Russland

Der frustrierte Riese

Russland - Karte ORF.at
Russlands Größe ist für Nachbarn und Westeuropäer irritierend.
Christian Schüller, Mai 2016
Russische Jugendliche, die auf Krieg vorbereitet werden - solche Bilder schockieren die westliche Öffentlichkeit. Und das mag durchaus so gewollt sein. Denn seit beim südlichen Nachbarn Ukraine prowestliche Politiker an der Macht sind, pocht Moskau nach Jahren der Zurückhaltung wieder deutlich auf seine militärische Stärke. Das Verteidigunsbudget hat sich seit 2010 stetig nach oben entwickelt. In Finnland und im Baltikum wachsen entsprechende Sorgen. Ohne Russland werde es in Europa und in der Welt keinen Frieden geben, warnt der russische Außenminister Sergei Lawrow.

Das Gefühl der Erniedrigung

Russland 2016
Staatsform: Föderale Republik
Präsident: Wladimir Putin
Ministerpräsident: Dmitri Medwedew
Fläche: 17.075.400 km²
Einwohner: 143,6 Mio. (Schätzung 2013)
BIP: 1.133 Mia. US$ (2015)
Russland ist ein föderativer Staat im nordöstlichen Eurasien und flächenmäßig der größte Staat der Erde. Die Russische Föderation ist der Nachfolgestaat der Sowjetunion in internationalen Organisationen, Atommacht und ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates.
Ähnlich wie eine Mehrheit der Österreicher nach 1918 vermissen viele Russen seit den frühen 1990er Jahren das Gefühl, Bürger einer Weltmacht zu sein. Europäer und Amerikaner hätten immer schon Russlands Schwächen ausgenützt, hört man oft. Als Moskau schließlich im Jahr 2014 die Konflikte in der Ukraine nutzte, um die Halbinsel Krim von der Ukraine abzutrennen und wieder an die Russische Föderation anzuschließen, wurde das von der russischen Bevölkerung wie ein Befreiungsschlag gefeiert.
Aber kann man daraus schließen, dass sich die russische Gesellschaft zunehmend von Europa wegbewegt? Wie tief sitzt das Misstrauen gegen den Westen wirklich? Ist Russland dabei, sich vom Rest der Welt abzuschließen? Sind nur Eliten oder die Bevölkerung davon erfasst? Diesen Fragen sind wir in Moskau und Sergijew Possad nachgegangen und haben durchaus unterschiedliche Antworten bekommen.
Religion und Vaterland
Kloster und Kampftraining

Für Gott und Vaterland

Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad Alex Zelenko - GFDL
Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad
Das Kloster der Dreifaltigkeit und des Heiligen Sergius ist ein russisch-orthodoxes Männerkloster in der rund 70 km nordöstlich von Moskau gelegenen Stadt Sergijew Possad. Es wurde um 1340 vom Heiligen Sergius von Radonesch gegründet. Das architektonische Ensemble des Klosters mit zwei Kathedralen, sechs Kirchen, elf Türmen und vielen weiteren Gebäuden gehört seit 1993 zum UNESCO-Welterbe.

Sergijew Possad ist eine russische Großstadt mit 111.179 Einwohnern (2010), 71 km nordöstlich von Moskau. 
Der 14-jährige Georgij sieht sein Land in Gefahr. „Jeden Augenblick könnte es gegen uns Krieg geben“, meint er. Und falls es dazu kommt, will er für Russland kämpfen. Um sich auf den Ernstfall vorzubereiten, zieht der schmächtige Schüler jedes Wochenende einen Kampfanzug an und übt - gemeinsam mit Gleichaltrigen - Nahkampf und Schießen. Seit zwei Jahren ist er Mitglied in einem militärisch-patriotischen Jugendklub.
Dort trifft er auf Dunya Kazakowa, ein schüchtern wirkendes Mädchen. Anders als Georgij glaubt sie nicht an Krieg. Aber auch sie will etwas für ihr Vaterland tun. Das heißt jeden Sonntag in Drillhosen und Soldatenstiefeln antreten, auch wenn sie dafür im Morgengrauen aufstehen muss. Als Patriotin habe man vor allem den eigenen Egoismus zu bekämpfen, sagt Dunya Kazakowa.

