
Die besten 10 im Dezember 2025

1. András Visky (25 Punkte) NEU
„Die Aussiedlung“, Suhrkamp
Übersetzung: Timea Tankó
András Visky gilt als einer der bedeutendsten Dramatiker Rumäniens, seine Stücke wurden auf zahlreichen internationalen Bühnen aufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Das bestimmende Motiv seiner Werke ist das der Gefangenschaft, so auch in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch „Die Aussiedelung“. Visky, der 1957 im Rumänien Ceaușescus als Sohn eines ungarischen Pfarrers geboren wurde, schildert darin seine Kindheit im Straflager in der Bărăgan-Steppe am südöstlichen Rande Rumäniens. Dorthin wurde er als Dreijähriger zusammen mit seiner Mutter Julia und seinen 6 Geschwistern deportiert, nachdem der Vater von der Securitate verhaftet und als „Staatsfeind“ zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Als die Familie im Lager ankommt, gibt es keine freie Baracke mehr, stattdessen wird die Mutter von den Wärtern aufgefordert, sich doch ein Erdloch als Behausung für sie und die Kinder zu suchen. Es ist der Beginn eines von unvorstellbar grausamen Umständen geprägten Lebens oder vielmehr Überlebens, das Visky in kurzen, fragmentarischen Absätzen beschreibt, die sich aus Kindheits- und Familienerinnerungen und umfangreichen Recherchematerialien speisen. „Die Aussiedelung“ ist ein erschütterndes literarisches Mosaik, mit dem Visky der europäischen Lagerliteratur ein wichtiges Kapitel hinzugefügt hat.

2. ex aequo: Clemens J. Setz (20 Punkte)
„Das Buch zum Film“, Jung und Jung
Clemens J. Setz zählt zu den jüngsten Büchner-Preisträgern in der Geschichte dieser größten Auszeichnung, die einem deutschsprachigen Autor zuteilwerden kann. Mit Romanen wie "Monde vor der Landung'„ oder “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre„ hat er sich ein großes Publikum “erschrieben„. Jetzt ist ein neues Buch von ihm erschienen: Der Titel: “Das Buch zum Film". Es gewährt Einblicke in das Werden eines Schriftstellers, mittels einer Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 2000 bis 2010, die der heute 42-Jährige für das Buch neu geordnet hat. Erfahrenes, Gesehenes, Gelesenes findet darin fragmentarisch Platz: Wir begegnen einem jungen Schriftsteller, der früh schon der Literatur verfallen war und sich dieser geradezu rücksichtslos verschrieben hat. Clemens Setz erzählt im „Buch zum Film“ auch von seinen Eltern, der ersten großen Liebe, der Teilnahme an den Tagen der deutschsprachigen Literatur, der Sehnsucht danach, selbst Kinder zu haben und von vielem anderen mehr: Das Autobiographische darin gibt allerdings das große Rätsel Leben nicht preis.

2. ex aequo: Dimitré Dinev (20 Punkte)
„Zeit der Mutigen“, Kein & Aber
Als illegaler Flüchtling kam Dimitré Dinev 1990 nach Österreich, hielt sich als Student mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er, mit seinem Erstlingsroman „Engelszungen“ einen Bestseller landete. Seither ist der Autor aus der heimischen Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken. An seinem jüngsten Buch hat Dinev 13 Jahre gearbeitet: Auf mehr als 1000 Seiten erzählt „Zeit der Mutigen“ von individuellen Schicksalen im Schatten der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Beginnend am Vorabend des 1. Weltkriegs, über die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre, den Aufstieg der Nationalsozialisten, den 2. Weltkrieg, den kommunistischen Totalitarismus Osteuropas und seinem Nachwirken bis in die 1990er-Jahre. Was die Erzählfäden miteinander verbindet, ist die Donau, an deren Ufern die Romanhandlung über weite Strecken verortet ist. Seine Protagonisten sind Einzelgänger und Außenseiter, eigensinnig und widerspenstig und eben mutig, sei es gegenüber den autoritären Machthabern oder der Mehrheitsgesellschaft in den totalitären Regimen, in den Lagern oder im Krieg. Im Roman heißt es einmal: „Die stärkste Kraft, die wir besitzen, ist die Vorstellungskraft“. Dimitré Dinev ist in jedem Fall einer ihrer talentiertesten Beschwörer.

