Einfahrt nach Misrata in Libyen RTL
Einfahrt nach Misrata in Libyen
Libyen

Verloren zwischen den Fronten

RTL
Antonia Rados, Mai 2016
Karte von Libyen ORF.at
Libyen ist ein großes Land mit reichen Ölvorkommen und riesigen Wüsten.
Die Bevölkerung lebt überwiegend an der Mittelmeerküste.
Die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in Libyen, die das Land in den Zerfall geführt haben, haben eine lange innere und äußere Vorgeschichte. Oft erobert und genauso oft im Widerstand war Tripolis - übrigens ebenso wie Tunis und Algier - seit der Vorherrschaft der christlichen Mächte im Mittelmeer ein Ausgangspunkt für Korsarentum und Sklavenhandel im Mittelmeer. Es erfuhr deswegen vom 17. bis ins 19. Jahrhundert mehr als einmal Beschießungen durch europäische und amerikanische Kriegsflotten.

Revolution, Zerfall, Bürgerkrieg

Libyen 2016
Hauptstadt: Tripolis
Staatsform: Republik
Regierungssystem: parlamentarisch
Übergangspräsident:
Aguila Saleh Issa
Ministerpräsident:
Fajes Sarradsch
Fläche: 1.775.500 km²
Einwohner: 6.411.776 (Juli 2015)
BIP: 30 Mia. US$ (2015)
Libyen ist seit 1951 ein souveräner Staat und war zuerst ein Königreich. 1969 kam Muammar al-Gaddafi durch einen Militärputsch an die Macht. 2011 begann seine Herrschaft zu bröckeln und noch im selben Jahr wurde er von seinen Gegnern getötet.
Im Zusammenhang mit der aggressiven Feindschaft zu den USA und Israel bombardierte die amerikanische Luftwaffe 1986 Tripolis und Bengasi. Auch in der Revolution von 2011 griffen amerikanische und europäische, diesmal aber auch arabische Schiffe und Flugzeuge von außen in die Kämpfe ein. Seit 2014 flammte der Bürgerkrieg im entstandenen Machtvakuum wieder auf.
Mein erstes Ziel ist die eingekesselte Stadt Misrata an der Küste im Nordwesten des Landes. Wer heute zum Beispiel von Tunesien nach Libyen will, weiß oft nicht einmal, wie man hinkommen kann. Fliegen ist im Moment praktisch die einzige Möglichkeit.
Die strategisch wichtige Küstenstraße befindet sich auf vielen Abschnitten unter der Kontrolle einer dem „Islamischen Staat“ nahestehenden Gruppe, die - um Angst zu säen - auch öfter einmal Videos von Hinrichtungen veröffentlicht.
Misrata, Libyen RTL
Unsichtbare Grenzen

Eingekesselt

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In Misrata seien wir vor dem IS sicher, sagt man uns.
Bei der Landung auf dem Flughafen sahen wir neben der Landebahn das kaputte Kriegsmaterial von Gaddafis Armee vor sich hin rosten. Niemand konnte sich bis jetzt dazu aufraffen, es wegzuschaffen.
Aus der hinterlassenen Kriegsgerätschaft bedienten sich auch die Milizen, die Misrata beherrschen. Andererseits wird die Stadt aber von mehreren Seiten belagert. Am Stadtrand muss jedes Fahrzeug nach möglichen Selbstmordattentätern durchsucht und kontrolliert werden.

Milizen gegen den Islamischen Staat

„Wir waren auf einer Patrouille. Plötzlich tauchten vor uns einige harmlos aussehende Autos auf. Erst im letzten Moment bemerkten wir die schwarze Fahne des IS.“ Mohammed al-Bajud
Kommandant Mohammed al-Bajud muss verhindern, dass eines Tages der Islamische Staat seine Fahne über Misrata hissen wird. Er will uns zu einer Besichtigung der „Front“ begleiten. Die Fahrt führt durch Wüstengebiet. Kämpfer des IS nützen gerne die Leere und die unklaren Grenzen für taktische Bewegungen und Angriffe. Während der Fahrt erzählt uns al-Bajud, wie seine Patrouille so ein Kommando abgefangen hat.
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Die Sicht ist schlecht.
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Kommandant al-Bajud erzählt von einem Feuergefecht mit einem Kommando des IS.
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Mit der Patrouille unterwegs
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Ankunft am Checkpoint, improvisiertes fahrbares Geschütz
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Libysche Flaggen im aufkommenden Sturm
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Bereit für Angriff und Kontrollen
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Hier noch kommt privater Verkehr durch.
Checkpoint östlich von Misrata RTL
Hauptgebäude des Checkpoints

