Straße in Tunis RTL
Tunesien

Enttäuschte Hoffnungen

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Tunesien - Karte ORF.at
Tunesien ist etwa doppelt so groß wie Österreich.
Antonia Rados, Mai 2016
Touristen aus Europa kann man an den Stränden Tunesiens kaum mehr finden. Dabei galt das Land lange Zeit als Hit für Billigurlauber. Vor 5 Jahren sah es so aus, als würde Tunesien zum großen Hoffnungsträger in Nordafrika werden - denn der Arabische Frühling schien Demokratie und sozialen Frieden zu bringen. Doch diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.
Jasminrevolution nannte man den Arabischen Frühling in Tunesien. Es begann mit Massenunruhen seit Ende 2010, die sich in Wellen von Protestaktionen gegen das Regime und die Lebensbedingungen in Tunesien ausbreiteten. Auslöser der Unruhen war eine Nachricht über die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi  in Sidi Bouzid, einer 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis gelegenen Stadt gewesen.
Tunesien 2016
Hauptstadt:
Tunis
Staatsform: Republik
Regierungssystem: semipräsidentiell
Präsident: Beji Caid Essebsi
Premierminister: Habib Essid
Fläche: 163.610 km²
Einwohner: 10.982.754 (2014)
BIP: 45 Mia. US$ (2015)
Die Tunesische Republik ist ein Staat in Nordafrika, der im Norden und Osten an das Mittelmeer, im Westen an Algerien und im Süd-Osten an Libyen grenzt. Sein Name ist von der Hauptstadt Tunis abgeleitet. Die größte Insel ist Djerba. Tunesien ist ungefähr doppelt so groß wie Österreich. 

Aufbruch in die Freiheit

Im Jänner 2011 verließ der langjährige tunesische Präsident Ben Ali fluchtartig das Land. Eine Übergangsregierung wurde gebildet. Im selben Jahr folgten freie und demokratische Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung.
Eine neue Verfassung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichstellung von Mann und Frau garantiert, einzigartig im arabischen Raum, wurde 2014 feierlich verabschiedet.
Die Jasminrevolution fand weltweite Beachtung und wurde ganz besonders in Online-Medien viel kommentiert. Spiegel Online sah in den Protesten ein „Vorbild für Millionen von Arabern, die seit Jahrzehnten unter ihren korrupten Herrschern leiden“.
5 Jahre später zeigt sich aber deutlich, wie wenig die Hoffnungen der Jasminrevolution für die Jungen aufgegangen sind und wie dieser Frust zur Radikalisierung beiträgt. 
Hin und zurück

Auf der Suche nach den Dschihadisten

„Die sind im Gefängnis oder tot. “
Ein Koranschulenmitarbeiter
Die weiße Moschee von Douar Hichar war jahrelang ein Tor zum Dschihad. Hier haben Salafisten junge Männer für den „heiligen“ Krieg im Irak und in Syrien angeworben. Um sie zu finden, braucht es die Hilfe eines Einheimischen. Der Fitnesstrainer Yousef kennt viele junge Leute aus der Gegend. Mit ihm kann ich mich in Douar Hichar unbehelligt bewegen.
Douar Hicher
Gemeindeform: Stadt
Bürgermeister: Mustapha Dridi
Gouvernement: La Manouba
Fläche: 11,25 km²
Einwohner: 84.090 Einw. (2014)
Douar Hicher ist eine der vielen Satellitenstädte von Tunis. In der Stadt selbst gibt es mehrere Klein- und Mittelunternehmen der Textil-, Leder- und Möbelindustrie. Die meisten Einwohner verdienen ihr Geld aber in der Hauptstadt Tunis.
Aus dieser Stadt sind viele in den „Heiligen Krieg“ gezogen, von Strenggläubigen bis zu Kriminellen. Wer von dort zurückkehrt, wird von der tunesischen Polizei heute schonungslos verfolgt.
Hinter der Moschee liegt eine Koranschule. Auf meine Frage nach den Salafisten bekomme ich nur ausweichende Antworten. Die seien im Gefägnis oder tot, heißt es. Tot? Erst nach einigem Zögern fügt der Mann hinzu: „Sie sind in Syrien!“
Zwei Rückkehrer sind zu einem Treffen bereit. Gefilmt werden wollen sie nicht. Einer versteckt sich vor der Polizei, der andere kommt gerade aus dem Gefängnis: Er war nach der Rückkehr gefasst worden. Beide scheinen durch die „Brüder“ in der salafistischen Moschee rekrutiert worden zu sein. Dabei dürften auch Geldprämien im Spiel gewesen sein.

