
Die besten 10 im Jahr 2025

1. Martin Prinz (86 Punkte)
„Die letzten Tage“, Jung und Jung
Heuer jährt sich das Ende des 2. Weltkriegs zum 80. Mal. Die letzten Wochen des sogenannten Dritten Reichs waren bekanntlich von Chaos und Gewaltexzessen geprägt. Mit einem dieser sogenannten „Endphaseverbrechen“ hat sich der österreichische Autor Martin Prinz in seinem neuen Roman „Die letzten Tage“ beschäftigt. Die Hauptrolle spielt dabei ein Aktenberg aus dem Wiener Stadt und Landesarchiv: Akribisch ist darin der Prozess gegen Johann Braun, den NSDAP-Kreisleiter Neunkirchen, dokumentiert. Im April 1945 errichtete dieser in der Region Rax/Schneeberg ein Standgericht, als dessen selbsternannter Richter er insgesamt 29 Menschen exekutieren ließ. Willkürlich entschied der gelernte Bäcker-Gehilfe mit seinen Schergen über Leben und Tod, machte Jagd auf Fahnenflüchtige und sonstige politisch unliebsame Personen – und dass, während die russische Armee stündlich vorrückte und sich der Untergang des deutschen Reichs überdeutlich abzeichnete. Bewusst hat Prinz die Geschichte nah an den historischen Gerichtsakten erzählt, um so die Sprache, mit der die Täter ihr Vorgehen rechtfertigen, vorzuführen. Der Roman zeigt eindrücklich, wie sich diese in Passivkonstruktionen und Konjunktiven versuchen aus der Verantwortung zu ziehen und bis zuletzt überzeugt davon sind, bloß ihre Pflicht getan zu haben.

2. Zach Williams (66 Punkte)
„Es werden schöne Tage kommen“, dtv
Übersetzung: Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz
In den USA gilt Zach Williams als die Entdeckung der letzten Jahre. Zwar ist der 1978 geborene Williams gewissermaßen ein Spätzünder – mit über 40 veröffentlichte er seinen ersten Text – seither geht es mit seiner Karriere jedoch steil bergauf. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in den renommierten Zeitschriften „Paris Review“ und „The New Yorker“, 2024 erschien schließlich sein erster Erzählband. „Es werden schöne Tage kommen“ hat am amerikanischen Buchmarkt einen regelrechten Hype ausgelöst, auch, weil der ehemalige US-Präsident Barack Obama das Buch auf seine „Summer Reading List“ gesetzt hat. Die deutsche Übersetzung von Clemens Setz und Bettina Abarbanell sorgt im deutschsprachigen Feuilleton für nicht weniger Euphorie. Im Zentrum von Williams‘ Geschichten steht das Unheimliche: der scheinbar normale Alltag seiner Figuren wird durch groteske Ereignisse gestört, sie werden durch seltsame Situationen aus ihren vertrauten Bahnen geworfen. Da wächst etwa einem Kind ein zusätzlicher Zeh und der Vater verliert sich in Selbstvorwürfen. Ein andres Kind hört einfach auf zu altern, während der Rest der Familie dem Zahn der Zeit ausgesetzt bleibt. Einige Figuren finden sich plötzlich in dystopischen Szenarien wieder, wie einem leeren Bürokomplex, um den herum ein Schneesturm tobt. Überall lauert eine diffuse Gefahr, ein nicht klar zu benennbares Unbehagen zieht sich durch alle Geschichten, einzig der absurde Witz der Erzählungen bringt Erleichterung. Ein fulminantes Debüt, mit dem Williams einerseits unsere immer skurriler werdende Gegenwart einfängt und sich gleichzeitig in eine Tradition einreiht, die von E. T. A. Hoffmann bis David Lynch reicht.

