Die besten 10 im Jänner 2025
1. Samantha Harvey (46 Punkte)
„Umlaufbahnen“, dtv
Übersetzung: Julia Wolf
Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ ist die britische Schriftstellerin Samantha Harvey Anfang November mit dem Booker Price ausgezeichnet worden, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn der Schauplatz des Buchs liegt nicht auf dieser Erde, sondern im All. Vier Astronauten und zwei Astronautinnen aus unterschiedlichen Ländern leben gemeinsam auf einer internationalen Raumstation, die den Planeten Erde mit 27.000 km/h umkreist. Zeitlich beschränkt sich der Roman auf exakt 24 Stunden, was auf der Station 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge bedeutet. Nacheinander taucht Harvey in die Gedanken ihrer sechs Figuren ein, die einen ganz individuellen und gleichzeitig allgemein menschlichen Blick auf ihren Heimatplaneten werfen. Handlung gibt es kaum, der Roman lebt von den gewaltigen Bildern, die ein solches Setting möglich macht: etwa wenn die Insassen der Raumkapsel minutiös mitansehen können, wie sich ein Taifun auf der Erde aufbaut, um sich schließlich mit voller Kraft auf den Philippinen zu entladen.
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2. Friederike Mayröcker (31 Punkte) NEU
"Gesammelte Gedichte 2004–2021", Suhrkamp
Mindestens 120 Jahre alt wollte sie werden: die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Am 20.12. wäre die 2021 verstorbene Dichterin 100 Jahre alt geworden. Ihr Werk umfasst Tausende Seiten und zählt zum Eigensinnigsten und Gewichtigsten des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das ihre Gedichte der Jahre 2004-2021 zusammenfasst. Leben und Schreiben waren im Falle Mayröckers stets aufs Engste miteinander verwoben. Eine sehr grundlegende Rebellion prägt ihr Schreiben von Beginn an, das kommt auch in ihren Gedichten zum Ausdruck. An diesem soeben erschienenen Band kann man auch die besondere Gattung gut studieren, die Friederike Mayröcker ersonnen hat, in der Prosa, Lyrik und poetologische Reflexion verschmelzen. Auch ihre nicht zu bändigende Liebe zum Leben, an dem sie hing bis zuletzt, wird darin sichtbar. In einem der Gedichte ist zu lesen: „ich weidete in Poesie nämlich ich war nicht v. dieser Welt.“
3. ex aequo: Betty Paoli (22 Punkte)
„Ich bin nicht von der Zeitlichkeit!“, Residenz
Betty Paoli ist in vielerlei Hinsicht eine Entdeckung: „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit“ versammelt neben der Novelle „Anna“ eine hervorragende Auswahl an Gedichten, Kritiken, Essays und Feuilletons, herausgeben von Karin S. Wozonig. Die überzeugte Humanistin Betty Paoli (geboren 1814, gestorben 1894) schrieb intensiv über Liebe und weibliches Begehren in ihrer autobiografisch grundierten Lyrik. Gelehrt und mit kritischem Blick übertrug sie die Unterdrückung der Frau und die Heuchelei der Männer in die subtile Sprache der Poesie. Oft ist es ein Ich, das zu einem Du spricht – von Liebesglück und -leid, sich nach romantischer Erfüllung sehnt und Tod erlebt, wie in dem Langgedicht „Briefe an einen Verstorbenen“. Den Freunden Anastasius Grün und Adalbert Stifter, der Freundin Ida und der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff widmete Betty Paoli Gedichte. Das unbeachtete Werk letzterer hob sie in einer Rezension hervor, begleitet von einer scharfzüngigen Abhandlung über die gefällige Literaturkritik ihrer Zeit. „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit" zeigt einen enormen Reichtum an literarischem Können, Wissen und Erkenntnis: ein von der Literaturwissenschaftlerin Karin S.Wozonig mit guten Gründen über viele Jahre geborgener Schatz.