4. Dorothee Elmiger (17 Punkte)
„Die Holländerinnen“, Hanser
Seit ihrer Teilnahme beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im Jahr 2010 zählt die 1985 geborene Dorothee Elmiger zu den spannendsten Stimmen der jüngeren Schweizer Literatur. Vier Romane hat Elmiger bislang vorgelegt, 2020 wurde „Aus der Zuckerfabrik“ auf die Shortlist des Deutschen als auch des Schweizer Buchpreises gesetzt, auch ihr neuer Roman „Die Holländerinnen“ befindet sich auf den Shortlists beider Buchpreise und wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits jetzt zum „besten Roman des Bücherherbsts“ gekürt. Im Zentrum des Romans steht das Verschwinden zweier Holländerinnen im lateinamerikanischen Dschungel. Dem rätselhaften Schicksal der beiden Frauen möchte ein Theaterregisseur nachspüren und begibt sich mit einem mehrköpfigen Team hinein in den dunklen Urwald. Mit dabei: die Erzählerin der Geschichte, eine namhafte Schriftstellerin, die die ganze Expedition dokumentieren soll. Der Regisseur treibt die Crew trotz Widerstände immer tiefer und tiefer in den Wald, sein Vorhaben entpuppt sich dabei als weniger von Empathie, sondern von Größenwahn getrieben, denn er scheint mit dem Projekt in Wahrheit in die Fußstapfen von Künstlern wie Werner Herzog und Francis Ford Coppola treten zu wollen. Mittels einer fragmentarischen und ebenso komplexen wie faszinierenden Erzählstruktur lotet Dorothee Elmiger in „Die Holländerinnen“ die Abgründe der menschlichen Existenz aus.

5. Peter Wawerzinek (14 Punkte) NEU
„Rom sehen und nicht sterben“, Penguin
Seit der Auszeichnung mit dem Ingeborg Bachmann-Preis im Jahr 2010 hat sich Peter Wawerzinek einen Namen als Autor von höchstunterhaltsamen autobiografischen Texten gemacht. Immer wieder gelingt es ihm, tieftraurige Aspekte seiner Lebensgeschichte mit Humor und Lebensfreude zu begegnen, sei es seiner schwierigen Kindheit in ostdeutschen Kinderheimen im Roman „Rabenliebe“, seiner Alkoholsucht in „Schluckspecht“, oder seiner Krebserkrankung, wie im jüngst erschienenen „Rom sehen und nicht sterben“. Der Roman, der heuer auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war, setzt während eines Schreiburlaubs ein, den der Ich-Erzähler gerade in Rom verbringt. Angekommen in der schönen italienischen Villa, die ihm im Rahmen des Schriftstellerstipendiums zur Verfügung gestellt wird, fühlt er sich seltsam schwach, ständig friert es ihn, trotz sommerlicher Temperaturen. Die niederschmetternde Diagnose folgt prompt: Krebs. Doch statt im Selbstmitleid zu versinken beschließt der Erzähler dem Tod buchstäblich ins Gesicht zu lachen. Mit Kalauern und Wortwitzen trotzt das Ich dieses Textes dem „Krätz“, wie das Krebsgeschwür genannt wird, das da „Hausfriedensbruch“ in seinem Körper begangen hat und stellt sich mit Hilfe von Chemo und Operation dem Feind, der sich in seinem „Magen eingenistet hat“, von seinem „Fleisch isst“ und von seinem „Blut trinkt“. „Rom sehen und nicht sterben“ ist ein so berührend wie komisches Krebstagebuch.