3. Dimitré Dinev (63 Punkte)
„Zeit der Mutigen“, Kein & Aber
Als illegaler Flüchtling kam Dimitré Dinev 1990 nach Österreich, hielt sich als Student mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er, mit seinem Erstlingsroman „Engelszungen“ einen Bestseller landete. Seither ist der Autor aus der heimischen Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken. An seinem jüngsten Buch hat Dinev 13 Jahre gearbeitet: Auf mehr als 1000 Seiten erzählt „Zeit der Mutigen“ von individuellen Schicksalen im Schatten der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Beginnend am Vorabend des 1. Weltkriegs, über die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre, den Aufstieg der Nationalsozialisten, den 2. Weltkrieg, dem kommunistischen Totalitarismus Osteuropas und seinem Nachwirken bis in die 1990er-Jahre. Was die Erzählfäden miteinander verbindet, ist die Donau, an deren Ufern die Romanhandlung über weite Strecken verortet ist. Seine Protagonisten sind Einzelgänger und Außenseiter, eigensinnig und widerspenstig und eben mutig, sei es gegenüber den autoritären Machthabern oder der Mehrheitsgesellschaft in den totalitären Regimen, in den Lagern oder im Krieg. Im Roman heißt es einmal: „Die stärkste Kraft, die wir besitzen, ist die Vorstellungskraft“. Dimitré Dinev ist in jedem Fall einer ihrer talentiertesten Beschwörer.

4. Friederike Mayröcker (62 Punkte)
"Gesammelte Gedichte 2004–2021", Suhrkamp
Mindestens 120 Jahre alt wollte sie werden: die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Am 20.12. wäre die 2021 verstorbene Dichterin 100 Jahre alt geworden. Ihr Werk umfasst Tausende Seiten und zählt zum Eigensinnigsten und Gewichtigsten des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das ihre Gedichte der Jahre 2004-2021 zusammenfasst. Leben und Schreiben waren im Falle Mayröckers stets aufs Engste miteinander verwoben. Eine sehr grundlegende Rebellion prägt ihr Schreiben von Beginn an, das kommt auch in ihren Gedichten zum Ausdruck. An diesem soeben erschienenen Band kann man auch die besondere Gattung gut studieren, die Friederike Mayröcker ersonnen hat, in der Prosa, Lyrik und poetologische Reflexion verschmelzen. Auch ihre nicht zu bändigende Liebe zum Leben, an dem sie hing bis zuletzt, wird darin sichtbar. In einem der Gedichte ist zu lesen: „ich weidete in Poesie nämlich ich war nicht v. dieser Welt.“

5. Marko Dinić (61 Punkte)
„Buch der Gesichter“, Zsolnay
Mit seinem Debütroman „Die guten Tage“ hat der serbische Autor Marko Dinić im Jahr 2019 einen großen Erfolg gelandet. Mit Spannung hat man seither auf seinen zweiten Roman gewartet, der nun unter dem Titel „Buch der Gesichter“ erschienen ist und prompt für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Dinić, der 1988 in Belgrad geboren wurde und seit seinem 21. Lebensjahr in Österreich lebt, hat sich darin viel vorgenommen: das Buch ist eine Art Wimmelbild der serbischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und spannt einen Bogen von der Zeit der Jahrhundertwende bis hin zum Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren. Das Herzstück des Romans bildet dabei das Jahr 1941, das heißt jenes Jahr, als die deutsche Wehrmacht in das damalige Königreich Jugoslawien einmarschierte, den Staat zerstückelte und in Belgrad eine Marionettenregierung einsetzte. Binnen kurzer Zeit wurde die jüdische Bevölkerung deportiert oder ermordet und das Land für „judenfrei“ erklärt, während der Rest in einem Bürgerkrieg zwischen Partisanen, Kollaborateuren, Ustaše und königstreuen Četniks versank. In diesem Chaos folgt der Roman der Geschichte von Isak Ras, dem womöglich letzten Juden von Belgrad, der seinerseits auf der Suche nach einem rätselhaften jüdischen Gebetsbuch ist, das seine verschwundene Mutter vor Jahrzehnten geerbt hatte. Diese sogenannte „Hagadda“ bildet den roten Faden durch die zahlreichen Handlungsstränge, Perspektiven und Zeitebenen, die sich immer mehr zu einem faszinierenden literarischen Labyrinth verdichten, durch das man sich beim Lesen begeistert seinen Weg bahnt.

