
Universum
Die Schule der Tiere - Lernen von Artgenossen
Im vergangenen Jahrhundert brachten wissenschaftliche Untersuchungen neue Erkenntnisse: Nicht nur Menschen kooperieren und agieren in sozialen Gruppen - auch viele Tierarten haben faszinierende Methoden entwickelt, um ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben. Eine neue Ausgabe von „Universum“ gibt in der Dokumentation „Die Schule der Tiere – Lernen von Artgenossen“ einen Einblick in die Klassenzimmer der Natur: Hier gibt es zwar keine Tafeln und Sitzbänke, es finden jedoch lebenswichtige Lektionen statt und Prüfungen, die über den Fortbestand einer ganzen Spezies entscheiden können.
Der Skorpion im Klassenzimmer
Als beste Lehrer im Tierreich gelten Erdmännchen: Sie haben sogar einen Stufenplan entwickelt, damit Jungtiere rasch lernen, wie sie einen Skorpion erlegen. Die begehrte Beute wehrt sich mit giftigen Stichen, gegen die ihre Angreifer zwar immun sind – schmerzhaft sind sie trotzdem.
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Die Jagdlektionen erfolgen in drei Etappen: Dem Nachwuchs wird zuerst ein toter Skorpion serviert, damit er mit dem Anblick und Geschmack vertraut wird. Später wird ein lebendiges Exemplar gebracht - den giftigen Stachel beißen die “Instruktoren” jedoch ab, das Töten obliegt den Schülern. Erst gegen Ende ihrer „Ausbildung“ müssen sie allein mit dem Fang fertig werden.

Erdmännchen fördern also aktiv den Lernfortschritt ihrer Schüler. Dies ist ein großer Unterschied zur reinen Nachahmung, erklärt der britische Zoologe Alex Thornton, der in der afrikanischen Kalahari-Wüste über das Sozialleben von Erdmännchen forscht: “Viele Tiere lernen durch das Beobachten anderer. Beim Unterrichten wiederum handelt es sich um eine echte Investition. Als Lehrer kann ich nicht einfach einer Tätigkeit wie zum Beispiel dem Jagen nachgehen, werde dabei beobachtet und mein Schüler lernt automatisch, sondern ich muss tatsächlich mein Verhalten ändern. Ich muss Zeit investieren, um jemandem beim Lernen zu helfen.”
Alex Thornton ist einer von acht Forschern, die für die Dokumentation von den französischen Naturfilmern Alexandra Ternant und Hervé Glabeck mit der Kamera bei der Arbeit begleitet wurden. Ihre filmische Reise führt sie nicht nur nach Afrika, sondern auch zu Makaken in Japan, Orcas in der Straße von Gibraltar, Meisen in süddeutschen Wäldern, Fruchtfliegen in Frankreich und Weißwangengänsen in die Arktis.

Ob erfolgreiche Jagdtechniken, die Suche nach Nahrung, das Erkennen und Abwehren von Gefahren, oder eine nötige Anpassung aufgrund der globalen Erwärmung - all diese Spezies zeigen eine bemerkenswerte Lernfähigkeit. Zudem können sie neues Wissen schnell an Artgenossen weitergeben. Und manchmal gelingt es ihnen sogar, Menschen auszutricksen, die ihnen oft ihre Lebensgrundlage streitig machen: So haben zum Beispiel Orcas erkannt, dass es bequemer ist, Blauflossenthunfische einfach vom Angelhaken der Fischer zu stehlen, als sie selbst bis zur Erschöpfung zu jagen.
Bei Affen wird Kultur großgeschrieben
Manche Tierarten haben sogar eigene Traditionen entwickelt, die sie an die nächste Generation weitergeben. Erstmals benutzten Forscher das Wort „Kultur“ in den 1950er Jahren für Tiere – bis dahin war es dem Menschen vorbehalten. Damals wollten Wissenschafter in Japan Makaken beobachten. Um sie in Ruhe studieren zu können, lockten sie die Affen mit Süßkartoffeln an. Zu ihrem Erstaunen begann ein Weibchen namens Imo damit, die Knollen im Meer zu reinigen. Das Salzwasser entfernte den Sand, dürfte aber auch den Geschmack verbessert haben. Zunächst kopierten einige Weibchen das “Rezept”, bald erlernte es die ganze Gruppe und auch 70 Jahre später hat sich diese Tradition erhalten. Andere Makaken in Japan haben hingegen wiederum andere Kulturen entwickelt: Die einen baden in heißen Quellen, die anderen wärmen sich durch kollektives Kuscheln auf.

Und noch immer sind die Affen in Japan ein beliebter Forschungsgegenstand: So zeigt der Film unter anderem den französischen Primatologen Cedric Sueur bei seiner Arbeit. Er benutzt bereits modernste Technik, wie Videokameras und sogar die künstliche Intelligenz für seine Forschung. Momentan untersucht er zehn wilde Makaken-Gruppen, die ein spezielles Hobby entwickelt haben: Sie spielen mit Steinen. Mit Hilfe der Software konnten Sueur und sein Team sogar schon 48 verschiedene „Regeln“ klassifizieren. Auf den ersten Blick erscheint diese Art des Zeitvertreibs sinnlos. Die Wissenschafter vermuten jedoch, dass das „Steine-Spiel“ einerseits die Geschicklichkeit bei den Jungtieren verbessern könnte, jedoch auch ältere Affen fit hält. Außerdem stellten die Forscher fest, dass dieses Verhalten nur bei Gruppen auftritt, die regelmäßig von Menschen gefüttert werden – statt mühsamer Nahrungssuche hatten sie Zeit für ein Spiel.
Die moderne Verhaltensforschung gelangt stetig zu neuen Erkenntnissen über die immense Bandbreite der Lernfähigkeiten und Wissensvermittlung von Tieren. Diese Dokumentation bietet einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen laufender Forschungsprojekte und liefert packende Aufnahmen von Wildtieren und Landschaften, die von der Wüste Afrikas bis in die arktischen Gebiete Norwegens reichen.