6. ex aequo: Ian McEwan (12 Punkte)
„Was wir wissen können“, Diogenes
Millionenfach hat er seine Romane verkauft, Bestseller wie ‚Abbitte‘ wurden verfilmt – und längst ist er selbst Teil der Literaturgeschichte: Ian McEwan. Nun hat der britische Booker-Preisträger Ian McEwan einen neuen großen Roman vorgelegt. Er trägt den Titel „Was wir wissen können“ und wirft einen ebenso unterhaltsamen wie kritischen Blick auf unsere Gegenwart, und zwar rückblickend – aus der Zukunft. Ian McEwan, der oft der „Sir der britischen Gegenwartsliteratur“ genannt wird, beweist mit diesem Roman abermals, dass er ganz genau weiß, was guten Lesestoff ausmacht: eine geheime Liebe, ein Verbrechen, und große Fragen der Menschheit. „Was wir wissen können“ spielt im 22. Jahrhundert, lange nach Klima- und Atomkatastrophe. Ein Literaturwissenschafter macht sich in der Zukunft auf die Suche nach einem geheimnisvollen Liebesgedicht aus dem Jahr 2014: und beleuchtet so die - aus seiner Sicht - gute, alte Zeit. Und so beschreibt Ian McEwan in diesem hoffnungsvollen Roman wie schön, wie erhaltenswert unsere Zeit ist - allem zum Trotz.

6. ex aequo: Jehona Kicaj NEU
„ë“, Wallstein (12 Punkte)
Mit ihrem Debütroman „ë“ hat die Schriftstellerin Jehona Kicaj heuer für viel Aufsehen gesorgt. Das Buch wurde von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt, war sowohl für den Deutschen Buchpreis als auch den Aspekte Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Hanna-Literaturpreis der Stadt Hannover ausgezeichnet. Der ungewöhnliche Titel bezieht sich auf den Buchstaben „ë“, der im Albanischen am häufigsten von allen Buchstaben vorkommt, obwohl er meist nicht ausgesprochen wird. In Jehona Kicajs Roman steht dieses „ë“ symbolisch für das Schweigen über den Krieg im Kosovo: Während die Jugoslawien-Kriege im kollektiven Bewusstsein Westeuropas weitgehend ausgeblendet werden, bleiben der Krieg und die damit einhergehenden Traumata auch in den meisten kosovarischen Familien ein Tabu. So auch in der Familie von Kicajs Erzählerin, die, wie die Autorin selbst, in Suva Reka geboren wurde und noch vor Ausbruch des Krieges nach Deutschland fliehen konnte. Nachdem sie der Zahnarzt auf ihr pathologisches und höchstwahrscheinlich psychosomatisch bedingtes Zähneknirschen aufmerksam macht, beschließt sie den Familientraumata auf eigene Faust nachzuspüren und den Mantel des Schweigens Schritt für Schritt zu lüften. Eine ebenso erschütternde wie literarisch brillant konstruierte Spurensuche.

8. ex aequo: Angelika Reitzer (10 Punkte) NEU
„Blauzeug“, Limbus
Die in Wien lebende Schriftstellerin Angelika Reitzer zählt zu jenen Autorinnen, die sich in vielen Gattungen wohlfühlen. Sie ist Autorin mehrerer Romane, sie schreibt Erzählungen, Drehbücher, Libretti und legt mit „Blauzeug“ nun ihren zweiten Lyrikband vor. Im Ersten, dem Band seinen Namen gebenden Zyklus „Blauzeug“, dreht sich alles um Rom, die ewige Stadt. Das lyrische Ich der Gedichte ist eine Art moderne Flaneurin, die von ihren Streifzügen durch die Stadt berichtet. Dabei trifft sie auf unterschiedlichste Menschen, treibt sich auf den vielen Märkten herum und beschwört die Stadt in ihren unterschiedlichsten Blautönen. Ein anderer Zyklus kreist um Wien, beschreibt ein Wohnhaus im Ausnahmezustand der Pandemie oder den Schock, den die Stadt nach dem Terrorangriff am Schwedenplatz erlitten hat. Zwischen den Zeilen ist „Blauzeug“ auch eine lyrische Poetik, in der Reitzer die Grundhaltung hinter ihrem Schreiben offenlegt.

