Die besten 10 im Dezember 2024
1. George Saunders (25 Punkte) NEU
„Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“, Luchterhand
Übersetzung: Frank Heibert
Der Amerikaner George Saunders hat sich vor allem als Autor genialer Kurzgeschichten einen Namen gemacht, nach „Lincoln in Bardo“ legt er nun seinen zweiten Roman vor. Mit „Die kurze und schreckliche Gesellschaft von Phil“ versucht sich Saunders am Genre der politischen Parabel. Konkret geht es darin um einen Grenzstreit zwischen zwei fiktiven Ländern, die von alienartigen Pflanzen-Maschinen-Mischwesen bevölkert werden: Innen-Horner und Außen-Horner. Innen-Horner ist ein ausgesprochen winziges Land, so winzig, dass darin nur jeweils ein Bewohner Platz hat. Die restlichen Bewohner Innen-Horners warten in der Kurzzeitaufenthaltszone Außen-Horners darauf, bis sie dran sind. Dieses komplizierte diplomatische Konstrukt gerät in die Krise, als Innen-Horner plötzlich schrumpft und der aktuelle Bewohner zum Teil nach Außen-Horner hineinragt – was die Außen-Horneriten als Invasion auffassen. Hier kommt der titelgebende Phil ins Spiel, seines Zeichens „Sondergrenzeinsatzkoordinator“ von Außen-Horner. Er nutzt die aufgeheizte Stimmung, um mit nationalistischer Hetz-Rhetorik auf der Karriereleiter steil nach oben zu klettern.
2. Betty Paoli (24 Punkte) NEU
„Ich bin nicht von der Zeitlichkeit!“, Residenz
Betty Paoli ist in vielerlei Hinsicht eine Entdeckung: „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit“ versammelt neben der Novelle „Anna“ eine hervorragende Auswahl an Gedichten, Kritiken, Essays und Feuilletons, herausgeben von Karin S. Wozonig. Die überzeugte Humanistin Betty Paoli (geboren 1814, gestorben 1894) schrieb intensiv über Liebe und weibliches Begehren in ihrer autobiografisch grundierten Lyrik. Gelehrt und mit kritischem Blick übertrug sie die Unterdrückung der Frau und die Heuchelei der Männer in die subtile Sprache der Poesie. Oft ist es ein Ich, das zu einem Du spricht – von Liebesglück und -leid, sich nach romantischer Erfüllung sehnt und Tod erlebt, wie in dem Langgedicht „Briefe an einen Verstorbenen“. Den Freunden Anastasius Grün und Adalbert Stifter, der Freundin Ida und der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff widmete Betty Paoli Gedichte. Das unbeachtete Werk letzterer hob sie in einer Rezension hervor, begleitet von einer scharfzüngigen Abhandlung über die gefällige Literaturkritik ihrer Zeit. „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit" zeigt einen enormen Reichtum an literarischem Können, Wissen und Erkenntnis: ein von der Literaturwissenschaftlerin Karin S.Wozonig mit guten Gründen über viele Jahre geborgener Schatz.
3. ex aequo: Daniela Seel (14 Punkte) NEU
„Nach Eden“, Suhrkamp
Die vielfach ausgezeichnete Berliner Autorin, Übersetzerin und Mitbegründerin des renommierten Lyrik-Verlags kookbooks Daniela Seel hat einen neuen Gedichtband vorgelegt, erschienen unter dem Titel „Nach Eden“. In 76 Einzeltexten, versammelt zu einem Langgedicht, das zwischen Prosaminiaturen, Lyrik und Essay oszilliert, führt sie die Motive des Vorgängerbandes „Auszug aus Eden“ fort, widmet sich aber gänzlich neuen Themen. Die Beschäftigung mit Mutterschaft, Geburt, Tod und Totgeburt beginnt mit einem Prolog der Urfrau, Eva, die, ganz im kantischen Sinn, dem Paradies aus freien Stücken den Rücken kehrt. Erkenntnisgewinn steht bei ihr an oberster Stelle. Ein weiterer großer Themenkomplex in Seels Lyrikband ist die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Von gejagten Walen, von Tiefseegärten voller Mikroplastik ist da die Rede. Wie gebetsartige Anrufungen lesen sich diese Stellen. Auf der Suche nach einer neuen poetischen Sprache verleiht Daniela Seel ihren Gedichten einen magischen Klang. „Ein ganz großer Wurf“ urteilt Deutschlandfunk Kultur.