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3. ex aequo: George Saunders (22 Punkte)
„Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“, Luchterhand
Übersetzung: Frank Heibert
Der Amerikaner George Saunders hat sich vor allem als Autor genialer Kurzgeschichten einen Namen gemacht, nach „Lincoln in Bardo“ legt er nun seinen zweiten Roman vor. Mit „Die kurze und schreckliche Gesellschaft von Phil“ versucht sich Saunders am Genre der politischen Parabel. Konkret geht es darin um einen Grenzstreit zwischen zwei fiktiven Ländern, die von alienartigen Pflanzen-Maschinen-Mischwesen bevölkert werden: Innen-Horner und Außen-Horner. Innen-Horner ist ein ausgesprochen winziges Land, so winzig, dass darin nur jeweils ein Bewohner Platz hat. Die restlichen Bewohner Innen-Horners warten in der Kurzzeitaufenthaltszone Außen-Horners darauf, bis sie dran sind. Dieses komplizierte diplomatische Konstrukt gerät in die Krise, als Innen-Horner plötzlich schrumpft und der aktuelle Bewohner zum Teil nach Außen-Horner hineinragt – was die Außen-Horneriten als Invasion auffassen. Hier kommt der titelgebende Phil ins Spiel, seines Zeichens „Sondergrenzeinsatzkoordinator“ von Außen-Horner. Er nutzt die aufgeheizte Stimmung, um mit nationalistischer Hetz-Rhetorik auf der Karriereleiter steil nach oben zu klettern.
5. ex aequo: Francesca Melandri (15 Punkte)
„Kalte Füße“, Wagenbach
Übersetzung: Esther Hansen
Francesca Melandri ist als Schriftstellerin in Italien vor allem dafür bekannt, dass sie in ihren Romanen die jüngere Geschichte ihrer Heimat aufgreift und sich gegen nichts Geringeres als gegen die Verdrehung historischer Ereignisse wendet. In ihrem Buch „Kalte Füße“ thematisiert sie die Rolle ihres Vaters, der als Soldat während des Zweiten Weltkriegs Teil der faschistischen Besatzungsmacht unter Benito Mussolini war. Das Werk ist als ein Dialog mit ihrem Vater aufgebaut und hinterfragt kritisch den Opfermythos, den Italien bis heute in Bezug auf seine Rolle im Faschismus und der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich pflegt. Melandri fordert eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, die Italiens Verantwortung als Besatzungsmacht anerkennt.
5. ex aequo: Maria Stepanova (15 Punkte)
„Der Absprung“, Suhrkamp
Übersetzung: Olga Radetzkaja
Maria Stepanova gilt als die erfolgreichste russische Lyrikerin der Gegenwart. Eine lange Liste internationaler Auszeichnungen ziert ihre Biografie, zuletzt etwa der Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung im Jahr 2023. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 entschied sich Stepanova Moskau zu verlassen, sie lebt heute in Paris. Um dieses Exil kreist auch ihr Roman „Der Absprung“, in dem eine Schriftstellerin namens M. gerade mit dem Zug unterwegs zu einer Lesung ist. Das Land, aus dem sie stammt, führt Krieg mit einem anderen benachbarten Land, doch im „Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen“, wie es im ersten Satz des Buchs lakonisch heißt. Diese Gleichzeitigkeit macht M. schwer zu schaffen. Sie fühlt sich gelähmt, sprachlos, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie Glück hatte: weil sie weiter ihrer Arbeit nachgehen kann, sich ein schönes Haus in einem neuen Land leisten kann und nicht in Lebensgefahr schwebt. Plötzlich wird ihre Reise von eine Bahnstreik unterbrochen, strandet in einer fremden Stadt. Anstatt sich zu ärgern, freut sich M. fast ein bisschen über diese Unterbrechung, die sich bald in ein Abenteuer verwandelt. Was als autofiktionale Erzählung beginnt, kippt ins Surreale, Märchenhafte: Tarotkarten, ein Zirkusdirektor – und auf einmal so etwas wie die Möglichkeit zum Absprung und die Hoffnung auf eine andere Zukunft.