8. ex aequo: Nava Ebrahimi (10 Punkte)
„Und Federn überall“, Luchterhand
Spätestens seit der Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis im Jahr 2021 gilt die in Graz lebende Schriftstellerin Nava Ebrahimi als Fixstern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Nun liegt der dritte Roman der iranisch-deutschen Autorin vor, mit dem sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist: „Und Federn überall“ kreist um die Frage: Wie bleiben wir menschlich, wenn das Leben immer härter wird? Dreh- und Angelpunkt des Romans ist allerdings ein Tier, und zwar das Huhn. Nava Ebrahimi schildert das Leben von Menschen in einer Kleinstadt, deren wichtigster Arbeitgeber ein Schlachtbetrieb ist. Dass die Hühnerbrust durch eine Krankheit verhärtet, sie wertlos macht, ist hier Problem und Metapher. Jeder muss Federn lassen, für sein kleines Glück kämpfen in diesem Gesellschaftsroman: Die alleinerziehende Fließbandarbeiterin. Der Manager mit weichem Kern. Der blinde Dichter aus Afghanistan. Ebrahimi erzählt einen Tag aus deren unterschiedlichen Perspektiven. Ein Roman voll feiner Ironie, geschrieben mit klarem, humanem Blick.
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8. ex aequo: Peter Waterhouse (10 Punkte)
„Z Ypsilon X“, Matthes & Seitz
Das Sich-Bewegen zwischen den Sprachen, das Über-Setzen: es prägt das Leben wie Werk von Peter Waterhouse. Er selbst ist zweisprachig aufgewachsen: mit Deutsch und Englisch. Die zweisprachige Südkärntner Gegend ist einer seiner Lebensmittelpunkte. Seine Eltern haben hier vor Jahrzehnten ein Haus erworben, der Vater war hier als britischer Offizier stationiert. Dieser historisch verwundete wie kulturell reiche Landstrich: er gibt dem jüngsten Werk von Peter Waterhouse einen Rahmen, thematisch wie formal. Ausgangspunkt von „Z Ypsilon X“ ist eine Erbschaft: Bücher der Großeltern mütterlicherseits. Von Shakespeare, Goethe, Dostojewski, Dickens, Hölderlin bis hin zu Kraus, Altenberg und vielen anderen mehr: all das haben sie gelesen. Das hat sie nicht davon abgehalten, dem Nationalsozialismus zu huldigen: der eigene Großvater wurde zu einem wichtigen Rädchen in der NS-Propagandamaschinerie. Peter Waterhouse sagt: „Sie haben alles gelesen und konnten doch nicht lesen.“ Dieses Rätsel ist die Wunde, um die dieser Text kreist. Waterhouse liest die Bücher der Großeltern wieder, auf der Suche nach Zeichen darin, nach Vermerken. Mit „Z Ypsilon X“ liegt ein Monolith der Gegenwartsliteratur vor, in dem Stille und Langsamkeit in ihrer politischen Dimension sichtbar werden.

8. ex aequo: Salman Rushdie (10 Punkte) NEU
„Die elfte Stunde“, Penguin
Mehr als drei Jahre sind seit dem Attentat eines Islamisten auf Salman Rushdie inzwischen vergangen. Mit zahlreichen öffentlichen Auftritten und einem Buch, das den Angriff aus seiner Perspektive schildert, hat der Schriftsteller seither deutlich gemacht: Salman Rushdie wird sich niemals einschüchtern lassen. Der Erzählband „Die elfte Stunde“ wurde mit großer Spannung erwartet, schließlich liegt damit das erste literarische Werk Rushdies seit dem Attentat vor. Sein Schreiben, das wird gleich nach den ersten Seiten klar, hat sich nicht verändert: sein Witz und sein durch und durch humanistischer Blick auf die Welt ist derselbe, ebenso seine Angewohnheit, Magie und Fantastik in die Realität seiner Figuren einbrechen zu lassen. Der Band versammelt insgesamt fünf Geschichten, erzählt von einer Figur, die das Geschehen immer wieder kommentiert und stark an Rushdie selbst erinnert. Die Schauplätze der Erzählungen decken sich mit wichtigen geografischen Stationen im Leben des Schriftstellers: Mumbai, Cambridge, USA. Den roten Faden bildet der Tod: in den Geschichten begegnen wir Figuren, die an der Schwelle zum Jenseits stehen, deren letzte, das heißt „elfte Stunde“, geschlagen hat. Ein würdiges literarisches Comeback des großen Schriftstellers.