde Übertreibung gewertet werden. Und sein Landsmann, der Dramatiker András Visky, der am Ungarischen Theater im rumänischen Cluj-Napoca arbeitet? Schon mal was gehört? Zwar ist er ­beachtliche 68 Jahre alt, nicht gerade ein Newcomer also. Inzwischen hat man ihn in den USA und in mehreren westeuropäischen Ländern entdeckt. In Österreich und Deutschland scheinen die Dramaturgen mit der Lektüre von Yasmina Reza und Lot Vekemans so ausgelastet zu sein, dass für einen Blick über die östlichen Grenzen keine Zeit bleibt.

Odyssee durch rumänische Steppe

Jetzt ist, drei Jahre nach dem Original, András Viskys einziger Roman, „Die Aussiedlung“, in deutscher Übersetzung erschienen. Er ist rund 450 Seiten dick und geeignet, den Autor auch hierzulande in seiner ganzen Bedeutung ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Er gehört zur „Lagerliteratur“ – Visky selbst spricht im Zusammenhang mit dem Theater von „Barackendramaturgie“ –, die seit Solschenizyns Debüt vor 63 Jahren ein eigenes Genre bildet.

Buchcover "Die Aussiedlung"
Suhrkamp

Buchinfo:
András Visky:
Die Aussiedlung“
Übersetzung: Timea Tankó
erschienen am: 27.10.2025
Suhrkamp

Es gehört zu den eulenspiegelhaften Konventionen der Gattung, dass ihr offensichtlicher autobiografischer Charakter gleich zu Beginn bestritten wird. Fiktion und Wirklichkeit bleiben ununterscheidbar. Der Erzähler, der wie sein Autor András heißt, berichtet von der Odyssee mit seinen sechs Geschwistern und der geliebten Mutter durch die rumänische Steppe, nachdem der Vater, ein Pastor, zu 22 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, und deren Vorgeschichte, zusammengehalten durch eine der am liebevollsten gezeichneten, zugleich lebensklugen und frommen, Mutterfiguren der Weltliteratur. Bei aller Nähe zur Wirklichkeit aber nähert sich der Roman in mehr­facher Hinsicht einer ornamentalen Prosa. Er überrascht mit fantastischen Elementen, weit entfernt von purer Dokumentation, seine Sprache ist (in der gut lesbaren Übersetzung, auf die der Rezensent angewiesen bleibt) üppig, syntaktisch komplex, zugleich aber mit dem Rhythmus gesprochener Sprache. Auf direkte Rede verzichtet Visky fast vollständig. Dem Milieu verdankt der Roman die Fülle biblischer und religiöser, aber eher ironischer als bigotter Motive. Unterteilt ist er in durchnummerierte Kapitel von jeweils einem Absatz.

Angriff mit Schwanzhaken

Als Beispiel – ein kurzes, aus einem einzigen Satz bestehendes Kapitel, in dem eine grausame Realität auf eine surrealistische Bildwelt stößt: „seit wir ausgesiedelt wurden, schleppen unsere Beine aus Haut und Knochen jeweils einen Käfig, darin flattern unsere Seelen, durch dünne Hälse sind die Klappergestelle mit den disproportional großen und stinkenden Schädeln verbunden, aus denen alle möglichen Gedanken ausschwärmen, sie lassen sich nur schwer in Zaum halten, immerzu kommen wieder neue, ungebeten, wie Maikäfer oder Ohrenkneifer, die mit ihren spitzen Schwanzhaken angreifen, Júlia, so heißt unsere Mutter, mit so einem Namen steht ihr die Liebe gut.“

Der teils im Präsens, teils im Präteritum erzählte, chronologisch angeordnete Roman versetzt sich für die Nachkriegsjahre in die Sicht eines Kindes zurück, ohne jedoch dessen Unerfahrenheit oder Naivität zu imitieren, die Marcel Reich-Ranicki so beharrlich und lautstark hasste, weil sie den Erzähler angeblich dümmer erscheinen ließen als seinen Autor.

András Visky sitzend auf der Couch
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Das Erstaunlichste an diesem ungewöhnlichen Roman ist seine Heiterkeit. Dem Sujet zum Trotz ist er nicht deprimierend. Vielleicht liegt das an der zeitlichen Entfernung zu den zwar subjektiv schmerzhaften, objektiv aber inzwischen historischen Ereignissen, die ihn von früheren Exemplaren der Lagerliteratur unterscheidet. András Visky drückt nicht auf die Gefühlstube, beschönigt aber auch nichts. Explizite, gar belehrende Abrechnungen mit dem Regime kommen nicht vor, lediglich einige wenige sprachlich wie inhaltlich decouvrierende Dokumente.

Konserven mit Bajonetten öffnen

Die Wirklichkeit, die sich hinter dem vom Buchtitel vorgegebenen Stichwort „Aussiedlung“ verbirgt, beschreibt Visky unsentimental, fast salopp:

„wir können weder wach bleiben noch einschlafen, der Rhythmus des Ruckelns und Ratterns wiegt uns nicht in den Schlaf, er hält uns auf der Grenze von Traum und Wachsein, bei der Aussiedlung gibt es keine Verpflegung, nur für die Soldaten, wir sitzen am einen Ende des Waggons, unsere Wachen am anderen, sie öffnen mit ihren Bajonetten Leberwurstkonserven, futu-i mama măsii, schimpfen sie, während sie sich abmühen, wieder sind wir mehrere Tage unterwegs, man bringt uns zurück in den Bărăgan, aber doch nicht nach Răchitoasa, plötzlich überkommt uns alle die Grubennostalgie, was wohl mit unserer Grube ist?, ob es sie überhaupt noch gibt?, was ist aus den Resten der schwäbischen Möbel geworden, mit denen wir die leere Grube eingerichtet haben unter dem stillen Einverständnis der Füchse?, für wen glänzt die hartnäckige Politur unter der Erde?, ja, für die Füchse, sagte Mutter tröstend zu der im Chor weinenden Schar, die Füchse haben Gruben, da hat die Heilige Schrift recht, genauer gesagt, in Răchitoasa haben nur noch die Füchse Gruben, sonst niemand, sie legen ihre schönen spitzen Köpfe auf unser Stroh.“

Buch von András Visky
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Europa und die Freiheit

Das mehrfach wiederholte Stichwort „Füchse“ verweist auf die Bibel, die die Mutter des Erzählers gern zitiert: „die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hinlege.“

Als Gegenwelt zur Welt der Gefangenschaft nennt Visky etwas überraschend im letzten Teil Europa. Eine Konzession an jüngere Leser? Oder ein zaghafter Versuch, sich in die heutige Politik Rumäniens zu mischen?

Text: Thomas Rothschild, Die Presse

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