Statt zur Arbeit ins Fitnesscenter

Als Trainer im ersten Fitnessclub der Stadt ist Yousef eine Anlaufstelle für viele Familien. Eltern bringen ihre Söhne und Töchter hierher, damit sie etwas Abwechslung haben. Die Jahresgebühr beträgt 10€.
Und Yousef hört allen zu, auch den Salafisten. Punchingball und Laufband sind für viele junge Menschen die einzige Möglichkeit, sich abzureagieren. Solange sie eben nicht gleich ihre Sachen packen und verschwinden.
Yousef kennt ein Kaffeehaus, wo zu jeder Tageszeit Dutzende arbeitslose Jugendliche herumsitzen, mit denen man ins Gespräch kommen kann. Sie gehören zu jener Generation, die sich Beginn der Jasminrevolution große Hoffnungen auf ein besseres Leben machte. Hoffnungen, die sich für die meisten nicht erfüllt haben. Dort gehen wir zusammen hin.

Unterwegs mit Yousef

Salafismus
gilt als ultrakonservative Strömung innerhalb des sunnitischen Islams. Der Begriff Salafiyya kann frei als „die Orientierung an den frommen Altvorderen“ wiedergegeben werden. Geschichtlich sind salafistische Strömungen in verschiedenen Epochen Kontexten entstanden und hatten sehr unterschiedliche Forderungen.
Gemeinsam ist allen, dass die theologische Entwicklung zugunsten der Vorstellung, direkt zu den Quellen Koran und Sunna zurückzugehen, ignoriert wird. Anhänger der Salafiyya werden „Salafi“ genannt, während „Salafisten“ sich nur auf die aktuelle Strömung bezieht. In Tunesien werden sie nach ihrem Äußeren gern als „Bärtige“ bezeichnet.
„Keine schlechten Sachen machen“, das heißt in der Sprache von Douar Hichar, den Verlockungen eines Kriegsabenteuers zu widerstehen. Bis zu 6.000 Dollar bieten islamistische Anwerber angeblich allen, die sich dem Kampf anschließen wollen. In Tunesien ist das sehr viel Geld. Und die Tickets für die Reise nach Syrien oder in den Irak liegen schon bereit.
Manchmal werde auch mit falschen Versprechungen gelockt, erzählt ein Rückkehrer. Er habe seinen Brüdern nur humanitäre Hilfe leisten wollen. Als er im Kriegsgebiet ankam, habe man ihn aber gleich an die Front geschickt. Deshalb sei er nun wieder hier.

Zurück aus dem Dschihad

Doch die Rückreise nach Tunesien ist mit fast ebenso viel Risiko verbunden wie die Hinreise. Nach dem letzten Regierungswechsel und meheren Anschlägen im Land haben die tunesischen Behörden dem radikalen Islamismus den Kampf angesagt.
„Verlorene Brüder“ nennt man in Tunesien zurückgekehrte Dschihadisten. Sie müssen sich heute genau so verstecken wie jene Leute, die sie angeworben haben. Sonst drohen ihnen hohe Gefängnisstrafen wegen Terrorismus.
Die Arbeitslosenquote geht seit 2011 wieder zurück. Nach der Flucht des früheren Präsidenten hatte sie den Höhepunkt erreicht. Doch im letzten Jahr versetzten blutige Anschläge auf das heute streng bewachte Nationalmuseum von Bardo und ein Hotel im Badeort Port El-Kantaoui dem Tourismus einen schweren Schlag. Und mit dem Fremdenverkehr sind die Zuukunftsaussichten vieler Tunesier verbunden.
Töpferei in Tunis RTL
Standhaft