6. Anna Weidenholzer (59 Punkte)
„Hier treibt mein Kartoffelherz“, Matthes & Seitz Berlin
Nach der Veröffentlichung ihres Debüts „Der Platz des Hundes“ im Jahr 2010 wurde die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer zu einer der großen Nachwuchshoffnungen der österreichischen Literaturszene erklärt. In kurzen Abständen folgten gleich drei Romane, die vom deutschsprachigen Feuilleton umjubelt und mit Nominierungen für die großen deutschen Buchpreise belohnt wurden. Nach einer mehr als 6-jährigen Pause macht Weidenholzer mit einem neuen Erzählband auf sich aufmerksam, er trägt den Titel „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Der Band ist eine Ode an die kurze Form: Gegliedert in 4 den Jahreszeiten nachempfundene Kapitel wechseln sich längere Erzählungen mit nur wenigen Sätzen umfassenden Skizzen ab, mal werden Geschichten erzählt, mal Beobachtungen festgehalten. Weidenholzers Figuren sind zartbesaitete Wesen mit rissigen Nervenkostümen, die jede Kleinigkeit aus der Bahn zu werfen droht. Da gibt es den spätherbstlichen Feriengast, der dann kommt, wenn alle weg sind, und auf Veränderungen geradezu allergisch reagiert. Oder die Umweltaktivistin, die sich so manisch für die Baumfürsorge einsetzt, dass man sich zu fragen beginnt, wer hier eigentlich Schutz braucht. Die hochverdichteten Texte lassen sich eigenständig lesen und sind doch lose miteinander verbunden, ähnlich einem literarischen Wimmelbild, wo jede Szene in einem größeren Ganzen aufgeht.
Mehr dazu auf oe1.orf.at

7. Nava Ebrahimi (58 Punkte)
„Und Federn überall“, Luchterhand
Spätestens seit der Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis im Jahr 2021 gilt die in Graz lebende Schriftstellerin Nava Ebrahimi als Fixstern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Nun liegt der dritte Roman der iranisch-deutschen Autorin vor, mit dem sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist: „Und Federn überall“ kreist um die Frage: Wie bleiben wir menschlich, wenn das Leben immer härter wird? Dreh- und Angelpunkt des Romans ist allerdings ein Tier, und zwar das Huhn. Nava Ebrahimi schildert das Leben von Menschen in einer Kleinstadt, deren wichtigster Arbeitgeber ein Schlachtbetrieb ist. Dass die Hühnerbrust durch eine Krankheit verhärtet, sie wertlos macht, ist hier Problem und Metapher. Jeder muss Federn lassen, für sein kleines Glück kämpfen in diesem Gesellschaftsroman: Die alleinerziehende Fließbandarbeiterin. Der Manager mit weichem Kern. Der blinde Dichter aus Afghanistan. Ebrahimi erzählt einen Tag aus deren unterschiedlichen Perspektiven. Ein Roman voll feiner Ironie, geschrieben mit klarem, humanem Blick.
Mehr auf fm4.orf.at

8. Verena Stauffer (56 Punkte)
„Kiki Beach“, kookbooks
Im deutschsprachigen Literaturbetrieb ist die zeitgenössische Lyrik zu einem absoluten Nischenprodukt geworden. Nur wenigen Autoren und Autorinnen gelingt es heutzutage mit Lyrikbänden größere Resonanz zu erzeugen, eine von ihnen: die 1978 in Oberösterreich geborene Schriftstellerin Verena Stauffer. Bereits ihr Band „Ousia“ hat 2020 für Aufsehen gesorgt, nicht zuletzt durch die Nominierung für den Österreichischen Buchpreis. Nun legt sie ihren neuen Gedichtband „Kiki Beach“ vor. Stauffer widmet sich darin einem Genre, dass in den vergangenen Jahrzehnten völlig aus der Mode gekommen ist, weil es oft als „Frauenliteratur“ abgestempelt wurde: die Liebeslyrik. Behutsam wird in „Kiki Beach“ das Genre ins Jetzt und Heute navigiert, ohne jemals den gigantischen historischen Referenzraum zu vergessen, aus dem es sich speist. Lustvoll spielt Stauffer mit dem modernen Dating-Jargon: Da wird auf „Situationships“ gesegelt, da wird gebannt auf die verheißungsvollen „Screens“ gestarrt, auf denen sich Liebesbeziehungen durch die Popularität von Online-Dating abspielen. Aber auch Aphrodite lässt grüßen, oder der Phallus des Uranos, wenn auch in Gestalt eines Dildos namens „Randy Rabbit“. Weniger als um die eine große Liebe geht es in Stauffers Gedichten um die Magie, die hinter jedem Kennenlernen steckt. Jenseits der Euphorie und den Schmetterlingen im Bauch werden zwischenmenschliche Beziehungen auch zu einem Schutzschild gegen das Chaos des Weltgeschehens.

