ORF Bestenliste Februar
ORF

Die besten 10 im Februar 2025

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Wolf Haas
Hanser

1. Wolf Haas (31 Punkte) NEU

Wackelkontakt“, Hanser

Er ist wohl der bei Kritik wie Leserschaft beliebteste Krimi-Autor Österreichs - und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt: Wolf Haas. Mit seinen Krimis rund um den Privatdetektiv Simon Brenner - einige davon wurden mit Josef Hader in der Paraderolle verfilmt - hat er sich Kultstatus erschrieben. Und das nicht in erster Linie der Inhalte wegen, sondern eines unnachahmlichen Sounds wegen, seiner Lust am Spiel mit Sprache wie Form. Mit „Wackelkontakt“ legt Haas nun wieder einen Krimi vor. Im Zentrum stehen diesmal zwei Hauptfiguren, die ein massives Fremdheitsgefühl der Welt gegenüber miteinander verbindet: Der eine ist Elektriker, Ex-Mafioso im Zeugenschutzprogramm, also unter falscher Identität lebend. Der andere Kunstpuzzleliebhaber und Trauerredenschreiber. Gleich am Anfang gibt es einen Toten, es wäre aber nicht Wolf Haas, wenn es ein konventioneller Krimi wäre. Es ist das Spiel mit den formalen Möglichkeiten der Literatur, das darin im Zentrum steht: Die Grundidee ist folgende: eine Romanfigur, die man dabei beobachtet, wie sie ein Buch liest: womit die zweite Erzählebene ins Spiel kommt. Man fängt an, ein Buch im Buch zu lesen. Dann schieben sich die unterschiedlichen Handlungsstränge und Realitäten zunehmend ineinander. Der postmoderne Trick vom Text im Text wird hier lustvoll auf die Spitze getrieben, Fakt und Fiktion durcheinandergewirbelt. Puzzle für Puzzle entwickelt sich ‚Wackelkontakt’ zu einer rasant-gewitzten Studie des menschlichen Bemühens, sich die Welt zu erklären und damit erträglicher zu machen - vergeblich, versteht sich.

Mehr dazu auf Ö1.orf.at und sound.orf.at

Halbe Leben
Zsolnay

2. Susanne Gregor (25 Punkte) NEU

Halbe Leben“, Zsolnay

Sie hat als Kind mit ihren Eltern die Slowakei im Jahr 1989 verlassen und ist nach Österreich gekommen. Heute zählt Susanne Gregor, neben Zdenka Becker, zu den prominentesten Vertreterinnen der österreichisch-slowakischen Literatur. Ausgehend von ihrer eigenen Migrationserfahrung setzt sich Gregor mit dem Fremdsein, dem Ankommen, dem Neuanfang auseinander. Das akribische Studium zwischenmenschlicher Beziehungen markiert das Herz ihrer Literatur: anhand von sorgfältig gestalteten Figurenkonstellationen gelingt es ihr, grundsätzliche Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verhandeln. In ihrem neuen Roman „Halbe Leben“ nimmt sich Susanne Gregor eines der dringlichsten Themen unserer Zeit an: der Pflege. Im Zentrum stehen zwei Frauen: Klara, die mit Job, Familie und der Pflege ihrer kranken Mutter fast auf ein Burnout zugerast wäre. Und Paulína, die von Klara als Pflegerin für ihre Mutter eingestellt wurde und so ihre Familie in der Slowakei ernährt. Das Verhältnis der beiden ist von Dankbarkeit und Anerkennung geprägt, gleichzeitig: von radikaler Ungleichheit. Ein ebenso berührender wie scharfsinniger Roman, der nicht auf ein Urteil, sondern einen Verständnisprozess abzielt. 

Gesammelte Gedichte
Suhrkamp

3. Friederike Mayröcker (20 Punkte)

"Gesammelte Gedichte 2004–2021", Suhrkamp

Mindestens 120 Jahre alt wollte sie werden: die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Am 20.12. wäre die 2021 verstorbene Dichterin 100 Jahre alt geworden. Ihr Werk umfasst Tausende Seiten und zählt zum Eigensinnigsten und Gewichtigsten des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das ihre Gedichte der Jahre 2004-2021 zusammenfasst. Leben und Schreiben waren im Falle Mayröckers stets aufs Engste miteinander verwoben. Eine sehr grundlegende Rebellion prägt ihr Schreiben von Beginn an, das kommt auch in ihren Gedichten zum Ausdruck. An diesem soeben erschienenen Band kann man auch die besondere Gattung gut studieren, die Friederike Mayröcker ersonnen hat, in der Prosa, Lyrik und poetologische Reflexion verschmelzen. Auch ihre nicht zu bändigende Liebe zum Leben, an dem sie hing bis zuletzt, wird darin sichtbar. In einem der Gedichte ist zu lesen: „ich weidete in Poesie nämlich ich war nicht v. dieser Welt.“