Exerzieren im Klostergarten

Ungewöhnlich ist nicht nur das Alter der jungen Patrioten. Exerziert wird in einem Klostergarten, unter Aufsicht von Priestern und Mönchen. In Sergijew Possad, dem heiligsten Ort der Russischen Orthodoxie. Während die Jugendlichen Gewehre putzen und den Paradeschritt üben, rufen die Kirchenglocken gleich nebenan Pilgerscharen aus ganz Russland zum Gebet.

Schießen und Beten

Besonders seit dem Ukraine-Krieg und der Aufnahme der Krim in die russische Föderation haben militärisch-patriotische Jugendklubs großen Zulauf. Die Ausbildner sind meist pensionierte Offiziere, manchmal auch aktive, die sich auf diese Weise ein Zubrot verdienen. An Geld mangelt es nicht. Der Kreml unterstützt großzügig jede Initiative, die sich mit dem Schlagwort „patriotisch“ schmückt.
Wer sein Kind in einem solchen Klub einschreibt, muss damit aber nicht unbedingt ein politisches Ziel verfolgen. Viele Eltern sind froh, wenn ihre Kinder nicht zu viel Zeit auf der Straße verbringen. Militärisches Training soll die Jungen ablenken und davon abhalten, in schlechte Kreise zu kommen: Habt-Acht-Stehen als Anti-Drogen-Programm.

Zauberwort Patriotismus

„Patriotismus. Das ist eine sehr große Sache. Auf sein Land stolz zu sein. Auf die Stadt, in der man lebt. Auf den Präsidenten.“ Dunya und ihre Freundin
Auch die Leiter der patriotischen Klubs haben unterschiedliche Motive. Manchen ist es ein Anliegen, junge russische Nationalisten heranzubilden. Andere nützen die Förderung militärischer Vereine, um unter diesem Titel Sozialarbeit zu betreiben. Es gibt sogar militärisch-patriotische Klubs, die besonders sensiblen Burschen helfen, dem zweijährigen Militärdienst zu entgehen, denn dort herrschen immer noch Mobbing und grausame Rituale.
Vater und Sohn im Kloster Sergijew Possad ORF
Goscha und Ilja Klebanow
Ilja Klebanow, der Vater des 14-jährigen Goscha, sieht seinen Sohn eher nicht als Soldaten. Goscha sei immer schüchtern gewesen und werde von seinen Klassenkollegen oft gemobbt, erzählt der Geschäftsmann. Das militärisch-patriotische Training würde dem Buben etwas Selbstbewusstsein geben. Mit politischer Indoktrinierung habe das hoffentlich nichts zu tun.
Aber woher kommt dann die feste Überzeugung des Vierzehnjährigen, dass er möglicherweise bald in den Krieg ziehen müsse? Das kann sich auch der Vater nicht erklären. Ilja bezeichnet sich selbst als Liberalen. Europa sieht er als Vorbild, nicht als Gegner. Auch wenn es noch sehr lange dauern werde, bis Russland seine autoritären Traditionen überwindet.
Dunyas Vater dagegen schätzt Disziplin, Autorität und Gehorsam. Militärische Tugenden hätten viel mit christlichen Werten  gemeinsam, meint Denis Kazakow. Es gehe darum, Opfer zu bringen: ob für Gott, für das Vaterland oder für die Familie.

Gehorsam ist alles

Was immer ich von den Mitgliedern patriotischer Klubs und ihren Eltern zu hören bekomme, in einem Punkt sind sie sich einig: Gehorsam ist das höchste Gebot. Geht es darum, dem russischen Staat lenkbare Untertanen heranzuziehen?

