Das Fremde ist überall
Wenn am Wochenende zum 60. Mal die Biennale ihre Pforten öffnet, ist die Welt zu Gast in Venedig. „Überall Fremde“ nennt der brasilianische Chefkurator Adriano Pedrosa seine Ausgabe und stellt erstmals den globalen Süden in den Mittelpunkt. Auch wenn sich der Repräsentationsgedanke überlebt haben mag - es ist der globale Norden, der in den Giardini den Ton angibt, so wie er das in der Kunstwelt insgesamt tut.
Genau dem möchte Adriano Pedrosa mit seiner Biennale entgegenwirken und legt sein Hauptaugenmerk auf Künstler, die selbst Ausländer, Immigranten, Diaspora, Emigranten, Exilanten oder Flüchtlinge sind - insbesondere auf solche, die sich zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden bewegt haben.
Schon vor der Eröffnung sorgen Thema wie Teilnehmer für Kontroversen. Ihre Konflikte bringen die Nationen mit. Als besonders brennend wird der Krieg im Nahen Osten wahrgenommen. Das beispiellose Massaker, das die Hamas an israelischen Zivilisten verübte und die brutalen militärischen Gegenschläge Israels spalten die Kunstwelt. Gegen eine Teilnahme des jüdischen Staates an der Kunstbiennale macht sich die „Art Not Genocide“ Allianz seit Mitte Februar stark und fordert den Ausschluss Israels.
Lautstark demonstrierten mehrere hundert Aktivist:innen schon am Mittwoch vor dem israelischen Pavillon, riefen zu einem Boykott israelischer Kunst, wie auch zu einer De-facto-Zerstörung des Staates Israel auf. Und dass, obwohl das israelische Biennale-Team um die Künstlerin Ruth Patir bereits am Vortag zugesperrt hatte.
Sie richten ihre Stimme an die Politik, wollen den Pavillon erst öffnen, wenn ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg vereinbart sei und die Freilassung der von der islamistischen Hamas festgehaltenen Geiseln erreicht sei. Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano verurteilt die Proteste aufs Schärfste, versteht er doch die Kunst-Biennale als Raum der Freiheit und des Dialogs und nicht als einen für Zensur und Intoleranz.
Russland nimmt seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr an der internationalen Kunstschau teil. Neu ist jedoch, dass Putins Reich seinen Pavillon in diesem Jahr kostenlos an Bolivien abtritt. Eines der wenigen südamerikanischen Länder, das zu den ärmsten und strukturschwächsten des Kontinents zählt war bisher noch nie in Venedig vertreten. Doch die Kunstwelt vermutet weniger die große Geste dahinter, sondern einen geopolitischen Kampf um Ressourcen. Denn Russland versucht, wie auch andere Weltmächte Zugang zu Boliviens umfangreichen Lithiumreserven zu bekommen. Ein wichtiger Rohstoff für Schlüsseltechnologien.
Ob der neue Biennale Präsident Pietrangelo Buttafuoco mit dem Generalthema „Überall Fremde“ seine Freude hat? Der 60-jährige italienische Autor, TV-Moderator und Journalist gilt als enger Vertrauter der italienischen Premierministerin Georgia Meloni, die Schlüsselpositionen in der Kultur vorzugsweise mit Gefolgsleuten besetzt. Fast 90 Länder-Pavillons widmen sich dem Generalthema.
Österreich wird durch Anna Jermolaewa vertreten. Sie musste 1989 aus der UdSSR wegen ihrer Tätigkeit als politische Oppositionelle fliehen, kam nach Österreich und arbeitet hier seitdem als Künstlerin. Jermolaewa befasst sich in ihrem Werk mit Tschaikowskys „Schwanensee“. In Russland ist das legendäre Ballett eine Chiffre, um stillen Widerstand zu üben und sich ohne Worte gegen das in Russland herrschende Regime aufzulehnen.
Verlangt die Zeit nach Zeichen des politischen Widerstands und des Zusammenhalts, sei es als getanzte Dissidenz auf der Ballettbühne? Was bedeutet das titelgebende „Fremde“ für eine Gesellschaft? Wird damit jeglicher Nationalismus entkräftet?
TV-Beitrag: Nicola Eller & Harald Wilde