Vorbestimmung
Hanser

4. ex aequo: Jonas Lüscher (14 Punkte) NEU

Verzauberte Vorbestimmung“, Hanser

Mit der Novelle „Frühling der Barbaren“ landete der gebürtige Schweizer Jonas Lüscher 2013 einen Riesenerfolg. Das Buch wurde ein Bestseller und war sowohl für den Schweizer als auch für den Deutschen Buchpreis nominiert, Lüscher selbst wurde von der Kritik als „Entdeckung des Jahres“ gefeiert. 2017 konnte er mit seinem Romandebut „Kraft“ an diesen Erfolg anschließen und wurde mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Nach dieser längeren Pause, die auch im Zusammenhang mit einer schweren Covid-Erkrankung des Autors stand, wurde der neue Roman in der Szene schon mit Freude erwartet. In „Verzauberte Vorbestimmung“ bleibt Lüscher seiner Marke treu: pointierte Gesellschaftspsychogramme voll bösem Witz. Alles dreht sich darin um die Beziehung zwischen Mensch und Technik: ein algerischer Soldat erlebt den ersten deutschen Giftgasanschlag mit, dreht um und verlässt das Schlachtfeld. In Kairo beobachtet eine Stand-up-Comedian, wie eine Androidin über ihre Witze lacht. Und ein von einem automatischen Webstuhl ersetzter Weber drischt mit einem Vorschlaghammer auf das Gerät ein. Angesiedelt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigt dieser Roman, wie prägend diese Konflikte für die menschliche Konstitution des Menschen waren und sind.

Herzflorett
Luchterhand

4. ex aequo: Marica Bodrožić (14 Punkte)

Das Herzflorett“, Luchterhand

Marica Bodrožić fügt mit ihrem Roman „Das Herzflorett“ ihrem autobiographisch genährten Werk eine weitere, sprachlich wie inhaltlich von großer Dringlichkeit zeugende Spielart hinzu. Erzählt wird in „Das Herzflorett“ von einem Mädchen, das sich von seiner Herkunft emanzipiert und diese doch tief in sich trägt: im Guten wie im Schlechten. Pepsi, so heißt die Hauptfigur, hat Eltern, die in Hessen arbeiten, sie selbst wächst in Dalmatien, bei ihrem Großvater auf. Auch andere Verwandten kommen ins Spiel, gemeinsam ist allen: das Mädchen wird behandelt wie eine Fremde. Schließlich wird sie von ihren Eltern nach Deutschland geholt, das lange Zeit ihr Traum war. Die Realität: der Vater Alkoholiker, die Mutter eine vom Leben hart gewordene Frau. Und doch gelingt es dem Mädchen die ihr von ihrer Familie gesetzten Grenzen zu überwinden. Das Beschwören der Möglichkeit, Unglück mittels Sprache, mittels Literatur zu überwinden, ist auch in diesem Text, wie im gesamten Werk Marica Bodrožićs, von zentraler Bedeutung. Ein Hohelied auf das Leben, ein Hohelied auf die Kraft der Literatur.

Schnee von gestern
Suhrkamp

4. ex aequo: Peter Handke (14 Punkte) NEU

Schnee von gestern, Schnee von morgen“, Suhrkamp

An die 100 Bücher hat Peter Handke bislang geschrieben, und diesem Ruf als Vielschreiber bleibt der Literaturnobelpreisträger auch jenseits des 80. Lebensjahrs treu. Erst vor knapp einem Jahr ist „Die Ballade des letzten Gastes“ erschienen, nun liegt wieder ein neues Buch vor. „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ heißt der rund 70 Seiten umfassende Text, der als Bühnenstück für einen Sprecher ausgewiesen wird und sich perfekt in das Spätwerk des großen Autors eingliedert. Geschichten im eigentlichen Sinne hat dieser zuletzt nämlich nicht mehr geschrieben, vielmehr waren die jüngsten Veröffentlichungen Zwiegespräche mit sich selbst. Auch „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ ist im Grunde genommen eine sich immer wieder selbst befragende und hinterfragende Betrachtung der Weltlage, von Klimakrise über Identitätspolitik bis hin zu Rechtspopulisten, aber eben in Handke’scher Manier: „Ihr Schreier schreit, weil ihr euch durchschwindeln wollt, und ihr Flüsterer flüstert, weil ihr euch durchgeschwindelt habt – für den Moment.“ Dabei zeigt sich Peter Handke von seiner schelmischen Seite, blödelt mit Wörtern und Redewendungen und stellt auch seine Fähigkeit zur Selbstironie unter Beweis, etwa wenn die Frage „Wozu bin ich geboren?“ mit „Zum Haselstockschnitzer“ beantwortet wird.