Verräter und Alkoholiker

Dimitrij Smirnow ist Pfarrer in Moskau.
Dimitrij Smirnow beantwortet die Frage mit einem Lächeln. Er leitet das militärisch-patriotische Training in Sergijew Possad. Das ehrwürdige Kloster habe schon viele verschiedene Regime überlebt, sagt er. Die offizielle Adresse lautet immer noch: Straße der Roten Armee.
Als Nazi-Deutschland 1941 die Sowjetunion überfiel, schenkte Stalin der Kirche das ehrwürdige Kloster zurück. Die Bolschewiki hatten es einst verstaatlicht. Nun aber brauchte Stalin die Unterstützung der Popen, um den Angreifer zu besiegen. Kirche und Staat seien in Russland Partner, sagt Dimitrij Smirnow.

Selbstdisziplin und Zufriedenheit

Das Ziel der patriotisch-militärischen Ausbildung sei es, zufriedene Menschen zu erziehen. Es sei im Land weit verbreitet, dass man sich ständig beklage, vor allem auch über die Regierung. Die militärischen Übungen seien für die jungen Menschen zwar manchmal sehr hart. Auf diese Weise würden sie aber lernen, an sich selbst zu arbeiten, statt die Schuld woanders zu suchen.
Moskau und Sewastopol

Der verspielte Sieg

Rot und Grau haben das Bild von Moskau geprägt, als es noch Hauptstadt der Sowjetunion war. Das Grau verwitterter Fassaden und die rote Schrift kommunistischer Parolen. Diese Monotonie ist inzwischen einer bunten Vielfalt gewichen: blinkende Werbeschilder, gläserne Bürotürme und mondäner Chic. Äußerlich unterscheidet sich das Flair der 14-Millionen-Stadt Moskau heute kaum von westlichen Metropolen.
Als westlicher Besucher kann man es sich in einem der unzähligen Cafes gemütlich machen und problemlos drahtloses Internet benützen. Der Alltag der Moskauer dreht sich um ähnliche Themen wie der eines Westeuropäers: Hohe Mieten, Verkehrsstaus, Sorge um den Job. Unterhält man sich etwas länger mit russischen Bekannten, wird jedoch eine tiefe Kluft spürbar. Denn die Veränderungen der letzten 30 Jahre werden hier völlig anders empfunden als bei uns.
Die Öffnung zum Westen und den Rückzug sowjetscher Truppen aus Osteuropa sehen viele Russen rückblickend wie einen verlorenen Krieg. Eine selbst verschuldete Niederlage, die den Sieg im Zweiten Weltkrieg zunichte gemacht habe. Dieses weit verbreitete Gefühl der Frustration konnte Wladimir Putin nicht nur geschickt nützen. Es war auch der Antrieb seiner politischen Laufbahn.

Demütigung einer Supermacht

Putin in Berlin Public Domain
Wladimir Putin als KGB-Offizier in Berlin
Als Michail Gorbatschow seinem Land die Perestroika verordnete - also den Umbau des politischen Systems - diente Putin als KGB-Offizier in Dresden, in der damaligen DDR. Die Rückkehr nach Russland hat er nicht nur als vorübergehenden Karriereknick erlebt, sondern auch als Augenblick der Demütigung für sein Land. Ohne erkennbare Gegenleistung hatte die Supermacht zurückgesteckt.
Sein persönliches Tief konnte Putin überwinden. Er brachte es nach dem Ende der Sowjetunion zum Geheimdienstchef und im Jahr 2000 sogar zum Präsidenten. Doch die Bitterkeit über die westliche Überheblichkeit blieb.
Karte der Krim ORF.at
Die Krim - seit 2014 wieder Teil der Russischen Föderation. Die Annexion wurde von der UNO nicht anerkannt.
Mit einem Schlag hat der Konflikt um die Ukraine die sowjetische Geschichte in die Wohnzimmer zurückgeholt. Der schmerzvolle Rückzug aus Osteuropa ist wieder ebenso präsent wie der verlustreiche Sieg im Zweiten Weltkrieg. Ukrainische Nationalisten, die heute in Kiev an der Macht sind, werden von den russischen Staatsmedien als Faschisten bezeichnet.
Doch niemand solle die Zähigkeit Russlands unterschätzen. Kurz nach dem Anschluss der Krim an Russland wurde der Große Vaterländische Krieg zum Thema einer gigantischen History-Show. Schauplatz war Sewastopol, der Militärhafen der Krim.