9. Samantha Harvey (55 Punkte)
„Umlaufbahnen“, dtv
Übersetzung: Julia Wolf
Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ ist die britische Schriftstellerin Samantha Harvey Anfang November mit dem Booker Price ausgezeichnet worden, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn der Schauplatz des Buchs liegt nicht auf dieser Erde, sondern im All. Vier Astronauten und zwei Astronautinnen aus unterschiedlichen Ländern leben gemeinsam auf einer internationalen Raumstation, die den Planeten Erde mit 27.000 km/h umkreist. Zeitlich beschränkt sich der Roman auf exakt 24 Stunden, was auf der Station 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge bedeutet. Nacheinander taucht Harvey in die Gedanken ihrer sechs Figuren ein, die einen ganz individuellen und gleichzeitig allgemein menschlichen Blick auf ihren Heimatplaneten werfen. Handlung gibt es kaum, der Roman lebt von den gewaltigen Bildern, die ein solches Setting möglich macht: etwa wenn die Insassen der Raumkapsel minutiös mitansehen können, wie sich ein Taifun auf der Erde aufbaut, um sich schließlich mit voller Kraft auf den Philippinen zu entladen.

10. ex aequo: Dorothee Elmiger (52 Punkte)
„Die Holländerinnen“, Hanser
Seit ihrer Teilnahme beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im Jahr 2010 zählt die 1985 geborene Dorothee Elmiger zu den spannendsten Stimmen der jüngeren Schweizer Literatur. Vier Romane hat Elmiger bislang vorgelegt, 2020 wurde „Aus der Zuckerfabrik“ auf die Shortlist des Deutschen als auch des Schweizer Buchpreises gesetzt, auch ihr neuer Roman „Die Holländerinnen“ befindet sich auf den Shortlists beider Buchpreise und wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits jetzt zum „besten Roman des Bücherherbsts“ gekürt. Im Zentrum des Romans steht das Verschwinden zweier Holländerinnen im lateinamerikanischen Dschungel. Dem rätselhaften Schicksal der beiden Frauen möchte ein Theaterregisseur nachspüren und begibt sich mit einem mehrköpfigen Team hinein in den dunklen Urwald. Mit dabei: die Erzählerin der Geschichte, eine namhafte Schriftstellerin, die die ganze Expedition dokumentieren soll. Der Regisseur treibt die Crew trotz Widerstände immer tiefer und tiefer in den Wald, sein Vorhaben entpuppt sich dabei als weniger von Empathie, sondern von Größenwahn getrieben, denn er scheint mit dem Projekt in Wahrheit in die Fußstapfen von Künstlern wie Werner Herzog und Francis Ford Coppola treten zu wollen. Mittels einer fragmentarischen und ebenso komplexen wie faszinierenden Erzählstruktur lotet Dorothee Elmiger in „Die Holländerinnen“ die Abgründe der menschlichen Existenz aus.

10. ex aequo: Marlene Streeruwitz (52 Punkte)
„Auflösungen.“, S. Fischer
Im Schreiben eine eigene Sprache finden, eine Sprache, die frei ist von patriarchalen Strukturen: das war das literarische Ziel von Marlene Streeruwitz von Beginn an. Anfang der 1990er-Jahre machte sie zunächst mit Theaterstücken auf sich aufmerksam, Texte von außergewöhnlicher Sprache und Form. Inzwischen zählt die 1950 in Baden bei Wien geborene Marlene Streeruwitz zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart, im Juni feierte sie ihren 75. Geburtstag. Streeruwitzs gesamtes literarisches Werk beschäftigt sich in seinem Kern mit der Frage, wie es gelingen kann, ein freies Leben zu führen und darum, welche gesellschaftlichen Bedingungen es verunmöglichen, selbstbestimmt, frei und erfüllt zu leben - zumal für Frauen. Das gilt auch für ihren neuen Roma „Auflösungen“, in dem Streeruwitz einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand der USA wirft. Erzählt wird aus der Perspektive einer Wiener Lyrikerin, die im Rahmen eines Lehrauftrags ein Semester in New York verbringt. Es ist der Frühling 2024, die Lage im Land hat sich seit der Pandemie drastisch zugespitzt und das Prekariat hält die Menschen fest im Griff: Das glorreiche Kulturleben ist einem schieren Überlebenskampf gewichen, Manhattan zu einem Ort geworden, an dem man sich Wohnraum allein durch Arbeit nicht mehr leisten kann. „Auflösungen“ liest sich wie ein trauriger Abschied an eine Stadt, die nicht nur für Streeruwitz lange ein Sehnsuchtsort war.