ORF Bestenliste Juni
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Die besten 10 im Juni 2025

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Kiki Beach
Kook Books 2025

1. Verena Stauffer (22 Punkte)

„Kiki Beach“, kookbooks

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb ist die zeitgenössische Lyrik zu einem absoluten Nischenprodukt geworden. Nur wenigen Autoren und Autorinnen gelingt es heutzutage mit Lyrikbänden größere Resonanz zu erzeugen, eine von ihnen: die 1978 in Oberösterreich geborene Schriftstellerin Verena Stauffer. Bereits ihr Band „Ousia“ hat 2020 für Aufsehen gesorgt, nicht zuletzt durch die Nominierung für den Österreichischen Buchpreis. Nun legt sie ihren neuen Gedichtband „Kiki Beach“ vor. Stauffer widmet sich darin einem Genre, das in den vergangenen Jahrzehnten völlig aus der Mode gekommen ist, weil es oft als „Frauenliteratur“ abgestempelt wurde: die Liebeslyrik. Behutsam wird in „Kiki Beach“ das Genre ins Jetzt und Heute navigiert, ohne jemals den gigantischen historischen Referenzraum zu vergessen, aus dem es sich speist. Lustvoll spielt Stauffer mit dem modernen Dating-Jargon: Da wird auf „Situationships“ gesegelt, da wird gebannt auf die verheißungsvollen „Screens“ gestarrt, auf denen sich Liebesbeziehungen durch die Popularität von Online-Dating abspielen. Aber auch Aphrodite lässt grüßen, oder der Phallus des Uranos, wenn auch in Gestalt eines Dildos namens „Randy Rabbit“. Weniger als um die eine große Liebe geht es in Stauffers Gedichten um die Magie, die hinter jedem Kennenlernen steckt. Jenseits der Euphorie und den Schmetterlingen im Bauch werden zwischenmenschliche Beziehungen auch zu einem Schutzschild gegen das Chaos des Weltgeschehens.

Stehlen, Schimpfen, Spielen
Rowohlt Hundert Augen

2. Barbi Marković (15 Punkte) NEU

„Stehlen, Schimpfen, Spielen“, Rowohlt Hundert Augen

In der hiesigen Literaturszene wird Barbi Marković schon seit ihrem Debütroman „Ausgehen“ für ihren eigenwilligen Sprachwitz verehrt. Am deutschen Markt galt die 1980 in Belgrad geborene und seit 2006 in Wien lebende Schriftstellerin lange als Geheimtipp. Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2024 für den Erzählband „Mini Horror“ hat nun auch der gesamte deutsche Sprachraum verstanden: Barbi Marković ist eine der originellsten Stimmen der gegenwärtigen Literatur. In ihrem neuen Buch „Stehlen, Schimpfen, Spielen“ gewährt uns Marković einen Blick in den Maschinenraum ihrer Literatur. Der Ausgangspunkt: Eine Poetik-Vorlesung soll geschrieben werden, die Deadline rückt unbemerkt näher und plötzlich realisiert Barbi Marković, dass ihr noch satte 13 Tage bis zur Abgabe bleiben. Während die Autorin panisch versucht sich eine super-gescheite, originelle Poetikvorlesung aus den Fingern zu saugen, lässt sie ihre schriftstellerische Karriere Revue passieren, um zum Schluss zu kommen, dass ihre literarische Praxis eben aus Stehlen, Schimpfen und Spielen besteht. Da ist der legendäre „Diebstahl“ an Thomas Bernhard, dessen Erzählung „Gehen“ sie absichtlich falsch übersetzt und als „Ausgehen“ in die Belgrader Clubszene versetzt hat. Die poetischen Schimpftiraden im Roman „Die verschissene Zeit“. Oder das Rollenspiel, das sie eigens entwickelt hat, um „Die Verschissene Zeit“  zu schreiben. Ein hochunterhaltsamer Text über das Schreiben.