History Show in Sewastopol

Organisiert hat die Show ein enger Freund Putins, Aleksander Zaldostanow, Anführer der Russischen Nachtwölfe, einer nationalistischen Motorrad-Gang. Von seinen Anhängern lässt sich Zaldostanow „der Chirurg“ nennen. In den Achzigerjahren schwärmte er für amerikanische Musik und die endlose Freiheit der Highways. Heute schätzt der imposant wirkende Sportsmann den sowjetischen Diktator Josef Stalin, die russische Kirche, seinen Freund Putin und immer noch heiße Motorräder.
Mit dieser kuriosen Mischung aus konservativem Patriarchen und wildem Kerl gilt „der Chirurg“ heute in Russland vielen als Kultfigur. Um ihn zu treffen, braucht es viel Geduld. Wenn überhaupt, dann stehe er nur spätnachts zur Verfügung, lässt seine Assistentin ausrichten. Das genaue Datum könne sich aber noch im letzten Moment ändern. Und so warte ich dann auch zehn Tage lang.

Verlust und Verrat

Russland hätte durch die Öffnung zum Westen alte Freunde verloren, aber keine neuen gewonnen, klagt Zaldostanow. Unter die alten Freunde zählt er Leute wie Erich Honecker, den ehemaligen Staats- und Parteichef der DDR.
Aber sind die Menschen in Berlin oder Warschau nicht froh, dass sie sich von Moskau befreit haben? Diese Frage lässt „der Chirurg“ nicht gelten. In den sozialistischen Ländern hätten die Menschen eine neue Gesellschaft aufgebaut und an die Zukunft geglaubt. Das sei mehr wert als materielle Güter.  Doch die Osteuropäer seien verraten worden. 

„Der Chirurg“

„Ihr wollt unseren Sieg, den wir mit so vielen Opfern im Namen der gesamten Menschheit errungen haben, diesen großartigen Sieg wollt ihr klein machen und sogar mit dem satanischen Nazi-Regime gleichsetzen.“

Aufrüstung oder Ausbildung

Erniedrigung, Demütigung, Verrat. Diese Worte bekommt man in Russland oft zu hören. Nicht nur aus dem Mund Wladimir Putins. Auch Geschäftsleute, Freiberufler und Ärzte kritisieren, dass der Westen auf Russland zu wenig Rücksicht nehme. 
Die massive Erhöhung der Militärausgaben wird von der Mehrheit nicht in Frage gestellt, auch wenn sie Einschnitte im Bildungsbereich und bei den Sozialausgaben erzwingt. Denn die Mittel des russischen Staates sind knapp geworden, seit der Ölpreis kontinuierlich sinkt.
„Klar kämpfe ich darum, dass mehr Geld für Bildung ausgegeben wird“, seufzt Aljona Arschinowa, Bildungssprecherin der Putin-Partei „Einiges Russland“. „Als Tochter eines Offiziers verstehe ich andererseits, warum die Verteidigungsausgaben erhöht wurden.“
Militärausgaben Russlands 200 - 2015 ORF.at - Sipri
Russlands Militärausgaben sind laut SIPRI seit 2000 stetig gestiegen. Russland liegt hinter den USA, China und Saudi-Arabien an der 4. Stelle. Das russische Militärbudget beträgt rund 15% des amerikanischen.
Die 31-jährige Politikerin ist in Dresden geboren. Wie Wladimir Putin wurde auch ihr Vater kurz vor dem Ende der Sowjetunion nach Russland zurückbeordert. Als Kind erlebte sie den sozialen Abstieg einer Offiziersfamilie. „Damals haben Soldaten monatelang kein Gehalt bekommen und wir mussten Gemüse anbauen, um zu überleben.“   