Jobs statt Bomben

RTL
Arbeitslosenquote in Tunesien lt. IMF IMF - ORF.at
So schätzt der IMF die Arbeitlosenquote in Tunesien in den letzten 10 Jahren. Die Prognose für 2016 geht von 14% aus.
Es gibt nicht viel, was junge Menschen heute in Tunis halten kann, wenn sie nicht gerade aus einer wohlhabenden Familie stammen.
Ein fixer Job ist ein solcher Grund. Wer ein sinnvolles Leben führen, heiraten und vielleicht sogar eine Familie gründen will, brauchten einen Arbeitplatz und ein regelmäßiges Einkommen.
Maren Wäger kennt das Problem und versucht zu helfen, wenn es geht. Die deutsche Geschäftsfrau lebt mit ihren Kindern am anderen Ende von Tunis. Sie hat eine Serie von Anschlägen miterlebt, einige davon aus nächster Nähe.
Beim Überfall auf die US-Botschaft drangen salafistische Terroristen gleichzeitig auch in die amerikanische Schule ein. Nur knapp waren Marens Kinder dem Anschlag entgangen. Aber so bedrohlich die Situation aus der Sicht der meisten Europäer sein mag - die deutsche Unternehmerin denkt nicht daran, das Land zu verlassen.

Maren bleibt in Tunesien

„Früher wurden die Männer zum Rasieren gezwungen. Jetzt müssen sie sich halt nicht mehr rasieren. Ich glaube nicht, dass es mehr geworden ist, die Leute drücken es nur mehr aus.“ Maren Wäger
Seit zwanzig Jahren lebt Maren Wäger in Tunesien. Sie hat nicht die Erfahrung gemacht, dass die Gesellschaft radikaler oder religiöser geworden wäre. Vielmehr würde jetzt vieles an die Oberfläche kommen, was lange Zeit unterdrückt war.
Als Frau im Land der ewig Vergessenen aber auch der vielen Dschihadisten betreibt auch weiterhin ihr Familienunternehmen und erhält und schafft hier Arbeitplätze.
Enttäuscht

Neue Unruhen

Sidi Bouzid
Gemeindeform: Stadt
Einwohner: 48.284 (2014)
Sidi Bouzid entwickelte sich unter dem französischen Protektorat zu einer Stadt. Von hier aus breitete sich 2010 die Jasminrevolution zuerst in Tunesien aus, dann auch in den arabischen Nachbarländern. Jeden Juli organisiert die Gemeinde ein Literaturfestival.
In Sidi Bouzid, wo alles begann, aber auch in Tunis und anderen Städten, sind inzwischen wieder Unruhen ausgebrochen. Als wir dort eintreffen, höre ich von einer Verhaftungswelle. Hossam, ein Anwalt, der sich um Polizeiopfer kümmert, berichtet von zahlreichen willkürlichen Festnahmen.
Wie damals demonstrieren vor allem junge Menschen gegen Arbeitslosigkeit und Willkür der Polizei. Ihr wird vorgeworfen, mit Einschüchterungen, willkürlichen Verhaftungen und Folter zu arbeiten. Der Unmut vieler junger Menschen und Eltern ist wieder stark angewachsen.
Hossam und ich gehen ins Zentrum. Da hängt ein riesiges Poster des weltweit berühmtesten Tunesiers, Mohamed Bouazizi. An einem ausgetrockneten Brunnen sitzt eine Gruppe junger Leute.
Das Poster erinnert an Mohamed Bouazizi. RTL
Das Poster erinnert an den Suizid von Mohamed Bouazizi.
Jugendliche in Sidi Bouzid RTL
Jugendliche in Sidi Bouzid
Jugendlicher in Sidi Bouzid RTL
„Hier hat sich nichts geändert.“
Er beschwert sich über die Polizei. RTL
„Das ist doch immer noch ein Polizeistaat.“
Ein Vater salafistischer Söhne RTL
„Meine Söhne sind keine Terroristen.“
Demonstranten in Tunis dpa/Mohamed Messara
Demonstranten in Tunis: Protest gegen die Misere im Land
„Hier hat sich eigentlich nichts verändert.“
„Das hier ist doch immer noch ein Polizeistaat.“
Junge Männer in Sidi Bouzid
Der Vorwurf der Behörden bei Strafverfolgung und Verhaftung von jungen Leuten ist fast immer „Islamischer Terrorismus“. Mit Hossam besuche ich einen Mann, dessen Söhne gefoltert wurden. Im Haus begegnen wir den beiden tief verschleierten Ehefrauen der Verhafteten. „Ja, meine Söhne sind Salafisten“, sagt mir der Vater, „aber sie sind keine Terroristen, sie beten nur“