Checkpoint im Niemandsland

An einem Checkpoint im Osten der Stadt an der Überlandstraße endet der Machtbereich von al-Bajuds Gruppe. Die nächste Stadt ist Sirte, die ehemalige Stadt Gaddafis. Dort, aber auch in einer Kleinstadt westlich von Misrata, herrscht der Islamische Staat.
Karte Bürgerkrieg Libyen August 2016 Ali Zifan - CC BY-SA 4.0
Bürgerkrieg in Libyen
Dieser Checkpoint muss gehalten werden, komme, was da wolle.
Die offensichtliche Angst der durchkommenden Leute bewirkt, dass fast niemand mit mir sprechen will.
Ein beginnender schwerer Sandsturm macht auch unseren zweiten Kontaktmann Khaled unruhig. IS-Kommandos nützen schlechte Sichtverhältnisse oft aus, um sich unbemerkt dem Kontrollposten zu nähern. Mohammed will nicht, dass wir länger bleiben. Wir fahren nach Misrata zurück.
Flüchtlingsströme

Tor nach Europa

Seit Gaddafis Sturz ist die Küstenstadt ein Anziehungspunkt und vermeintlich offenes Tor für Migranten aus ganz Afrika geworden. Denn wer Misrata erreicht hat, sieht das Mittelmeer. Und hinter dem Meer scheint Europa nicht mehr weit zu sein.
Im ehemals reichen Ölland Libyen gibt es heute für Fremde praktisch keine langfristigen Überlebenschancen, von regulärer Arbeit ganz zu schweigen. Überall in Misrata sieht man Flüchtlinge sitzen. Es sieht aus, als würden sie nur auf besseres Wetter warten, um die Überfahrt nach Italien zu wagen.
Ich fahre zu einem Auffanglager für Migranten am Rande der Stadt. Es sieht hier besser aus, als ich erwartet hatte. Das Lager wird in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union betrieben.
Hier sind auch viele ehemalige Arbeitsmigranten aus innerafrikanischen Ländern. Der wirtschaftliche Zusammenbruch Libyens hat einen großen Teil dieser Männer den Job gekostet.

Vorläufig Endstation

Hier endet die Flucht für alle, die von den Sicherheitskräften auf dem Weg zu den Stränden gefasst werden. Eine Gruppe von 20 Ägyptern wurde gerade am Morgen hergebracht. Von Misrata aus ist der Weg über das Meer nach Europa für arbeitslose Auswanderungswillige kürzer als von den ägyptischen Küstenstädten aus.
Es gibt keine Botschaften, die sich um die Leute kümmern. Einige sind seit vier Monaten hier, andere warten schon ein ganzes Jahr. Achmad, Lagerleiter
Ein Sudanese erzählt, er sei aufgegriffen worden, als er gerade mit vier anderen ein Boot besteigen wollte. Sein Ziel sei Großbritannien. Dort habe er Familie.
Die EU-Behörden wissen, dass Misrata ein wichtiges Schlupfloch ist und kooperieren auch mit den örtlichen Sicherheitskräften. Die sollen weiterhin das tun, was Gaddafi lange Zeit den Europäern garantiert hatte: die Flüchtlinge vor der Überfahrt aufhalten, ihnen Arbeit geben oder sie in ihre Länder zurück schicken.
Route Misrata - Lampedusa ORF.at
Das nächste Ziel in Europa ist die italienische Insel Lampedusa
Der Kommandant wirkt zufrieden und stolz auf die Zusammenarbeit mit Europa. Aber den Lagerwachen sieht man doch an, dass sie nicht endlos Lust haben, Fremdenpolizei für Europa zu spielen.
Libyens Küste ist 2.000 Kilometer lang. Jede Bucht im Auge zu behalten scheint unmöglich. Und so legen immer wieder Schlauchboote Richtung Lampedusa und damit EU ab.
Mural in Misrata RTL
Mural in Misrata
Dschihad

Unheilige Allianz

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„Der Islamische Staat ist unser Feind Nummer eins. Er griff uns bereits an, ähnlich wie in Brüssel und Paris gab es bei uns Anschläge. Wir sitzen also im selben Boot. Und wir können einen Attentäter leichter fassen, noch bevor er Europa erreicht.“ Khaled, Patrouillenkommandant
Die Bewohner von Misrata fühlen sich nicht von den Flüchtlingen bedroht. Sie haben Angst vor den Dschihadisten. Wie das Leben unter Kontrolle des Islamischen Staats aussieht, das erfahren sie von gelegentlichen Besuchern aus Sirte im Südosten. Einheimische Zivilisten fahren noch gelegentlich zwischen den Städten hin und her.