Langsamer Wandel

Und doch glaubt Aljona nicht, dass sich die heutigen Probleme ihres Landes mit militärischen Mitteln lösen lassen. Das gelte auch für den Konflikt in der Ukraine. Dort würden sich wie in Russland eine alte, sowjetisch geprägte Garde und eine junge Generation gegenüberstehen.
In der Ukraine habe man versucht, diesen Generationenwechsel auf revolutionäre Art zu erzwingen. „Ich bin eher für einen sanften Übergang“, sagt die junge Abgeordnete. „Sanft, aber mit Tempo!“
Früher oder später würden Russland und Europa zusammenwachsen, so glaubt sie. Einen kleinen Beitrag dazu habe sie geleistet: Sie hat freies Internet für alle Studentenheime durchgesetzt.
Aber sehen Putins Propagandisten das Internet nicht als Quelle der Gefahr? Die Frage bringt Aljona Arschinowa nicht aus der Fassung.
„Ein Staat ist dann stark, wenn er gebildete Bürger hat, und wenn er imstande ist, auf die Fragen dieser Bürger zu antworten“. Aljona Arschinowa
Gespräche wie dieses verwirren den Besucher aus Westeuropa. Während Putins Freund und Weggefährte Zaldostanow den Westen verdammt, setzt eine junge Politikerin aus seiner Partei auf Entspannung und Verständigung. Ein Pfarrer, der Kinder zu Soldaten ausbildet, schätzt die europäische Lebensart, während sein Patriarch Menschenrechte als „Schwindel“ bezeichnet.
Nur in einem scheinen sich Putins Anhänger einig zu sein: Der gefährlichste Feind Russlands kommt weder aus der Europäischen Union noch aus China, sondern von innen.
Mord und Repression

Der innere Feind

Boris Jefimowitsch Nemzow
Russischer Politiker, der 1991 bis 1997 Gouverneur der Oblast Nischni Nowgorod war.
Unter Präsident Boris Jelzin war Nemzow zwischen 1997 und 1998 Vizeministerpräsident der Russischen Föderation und galt als einer der Architekten der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsreformen des Landes. Im August 1998 schied er aus der Regierung aus. Am 27. Februar 2015 wurde er im Zentrum Moskaus erschossen.
Der Tatort liegt nur wenige Schritte von der Kremlmauer entfernt: An dieser Stelle wurde am Abend des 27. Februar 2015 Boris Nemzow erschossen, einer der populärsten Oppositionspolitiker Russlands. Die Kremlführung sprach von einer Provokation. Dieses Verbrechen sei begangen worden, um den Präsidenten zu belasten.
Wie alle anderen politischen Morde der Putin-Ära wurde auch dieser Fall niemals aufgeklärt. Und wer auch immer den Auftrag gegeben hat, Politiker wie Boris Nemzow und Journalistinnen wie Anna Politkowskaja umzubringen – die Botschaft ist angekommen: Offener Widerstand gegen Putin und seinen Kreis ist lebensgefährlich.

Meinungsfreiheit ohne Einfluss

Im heutigen Russland darf jeder offen seine Meinung sagen, solange er keine wichtige Position hat. Medien-Unternehmer dagegen, die sich nicht unterwerfen wollten, mussten das Land verlassen. Die veröffentlichte Meinung spiegelt die Sicht des Kreml.  Kritiker werden verdächtigt,  fremden Mächten zu dienen.  
„Das ist nicht Patriotismus, sondern Dummheit“, empört sich die 88-jährige Historikerin Ludmilla Alexejewa.

Über Patriotismus

„Denn wenn jemand das Land liebt, oder nicht einmal das Land, wenn er die Menschen dieses Landes liebt, muss er wollen, dass sie besser leben. Das ist wirklicher Patriotismus“. - Ludmilla Alexejewa
In den 1960er Jahren war Ludmilla Alexejewa in der Moskauer Dissidenten-Bewegung aktiv. Dort gab es damals nicht viele Frauen. Ludmillas  Aufgabe war es, mit der Schreibmaschine Texte abzutippen. Kritische Texte, die in der Sowjetunion verboten waren. Auf hauchdünnem Papier, um möglichst viele Kopien anfertigen zu können. Samisdat, Selbstverlag, nannte man diese Art der Untergrundpresse.