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Hier treibt mein Kartoffelherz
Matthes & Seitz Berlin

3. ex aequo: Anna Weidenholzer (14 Punkte)

„Hier treibt mein Kartoffelherz“, Matthes & Seitz Berlin

Nach der Veröffentlichung ihres Debüts „Der Platz des Hundes“ im Jahr 2010 wurde die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer zu einer der großen Nachwuchshoffnungen der österreichischen Literaturszene erklärt. In kurzen Abständen folgten gleich drei Romane, die vom deutschsprachigen Feuilleton umjubelt und mit Nominierungen für die großen deutschen Buchpreise belohnt wurden. Nach einer mehr als 6-jährigen Pause macht Weidenholzer mit einem neuen Erzählband auf sich aufmerksam, er trägt den Titel „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Der Band ist eine Ode an die kurze Form: Gegliedert in 4 den Jahreszeiten nachempfundene Kapitel wechseln sich längere Erzählungen mit nur wenigen Sätzen umfassenden Skizzen ab, mal werden Geschichten erzählt, mal Beobachtungen festgehalten. Weidenholzers Figuren sind zartbesaitete Wesen mit rissigen Nervenkostümen, die jede Kleinigkeit aus der Bahn zu werfen droht. Da gibt es den spätherbstlichen Feriengast, der dann kommt, wenn alle weg sind, und auf Veränderungen geradezu allergisch reagiert. Oder die Umweltaktivistin, die sich so manisch für die Baumfürsorge einsetzt, dass man sich zu fragen beginnt, wer hier eigentlich Schutz braucht. Die hochverdichteten Texte lassen sich eigenständig lesen und sind doch lose miteinander verbunden, ähnlich einem literarischen Wimmelbild, wo jede Szene in einem größeren Ganzen aufgeht.

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Colette
Zsolnay

3. ex aequo: Colette (14 Punkte)

„Claudines Elternhaus“, Zsolnay
Übersetzung: Elisabeth Edl

Sidonie Gabriel Claudine Colette - kurz „Colette“ genannt - ist eine der schillerndsten Figuren der französischen Literaturgeschichte. 1873 in Burgund geboren, heiratete sie mit 19 Jahren den wesentlich älteren Schriftsteller Monsieur Willy. Unter dessen Namen begann Colette die legendären Claudine-Romane zu schreiben, Bücher über ein junges Mädchen aus der französischen Provinz, die zu einem gigantischen Erfolg wurden. Nach der Scheidung von Willy folgte eine Karriere als Varieté-Tänzerin und ab Ende der 1910er Jahre schließlich der Durchbruch als Schriftstellerin, als die sie von Zeitgenossen wie Marcel Proust oder André Gide aufs höchste bewundert wurde. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung des Buchs „Claudines Elternhaus“, das nun in neuer Übersetzung vorliegt. Colette erzählt darin ihre eigene Geschichte: Alles dreht sich um das Aufwachsen im ländlichen Burgund, eine Umgebung, in die ihre Familie durch die Belesenheit der Eltern und ihre ungewöhnlich selbstständige Mutter nicht recht hineinzupassen scheinen. Ein Roman, der auch mehr als 100 Jahre später keinerlei Staub angesetzt hat.

Der Kaiser der Freude
Hanser

5. Ocean Vuong (12 Punkte) NEU

„Der Kaiser der Freude“, Hanser
Übersetzung: Nikolaus Stingl, Anne-Kristin Mittag

Mit seinem Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist Ocean Vuong 2019 prompt zum Star der amerikanischen Gegenwartsliteratur geworden. In Form eines autobiographischen Briefromans hat der 1988 in Vietnam geborene Vuong darin sein zweifaches Außenseitertum als queerer Migrant verarbeitet und damit einen Nerv getroffen: quer über den Globus regnete es euphorische Kritiken, wobei Vuong das Fachpublikum und die Generation Book-Tok gleichermaßen begeistern konnte. Nun liegt sein mit Spannung erwarteter zweiter Roman „Der Kaiser der Freude“ vor: Ähnlich wie in seinem Erstling geht es Vuong darin um die Entlarvung des „American Dream“. Hauptfigur ist Hai, Sohn vietnamesischer Einwanderer, der mit seinen knapp 20 Jahren nichts als ein abgebrochenes Studium und eine Tablettensucht vorzuweisen hat. Er ist buchstäblich kurz davor von einer Brücke zu springen, als ihn Grazina, eine alte Frau mit litauischen Wurzeln zurückhält. Sie nimmt Hai bei sich zu Hause auf, durch die Pflege der an Demenz und Altersschwäche leidenden Grazina schöpft dieser neuen Mut, denn seit langer Zeit fühlt sich Hai endlich wieder gebraucht. Er nimmt einen Job in einem Fast-Food-Laden an, wo er mit der vollen Härte des Billiglohnsektors konfrontiert wird – doch in der dortigen Belegschaft gleichzeitig auf Zusammenhalt und Unterstützung stößt. Ohne zu beschönigen ist „Der Kaiser der Freude“ ein Loblied auf gesellschaftliche Solidarität.  