Nachtwache

Ich höre immer wieder von verschiedenen Leuten, dass Libyen vielleicht im Zerfall begriffen sei, aber dass hier in Misrata unter Männern wie dem Kommandanten der „Nachtwache“, Khaled, Ordnung herrsche. Und auch dass mittlerweile von Sondereinheiten der amerikanischen und britischen Armee Unterstützung für die einheimischen Milizen im Kampf gegen den IS käme.
Salafistische Tradition
Salafistische „Islamische Orden“ haben in Libyen als Machtfaktor eine lange Geschichte. Die Senussi-Bruderschaft bildete den Kern des Widerstandes, als Italien ab 1911 in langwierigen Kolonialkriegen bis 1932 Libyen annektierte und eroberte. Flächenbombardements, Giftgas und Konzentrationslager kosteten in dieser Zeit rund 100.000 Libyern das Leben. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit wurde das Oberhaupt der Senussi, Idris I., zum König gekrönt.
Das wird als Zugewinn an Prestige und Motor der Zuversicht aufgefasst. Sirte dagegen war einst die Stadt Gaddafis. Dort wurde der langjährige Diktator nach dem Zusammenbruch seines Regimes auch getötet. Im Februar 2015 fiel die Hafenstadt im Zuge des libyschen Bürgerkriegs in die Hände des „Islamischen Staats“.
Seither sei Sirte wie ein einziges Gefängnis, erzählen Besucher.
„Wie ist das Leben dort“, frage ich eine Familie und ob es noch genug zu Essen gäbe. Der Mann sagt es gäbe wenig und Frauen dürften nur mehr in Begleitung auf die Straße. Dort herrscht nun der Terror, wie er in den vom IS beherrschten Gebieten üblich ist.

Die Nachtwache von Misrata

„Leute aus dem alten Regime schlossen sich mit den Islamisten zusammen. Die Gaddafi-Leute hofften, so ihre verlorene Macht wieder zurückzugewinnen. Deswegen machten sie gemeinsame Sache. In der Zwischenzeit kam es wieder zu Streitigkeiten und diese Freundschaft scheint wieder abgekühlt zu sein. Die Leute merkten zu spät, dass der IS andere Absichten hat als sie.“ Mohammed, libyscher Flüchtling
Doch die Macht in Sirte beruht nicht nur auf religiösen Fanatikern. Auch ehemalige Gefolgsleute Gaddafis machten gemeinsame Sache mit dem IS. Im herrschenden Chaos waren dort zurerst einmal alle willkommen, die willens waren, in den Dschihad einzutreten. So entstand eine wirklich unheilige Allianz.


Unsichtbare Grenzen

Wie schwierig der Kampf gegen den IS ist, merke ich, als Khaleds Milizionäre uns mit auf eine Patrouille nehmen. Ohne Zwischenfall geht es zuerst bis zur Stadtgrenze. Aber nicht einmal die gut bewaffnete Miliz wagt sich über die unsichtbaren Grenzen außerhalb der Stadt in das unkontrollierte Niemandsland zwischen Misrata und IS-Gebiet.
Das ist das Libyen nach Gaddafi, das Libyen der Milizen und des Islamischen Staates. Ein Land ohne gemeinsames Recht und landesweite Sicherheit, nur drei Flugstunden von der Mitte Europas entfernt.
Projekt, Team, Lesehinweise, Impressum

Projekt

Europa hat sich lange Zeit als Vorbild verstanden, das die Zukunft der Gesellschaften rund um uns bestimmen wird. Aber das scheint nur eine Illusion geweisen zu sein. RTL-Reporterin Antonia Rados und ORF-Reporter Christian Schüller gingen den antiwestlichen Entwicklungen in Osteuropa, Nordafrika und dem nahen Osten vor Ort auf den Grund.
Die Daten zu den Städten und Ländern wurden im Vergleich zwischen verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia und den offiziellen Websites der bereisten Länder gecheckt. Wirtschaftsdaten stammen von Eurostat, Weltbank und IMF.

Online-Team

Die Web-Reportagen für PCs und Mobilgeräte hat ORF.at gemeinsam mit Christian Schüller gestaltet.

Sendungshinweis

Weltjournal spezial: Europas neue Fronten wird in 2 Teilen, am Dienstag, 31. Mai 2016 um 22:35 (Mittel- und Osteuropa) und am Mittwoch, 1. Juni 2016 um 22:30 (Nordafrika und Naher Osten) in ORF 2 ausgestrahlt.

Lesehinweise

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