Auflösung der Tradition

„Die Jugend kommt nicht mehr in die Moschee und sie glauben uns nicht mehr. Sie schauen nur ins Internet. Was in den sozialen Medien über den Koran gesagt wird, gefällt der Jugend mehr als das, was wir sagen. Wenn sie etwas in Facebook lesen, sind sie verloren: Sie werden drogensüchtig oder radikal.“ Taijeb Gozzi
Traditionelle Prediger wettern gerne gegen das Internet. Es würde die Jugend verführen, sagt uns Taijeb Gozzi, der Prediger der Hauptmoschee von Kairouan. Hier sind an diesem Nachmittag nur alte Leute, und er selbst ist 73. Ich frage, warum keine jungen Leute in die Mosche kommen. Ein weiterer Anlass, dem Ärger über das Internet Luft zu machen.
Dabei hatte gerade das Internet vor 5 Jahren als die große Hoffnung der arabischen Jugend gegolten. Zumindest aus der Sicht westlicher Beobachter. Soziale Medien wurden als die treibende Kraft des Arabischen Frühlings gesehen, weil sie demokratische und liberale Gedanken bringen würden. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die neuen, schnellen Informationskanäle in viele verschiedene Richtungen funktionieren. Auch radikale Gedanken verbreiten sich rascher als früher.

Die Hoffnung ist nicht tot

Und doch ist die Hoffnung auf eine offene Gesellschaft in Tunesien nicht tot. Beispiele dafür kann man allerdings nur in kleinen geschützten Räumen finden. Wie in der Töpferei von Maren Weger, wo auf 200 m2 Religiöse und nicht Religiöse, Frauen und Männer friedlich zusammenarbeiten, mit Bart oder Kopftuch und ohne. Unter der Anleitung einer couragierten Chefin. Ein friedliches Biotop in einem unruhigen Land.
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Projekt

Europa hat sich lange Zeit als Vorbild verstanden, das die Zukunft der Gesellschaften rund um uns bestimmen wird. Aber das scheint nur eine Illusion geweisen zu sein. RTL-Reporterin Antonia Rados und ORF-Reporter Christian Schüller gingen den antiwestlichen Entwicklungen in Osteuropa, Nordafrika und dem nahen Osten vor Ort auf den Grund.
Die Daten zu den Städten und Ländern wurden im Vergleich zwischen verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia und den offiziellen Websites der bereisten Länder gecheckt. Wirtschaftsdaten stammen von Eurostat, Weltbank und IMF.

Online-Team

Die Web-Reportagen für PCs und Mobilgeräte hat ORF.at gemeinsam mit Christian Schüller gestaltet.

Sendungshinweis

Weltjournal spezial: Europas neue Fronten wird in 2 Teilen, am Dienstag, 31. Mai 2016 um 22:35 (Mittel- und Osteuropa) und am Mittwoch, 1. Juni 2016 um 22:30 (Nordafrika und Naher Osten) in ORF 2 ausgestrahlt.

Lesehinweise

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