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Das Narrenschiff
Suhrkamp

6. Christoph Hein (11 Punkte) NEU

„Das Narrenschiff“, Suhrkamp

Der deutsche Autor Christoph Hein bezeichnet sich selbst als Chronist der Zeitgeschichte. Nun legt der 80-Jährige sein neues Buch vor, darin erzählt er die Geschichte des Scheiterns der DDR. Hein hat einst seine eigene künstlerische Freiheit gegen die Zensur des DDR-Regimes verteidigen müssen, dennoch bringt er jetzt sogar Verständnis dafür auf. „Narrenschiff“ heißt der Roman, denn was sich hinter den Mauern der DDR abspielte, erscheint Christoph Hein im Rückblick wie eine Reise auf einem ebensolchen Narrenschiff: unterwegs zur Unfreiheit aller Passagiere und gesteuert von Funktionären, die das Kentern des real existierenden Sozialismus einfach nicht wahrhaben wollen. „Sie hatten Hoffnungen auf einen anderen Staat, erleben schließlich mit, wie das alles kaputt geht und bleiben trotzdem an Bord“, sagt Hein über seine Figuren. Die im Buch beschriebene Irrfahrt hat Hein selbst erlebt und erlitten – und begegnet den Mitreisenden dennoch nie mit erhobenem Zeigefinger: So betrachtet ist sein zeitgeschichtlicher Roman auch ein guter Kompass auf dem Narrenschiff der Gegenwart.

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Die Sprache meines Bruders
Residenz

7. ex aequo: Gesa Olkusz (10 Punkte) NEU

„Die Sprache meines Bruders“, Residenz

Die deutsche Schriftstellerin Gesa Olkusz hat 2015 ihr vielbeachtetes Debüt „Legenden“ vorgelegt, mit großem Abstand folgt nun ihr zweiter Roman „Die Sprache meines Bruders“. Alles dreht sich darin um die zwei Brüder Parker und Kasimir, die als Kinder mit ihrer Mutter von Polen nach Amerika gezogen sind, um sich dort ein „besserer Leben“ aufzubauen. Während zu Beginn alles gut zu laufen scheint und die Familie wohlwollend in der Nachbarschaft aufgenommen wird, beginnt sich die Mutter plötzlich zurückzuziehen, weigert sich das Schlafzimmer zu verlassen. Die Söhne Parker und Kasimir müssen sich mehr oder weniger alleine durchschlagen, Parker heuert als Chauffeur an, Kasimir wiederum entwickelt sich zu einem lethargischen Stubenhocker. Als die Vagabundin Luzia in ihrem Leben auftaucht, gerät die schwierige Situation der Brüder endgültig aus dem Gleichgewicht. Dass sich Gesa Olkusz viel Zeit zum Schreiben genommen hat, merkt man dem Text im besten Sinne an: Olkusz erzählt die Geschichte mit vielen Leerstellen und fragmentarischen Rückblenden, ihre Worte sind mit Bedacht gewählt, da ist kein Satz zu viel, kein Wort zu wenig. Die Szenen sind perfekt komponiert, wirken aber wie mühelos eingefangene Momentaufnahmen. Ein brillantes Porträt einer komplizierten Bruderbeziehung.  

Der Fall Brooklyn
Tropen

7. ex aequo: Jonathan Lethem (10 Punkte) NEU

„Der Fall Brooklyn“, Tropen
Übersetzung: Thomas Gunkel

Mit seinen Brooklyn-Romanen hat sich der US-Schriftsteller Jonathan Lethem eine große Fan-Gemeinde erschrieben. In „Festung der Einsamkeit“ erzählte er vom Aufwachsen im Brooklyn der 1970er Jahre, der von Edward Norton verfilmte Roman „Motherless Brooklyn“ wiederum ist eine in den 1950ern angesiedelte Detektivgeschichte rund um einen autistischen Jugendlichen. Nun hat Lethem abermals eine Hommage an seinen Heimatort geschrieben, „Der Fall Brooklyn“ zeichnet ein Porträt des New Yorker Stadtteils von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Anstelle eines langen Erzählstrangs ist Lethems Buch mehr ein Wimmelbild quer durch die Zeiten. Prosaminiaturen wechseln sich mit Erzählungen ab, im Fokus steht dabei vor allem der Mythos des „wilden New York“. In den 1970ern stand Gewalt an der Tagesordnung: Schießereien zwischen Straßengangs, Überfälle, Diebstähle. Lethem, der diese Zeit in seiner Kindheit und Jugend miterlebt hat, hat den Brooklyner „Street Slang“ bestens im Ohr und kann mit haarsträubende Anekdoten aufwarten, die nichts verharmlosen und einen dennoch zum Schmunzeln bringen.