7. Tore Renberg (14 Punkte)
„Die Lungenschwimmprobe“, Luchterhand
In Norwegen zählt der 1972 geborene Tore Renberg zu den erfolgreichsten Schriftstellern seiner Generation und auch im deutschsprachigen Raum ist Renberg längst kein Unbekannter mehr. Sein neuer Roman trägt den kuriosen Titel „Lungenschwimmprobe“ und bezieht sich auf ein Experiment, mit dem festgestellt werden kann, ob ein Säugling vor oder nach der Geburt gestorben ist: schwimmt die obduzierte Lunge im Wasser, hatte das Kind bereits einen Atemzug vollzogen und ist damit nach der Geburt gestorben. Sinkt die Lunge auf den Boden, wurde es bereits totgeboren. Die Lungenschwimmprobe gilt heute als Beginn der modernen Gerichtsmedizin, denn der Test kam erstmals im Rahmen einer Anklage wegen Kindesmords zum Einsatz, und zwar im Jahr 1681 in Sachsen: Die 15-jährige Anna Voigt, Tochter eines Gutsbesitzers, wurde damals verdächtigt ihr Neugeborenes getötet zu haben. Mit großer erzählerischer Präzision hat Tore Renberg die in dem Gerichtsfall involvierten historischen Persönlichkeiten wiederauferstehen lassen und liefert dabei ein eindrückliches Bild jener Zeit zwischen Mittelalter und Aufklärung, in der Kirche und Wissenschaft folgenreich aufeinanderprallten.
8. Daniela Seel (12 Punkte)
„Nach Eden“, Suhrkamp
Die vielfach ausgezeichnete Berliner Autorin, Übersetzerin und Mitbegründerin des renommierten Lyrik-Verlags kookbooks Daniela Seel hat einen neuen Gedichtband vorgelegt, erschienen unter dem Titel „Nach Eden“. In 76 Einzeltexten, versammelt zu einem Langgedicht, das zwischen Prosaminiaturen, Lyrik und Essay oszilliert, führt sie die Motive des Vorgängerbandes „Auszug aus Eden“ fort, widmet sich aber gänzlich neuen Themen. Die Beschäftigung mit Mutterschaft, Geburt, Tod und Totgeburt beginnt mit einem Prolog der Urfrau, Eva, die, ganz im kantischen Sinn, dem Paradies aus freien Stücken den Rücken kehrt. Erkenntnisgewinn steht bei ihr an oberster Stelle. Ein weiterer großer Themenkomplex in Seels Lyrikband ist die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Von gejagten Walen, von Tiefseegärten voller Mikroplastik ist da die Rede. Wie gebetsartige Anrufungen lesen sich diese Stellen. Auf der Suche nach einer neuen poetischen Sprache verleiht Daniela Seel ihren Gedichten einen magischen Klang. „Ein ganz großer Wurf“ urteilt Deutschlandfunk Kultur.
9. Marica Bodrožić (11 Punkte)
„Das Herzflorett“, Luchterhand
Marica Bodrožić fügt mit ihrem Roman „Das Herzflorett“ ihrem autobiographisch genährten Werk eine weitere, sprachlich wie inhaltlich von großer Dringlichkeit zeugende Spielart hinzu. Erzählt wird in „Das Herzflorett“ von einem Mädchen, das sich von seiner Herkunft emanzipiert und diese doch tief in sich trägt: im Guten wie im Schlechten. Pepsi, so heißt die Hauptfigur, hat Eltern, die in Hessen arbeiten, sie selbst wächst in Dalmatien, bei ihrem Großvater auf. Auch andere Verwandten kommen ins Spiel, gemeinsam ist allen: das Mädchen wird behandelt wie eine Fremde. Schließlich wird sie von ihren Eltern nach Deutschland geholt, das lange Zeit ihr Traum war. Die Realität: der Vater Alkoholiker, die Mutter eine vom Leben hart gewordene Frau. Und doch gelingt es dem Mädchen die ihr von ihrer Familie gesetzten Grenzen zu überwinden. Das Beschwören der Möglichkeit, Unglück mittels Sprache, mittels Literatur zu überwinden, ist auch in diesem Text, wie im gesamten Werk Marica Bodrožićs, von zentraler Bedeutung. Ein Hohelied auf das Leben, ein Hohelied auf die Kraft der Literatur.