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Ich tat die Augen auf
dtv

7. Mascha Kaléko (12 Punkte) NEU

Ich tat die Augen auf und sah das Helle“, dtv

Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Es sind die wohl berühmtesten Gedichtzeilen der aus Galizien stammenden Berliner Dichterin Mascha Kaléko, deren Werk einige Zeit lang in Vergessenheit geraten ist. In den 1930er-Jahren avancierte Kaléko mit ihrer Alltagspoesie neben Joachim Ringelnatz und Erich Kästner zur wichtigsten poetischen Stimme der Neuen Sachlichkeit. 1938 konnte die jüdische Dichterin buchstäblich in letzter Sekunde vor den Nationalsozialisten fliehen und emigrierte mit Mann und Kind in die USA. Erst in den 1950er-Jahren, bei einem Besuch in der alten Heimat, begann sich die literarische Öffentlichkeit wieder für Mascha Kaléko zu interessieren, und ihre Gedichte wurden, nachdem sie im NS-Reich verboten waren, wieder gedruckt. Nun, im 50. Todesjahr der Mascha Kaléko, scheint ihr Werk eine neue Renaissance zu erleben. Bestsellerautor Daniel Kehlmann hat nun eine Auswahl von Lyrik und Prosatexten der 1975 im Exil verstorbenen Autorin publiziert. „Ich tat die Augen auf und sah das Helle“ versammelt Lyrik aus allen Schaffensphasen: Großstadtgedichte, Sozialkritisches, Liebesgedichte, Lyrik aus der Emigration, über das Muttersein, Tod und Einsamkeit. Was für ein Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie! (Daniel Kehlmann)

Umlaufbahnen
dtv

9. Samantha Harvey (9 Punkte)

Umlaufbahnen“, dtv
Übersetzung: Julia Wolf

Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ ist die britische Schriftstellerin Samantha Harvey Anfang November mit dem Booker Price ausgezeichnet worden, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn der Schauplatz des Buchs liegt nicht auf dieser Erde, sondern im All. Vier Astronauten und zwei Astronautinnen aus unterschiedlichen Ländern leben gemeinsam auf einer internationalen Raumstation, die den Planeten Erde mit 27.000 km/h umkreist. Zeitlich beschränkt sich der Roman auf exakt 24 Stunden, was auf der Station 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge bedeutet. Nacheinander taucht Harvey in die Gedanken ihrer sechs Figuren ein, die einen ganz individuellen und gleichzeitig allgemein menschlichen Blick auf ihren Heimatplaneten werfen. Handlung gibt es kaum, der Roman lebt von den gewaltigen Bildern, die ein solches Setting möglich macht: etwa wenn die Insassen der Raumkapsel minutiös mitansehen können, wie sich ein Taifun auf der Erde aufbaut, um sich schließlich mit voller Kraft auf den Philippinen zu entladen.  

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Piksi
Voland & Quist

10. ex aequo: Barbi Marković (8 Punkte) NEU

Piksi-Buch“, Voland & Quist

In der hiesigen Literaturszene wird Barbi Marković schon seit ihrem Debütroman, dem Thomas Bernhard-Remix „Ausgehen“, für ihren eigenwilligen Sprachwitz verehrt. Am deutschen Markt galt die 1980 in Belgrad geborene und seit 2006 in Wien lebende Schriftstellerin lange als Geheimtipp. Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2024 für den Erzählband „Mini Horror“ hat nun auch der gesamte deutsche Sprachraum verstanden: Barbi Marković zählt zu originellsten Stimmen der Gegenwartsliteratur. Davon kann man sich auch mit ihrer jüngsten Veröffentlichung überzeugen, dem „Piksi-Buch“. Das rund 100 Seiten umfassende Büchlein ist Teil der Fußball-Reihe des Voland und Quist-Verlags, doch statt ein Loblied auf irgendeinen Lieblingsspieler zu singen, erzählt Marković die autofiktionale Leidensgeschichte einer unfreiwillig am Fußballplatz eines drittklassigen Belgrader Vereins verbrachten Kindheit. Konsequent im Stil einer Sportreportage gehalten, gelingt es Markovic dabei die Zerfallsgeschichte Jugoslawiens so klug und gleichzeitig so absurd-witzig mit Fußball zu verbinden, dass man am Schluss betroffen feststellen muss: Diego Maradona hat einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Untergang des Vielvölkerstaats geleistet. 

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Kalte Füße
Wagenbach

10. ex aequo: Francesca Melandri (8 Punkte)

Kalte Füße“, Wagenbach
Übersetzung: Esther Hansen

Francesca Melandri ist als Schriftstellerin in Italien vor allem dafür bekannt, dass sie in ihren Romanen die jüngere Geschichte ihrer Heimat aufgreift und sich gegen nichts Geringeres als gegen die Verdrehung historischer Ereignisse wendet. In ihrem Buch „Kalte Füße“ thematisiert sie die Rolle ihres Vaters, der als Soldat während des Zweiten Weltkriegs Teil der faschistischen Besatzungsmacht unter Benito Mussolini war. Das Werk ist als ein Dialog mit ihrem Vater aufgebaut und hinterfragt kritisch den Opfermythos, den Italien bis heute in Bezug auf seine Rolle im Faschismus und der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich pflegt. Melandri fordert eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, die Italiens Verantwortung als Besatzungsmacht anerkennt.

  

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