Von Samisdat zu Twitter

Heute geht sie immer noch auf die Straße, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren - und verständigt sich mit ihren Mitstreiterinnen über Twitter. Seit 20 Jahren leitet sie die Moskauer Helsinki-Gruppe.
In den Augen der Regierung gehört sie damit zu den inneren Feinden, die im Auftrag äußerer Feinde agieren. Den Krieg in der Ukraine hat sie als Rückschlag erlebt.
  

Über Imperialismus

Doch Stimmen wie die von Ludmilla Alexejewa finden in Russland wenig Gehör.  Viel mehr Gewicht hat der orthodoxe Patriarch Kyrill, einer der engsten Verbündeten des Kreml-Chefs. Er wirft den Intellektuellen vor, sie würden Gott durch den Götzen der Menschenrechte ersetzen. Eine schwere Beschuldigung in einem immer religiöser werdenden Land.

Angst vor dem Zerfall

Patriarch Kyrill I. kremlin.ru CC-BY 4.0
Die Angst vor einem Moskauer Maidan sitzt tief. Demokratische Bewegungen in ehemaligen Sowjetrepubliken seien von außen gesteuert, ob in Georgien oder in der Ukraine. Das behaupten nicht nur Putins Propagandisten, diese Sichtweise teilen viele Russen. Denn nichts scheint die Menschen in diesem dünn besiedelten Riesenland mehr zu erschrecken als die Aussicht auf Zerfall und Chaos.
Dass Russland einen starken Staat brauche, ist deshalb für einen großen Teil der Bevölkerung unbestritten. Nur westliche Konzerne und deren Helfershelfer im Land könnten anderes behaupten, bekommt man als Westeuropäer immer wieder zu hören.  
„Wenige  Russen glauben heute, dass Europa sich in seiner Politik gegenüber Russland nach internationalen Normen richtet“, schreibt die russische Politologin Anna Matweejewa, die zur Zeit am Londoner King’s College lehrt. „Russen sehen westliche Werte nicht mehr als universell, sondern als anti-russisch. Sie fühlen sich als Opfer kultureller Vorurteile.“
Moskau Militärparade 2015 Reuters
Moskau - Militärparade 2015
Der Westen habe zu wenig Gedanken darauf verschwendet, was in Russland seit dem Kalten Krieg vor sich gegangen sei, meint  auch der amerikanische Historiker und Russland-Kenner Walter Laqueur. „Viele haben sich gefragt: Wenn Großbritannien und Frankreich den Verlust ihres Imperiums verkraftet haben,  warum sollte Russland das nicht können? Vielleicht weil sich in Russland die Überzeugung hält, dass dieses Land nur als Großmacht überleben kann.“
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Projekt

Europa hat sich lange Zeit als Vorbild verstanden, das die Zukunft der Gesellschaften rund um uns bestimmen wird. Aber das scheint nur eine Illusion geweisen zu sein. RTL-Reporterin Antonia Rados und ORF-Reporter Christian Schüller gingen den antiwestlichen Entwicklungen in Osteuropa, Nordafrika und dem nahen Osten vor Ort auf den Grund.
Die Daten zu den Städten und Ländern wurden im Vergleich zwischen verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia und den offiziellen Websites der bereisten Länder gecheckt. Wirtschaftsdaten stammen von Eurostat, Weltbank und IMF.

Online-Team

Die Web-Reportagen für PCs und Mobilgeräte hat ORF.at gemeinsam mit Christian Schüller gestaltet.

Sendungshinweis

Weltjournal spezial: Europas neue Fronten wird in 2 Teilen, am Dienstag, 31. Mai 2016 um 22:35 (Mittel- und Osteuropa) und am Mittwoch, 1. Juni 2016 um 22:30 (Nordafrika und Naher Osten) in ORF 2 ausgestrahlt.

Lesehinweise

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