3. ex aequo: Samantha Harvey (14 Punkte) NEU
„Umlaufbahnen“, dtv
Übersetzung: Julia Wolf
Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ ist die britische Schriftstellerin Samantha Harvey Anfang November mit dem Booker Price ausgezeichnet worden, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn der Schauplatz des Buchs liegt nicht auf dieser Erde, sondern im All. Vier Astronauten und zwei Astronautinnen aus unterschiedlichen Ländern leben gemeinsam auf einer internationalen Raumstation, die den Planeten Erde mit 27.000 km/h umkreist. Zeitlich beschränkt sich der Roman auf exakt 24 Stunden, was auf der Station 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge bedeutet. Nacheinander taucht Harvey in die Gedanken ihrer sechs Figuren ein, die einen ganz individuellen und gleichzeitig allgemein menschlichen Blick auf ihren Heimatplaneten werfen. Handlung gibt es kaum, der Roman lebt von den gewaltigen Bildern, die ein solches Setting möglich macht: etwa wenn die Insassen der Raumkapsel minutiös mitansehen können, wie sich ein Taifun auf der Erde aufbaut, um sich schließlich mit voller Kraft auf den Philippinen zu entladen.
5. ex aequo: Francesca Melandri (13 Punkte) NEU
„Kalte Füße“, Wagenbach
Übersetzung: Esther Hansen
Francesca Melandri ist als Schriftstellerin in Italien vor allem dafür bekannt, dass sie in ihren Romanen die jüngere Geschichte ihrer Heimat aufgreift und sich gegen nichts Geringeres als gegen die Verdrehung historischer Ereignisse wendet. In ihrem Buch „Kalte Füße“ thematisiert sie die Rolle ihres Vaters, der als Soldat während des Zweiten Weltkriegs Teil der faschistischen Besatzungsmacht unter Benito Mussolini war. Das Werk ist als ein Dialog mit ihrem Vater aufgebaut und hinterfragt kritisch den Opfermythos, den Italien bis heute in Bezug auf seine Rolle im Faschismus und der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich pflegt. Melandri fordert eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, die Italiens Verantwortung als Besatzungsmacht anerkennt.
5. ex aequo: Maria Stepanova (13 Punkte)
„Der Absprung“, Suhrkamp
Übersetzung: Olga Radetzkaja
Maria Stepanova gilt als die erfolgreichste russische Lyrikerin der Gegenwart. Eine lange Liste internationaler Auszeichnungen ziert ihre Biografie, zuletzt etwa der Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung im Jahr 2023. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 entschied sich Stepanova Moskau zu verlassen, sie lebt heute in Paris. Um dieses Exil kreist auch ihr Roman „Der Absprung“, in dem eine Schriftstellerin namens M. gerade mit dem Zug unterwegs zu einer Lesung ist. Das Land, aus dem sie stammt, führt Krieg mit einem anderen benachbarten Land, doch im „Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen“, wie es im ersten Satz des Buchs lakonisch heißt. Diese Gleichzeitigkeit macht M. schwer zu schaffen. Sie fühlt sich gelähmt, sprachlos, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie Glück hatte: weil sie weiter ihrer Arbeit nachgehen kann, sich ein schönes Haus in einem neuen Land leisten kann und nicht in Lebensgefahr schwebt. Plötzlich wird ihre Reise von eine Bahnstreik unterbrochen, strandet in einer fremden Stadt. Anstatt sich zu ärgern, freut sich M. fast ein bisschen über diese Unterbrechung, die sich bald in ein Abenteuer verwandelt. Was als autofiktionale Erzählung beginnt, kippt ins Surreale, Märchenhafte: Tarotkarten, ein Zirkusdirektor – und auf einmal so etwas wie die Möglichkeit zum Absprung und die Hoffnung auf eine andere Zukunft.