Wild wuchern
Penguin

7. ex aequo: Katharina Köller (10 Punkte)

„Wild wuchern“, Penguin

Die 1984 in Eisenstadt geborene Katharina Köller hat sich vor allem mit Theaterarbeiten einen Namen gemacht, ihre Stücke wurden an zahlreichen österreichischen Bühnen gespielt. 2021 legte sie ihren vielgelobten Debütroman „Was ich im Wasser sah“ vor, eine gewitzte Fantasy-Parabel auf die Zerstörung der Ozeane. Nun folgt „Wild wuchern“. Die Handlung setzt mit der panischen Flucht der Hauptfigur Marie ein, die sich von ihrem Ehemann verfolgt fühlt. Mit dem Zug ist sie aus Wien Richtung Tirol gefahren, und rennt nun einen dichten Gebirgswald hinauf, das Ziel: eine einsame Berghütte, in die sich ihre Cousine Johanna vor Jahren zurückgezogen hat. Diese wiederum ist alles andere als begeistert davon, dass Marie plötzlich vor ihrer Tür steht. Die Eremitin scheint zwischenmenschlichen Kontakt vollends verlernt zu haben und möchte ihre Ruhe, doch Marie lässt nicht locker. Köller lässt zwei Welten aneinander prallen: Auf der einen Seite die urbane, stylishe Vorzeigefrau, Typ „Everybody’s Darling“. Auf der anderen Seite die zähe Selbstversorgerin, die niemanden an sich ranlässt. Die einzige Gemeinsamkeit: beide haben Geheimnisse, die mit jedem Konflikt stärker an die Oberfläche drängen.

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Die Richtige
dtv

7. ex aequo: Martin Mosebach (10 Punkte) NEU

„Die Richtige“, dtv

Der Schriftsteller Martin Mosebach hat zunächst Jus studiert, sich schließlich aber doch fürs Schreiben entschieden: inzwischen prägt der 73jährige seit Jahrzehnten wesentlich die deutsche Gegenwartsliteratur. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, nicht zuletzt mit dem Büchner-Preis, der höchsten Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, die einem Autor zuerkannt werden kann. Seit Anfang der 1980er Jahre veröffentlicht er Romane, Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays, immer wieder gelingt es ihm darin die seelischen Abgründe des europäischen Bürgertums literarisch auszuloten. So auch in seinem jüngsten Roman: Ins Zentrum stellt er einen Künstler, der den Wert der Kunst über den des Menschen stellt, einen, der zumal Frauen fallen lässt, sobald sie seiner Kunst nicht mehr nützlich sind. Mosebachs Romanheld ist alles andere als ein Sympathieträger, vielmehr hat man es hier mit einer Figur zu tun, mit der die Wunschvorstellung, der Künstler möge ein integrer und moralisch gefestigter Charakter sein, bewusst herausgefordert wird.

Schöpfung
Rowohlt

7. ex aequo: Rachel Kushner (10 Punkte)

„See der Schöpfung“, Rowohlt
Übersetzung: Bettina Abarbanell

In der englischsprachigen Literatur zählt die Amerikanerin Rachel Kushner zu den Stars der Szene. Ihre Romane landen verlässlich auf den Shortlists der wichtigsten Literaturpreise, so auch ihre jüngstes Buch „See der Schöpfung“, das 2024 für den Booker Price nominiert war. Das Buch ist eine wilde Mischung aus Agententhriller und Klimaroman: Hauptfigur ist Sadie Smith, die von der CIA gefeuert wurde und nun ihre James Bond-Skills auf dem freien Markt anbietet. Ihr jüngster Undercover-Einsatz führt sie in das ländliche Südwestfrankreich, wo seit Jahren ein bitterer Kampf ums Wasser geführt wird. Ohne zu wissen, wer genau sie engagiert hat, soll Smith dort eine Gruppe von Klimaaktivisten infiltrieren, die verdächtigt wird den Bau eines riesigen Bassins sabotiert zu haben, das der Wasserversorgung der industriellen Landwirtschaft dienen soll. Smiths Auftrag lautet, die höchst angespannte Situation gewaltsam eskalieren zu lassen, um möglichst viele der Aktivisten möglichst lange hinter Gitter zu bringen. Die skrupellose Smith blickt mit Spott und Verachtung auf das antikapitalistische Aussteigerleben der Kommune, allen voran auf Theorien ihres Gurus, demzufolge der Neandertaler der bessere Mensch und der Homo Sapiens die Wurzel allen Übels sei - bis sie bemerkt, dass sie dem allen durchaus etwas abgewinnen kann. 

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