7. Marica Bodrožić (12 Punkte) NEU
„Das Herzflorett“, Luchterhand
Marica Bodrožić fügt mit ihrem Roman „Das Herzflorett“ ihrem autobiographisch genährten Werk eine weitere, sprachlich wie inhaltlich von großer Dringlichkeit zeugende Spielart hinzu. Erzählt wird in „Das Herzflorett“ von einem Mädchen, das sich von seiner Herkunft emanzipiert und diese doch tief in sich trägt: im Guten wie im Schlechten. Pepsi, so heißt die Hauptfigur, hat Eltern, die in Hessen arbeiten, sie selbst wächst in Dalmatien, bei ihrem Großvater auf. Auch andere Verwandten kommen ins Spiel, gemeinsam ist allen: das Mädchen wird behandelt wie eine Fremde. Schließlich wird sie von ihren Eltern nach Deutschland geholt, das lange Zeit ihr Traum war. Die Realität: der Vater Alkoholiker, die Mutter eine vom Leben hart gewordene Frau. Und doch gelingt es dem Mädchen die ihr von ihrer Familie gesetzten Grenzen zu überwinden. Das Beschwören der Möglichkeit, Unglück mittels Sprache, mittels Literatur zu überwinden, ist auch in diesem Text, wie im gesamten Werk Marica Bodrožićs, von zentraler Bedeutung. Ein Hohelied auf das Leben, ein Hohelied auf die Kraft der Literatur.
8. ex aequo: Mircea Cărtărescu (11 Punkte)
„Theodoros“, Zsolnay
Übersetzung: Ernest Wichner
Der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu zählt seit Jahren zu den großen Favoriten auf den Literaturnobelpreis. Der Autor ist unter dem grausamen Regime Nicolae Ceaușescus aufgewachsen, was tiefe Spuren in seiner Literatur hinterlassen hat. Diese zeichnet sich durch eine düstere, bedrückende Atmosphäre aus, die zwischen (Alp)traum und Wirklichkeit changiert und mit surrealen, phantastischen Elementen gespickt ist, weswegen Cărtărescu oft mit Vertretern des Magischen Realismus wie Borges und García Márquez verglichen wird. Während seine Monumentalromane „Solenoid“ und die „Orbitor-Trilogie“ im kommunistischen Bukarest spielen, wagt sich Cărtărescu in „Theodoros“ in neue Erzähllandschaften und Zeitebenen. Durch literarische Wurmlöcher verschmelzt er das Donaufürstentum der Walachei, den griechische Archipel, das Äthiopien des 19. Jahrhunderts, das britische Empire Königin Victorias mit dem biblischen Juda und dem sagenhaften Abessinien der Königin Saba. Und mittendrin: Theodoros, der auch Tudor, und auch Thewodoros heißt. Geboren in der Walachei als Sohn eines Bojarendieners und einer Griechin, bricht dieser auf in die große weite Welt, schließt sich zuerst Räubern, dann Piraten an und verschreibt sein Leben fortan der Suche nach der heiligen Bundeslade, um sich schließlich zum Kaiser Äthiopiens zu krönen. „Theodoros“ ist ein monumentaler Roman zwischen Mythos und Historie, der einen so ehrfurchtsvoll zurücklässt wie ein seltenes Naturereignis.
8. ex aequo: Monika Helfer (11 Punkte) NEU
„Wie die Welt weiterging“, Hanser
Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer hat mit ihren drei autofiktionalen Romanen über ihre eigene Vorarlberger Familie die Bestsellerlisten erobert und international große Aufmerksamkeit erregt. Neben ihren Romanen hat die 1947 in Vorarlberg geborene Autorin immer auch Kurzgeschichten geschrieben. In „Wie die Welt weiterging“ versammelt sie 365 Erzählungen, für jeden Tag ein literarisches Kalenderblatt. Mit klarem Blick und einem Gespür für das Besondere im Alltäglichen erzählt Helfer von Begegnungen, kurzen, verwirrenden Begegnungen, Merkwürdigkeiten aus dem Leben der Autorin und Eindrücken aus der Natur. Mit feiner Beobachtungsgabe und literarischer Tiefe perfektioniert sie in diesem Buch die kurze Form des Erzählens zur höchsten Kunst.
10. ex aequo: Thomas Meinecke (10 Punkte) NEU
„Odenwald“, Suhrkamp
Eine „Lektüre“, die „bereichert“, „ein Buch, das sich allen Festlegungen entzieht“, so urteilte die Kritik über den jüngsten Roman des deutschen Schriftstellers und Musikers Thomas Meinecke. Konventionelles Erzählen ist seine Sache nicht, Meinecke schreibt Diskursliteratur, entwirft experimentelle Montagen aus Mailverkehr, Forschungsarbeiten und Musikstücken, ohne Handlung oder Erzählinstanz. Der Autor ist im neuen Buch „Odenwald“ selbst eine Romanfigur, die sich mit einem skurrilen Forschungstrupp auf Recherchereise begibt. Vom titelgebenden hessischen Mittelgebirge, dem einstigen Lieblingsurlaubsort Theodor W. Adornos geht es ins amerikanische Exil, nahe Texas, wo die Odenwalder Adelsfamilie Leidinger Mitte des 19. Jahrhunderts eine demokratische Kolonie mitgründete. Das Themenfeld reicht von Reflexionen über die Gendertheorien einer Judith Butler über Jazz bis hin zum besagten, immer wiederkehrenden Adorno, dem wahrscheinlich meistzitierten Denkers des Romans. „Philosophie trifft Märchenwald“ untertitelt der Verlag Meineckes Buch, das seiner Leserschaft auf über 400 Seiten so einiges abverlangt.
10. ex aequo: Tore Renberg (10 Punkte) NEU
„Die Lungenschwimmprobe“, Luchterhand
In Norwegen zählt der 1972 geborene Tore Renberg zu den erfolgreichsten Schriftstellern seiner Generation und auch im deutschsprachigen Raum ist Renberg längst kein Unbekannter mehr. Sein neuer Roman trägt den kuriosen Titel „Lungenschwimmprobe“ und bezieht sich auf ein Experiment, mit dem festgestellt werden kann, ob ein Säugling vor oder nach der Geburt gestorben ist: schwimmt die obduzierte Lunge im Wasser, hatte das Kind bereits einen Atemzug vollzogen und ist damit nach der Geburt gestorben. Sinkt die Lunge auf den Boden, wurde es bereits totgeboren. Die Lungenschwimmprobe gilt heute als Beginn der modernen Gerichtsmedizin, denn der Test kam erstmals im Rahmen einer Anklage wegen Kindesmords zum Einsatz, und zwar im Jahr 1681 in Sachsen: Die 15-jährige Anna Voigt, Tochter eines Gutsbesitzers, wurde damals verdächtigt ihr Neugeborenes getötet zu haben. Mit großer erzählerischer Präzision hat Tore Renberg die in dem Gerichtsfall involvierten historischen Persönlichkeiten wiederauferstehen lassen und liefert dabei ein eindrückliches Bild jener Zeit zwischen Mittelalter und Aufklärung, in der Kirche und Wissenschaft folgenreich aufeinanderprallten.