Die besten 10 im Oktober 2024
1. Barbara Zeman (42 Punkte)
„Beteigeuze“, dtv
Barbara Zeman hat mit ihrem Debütroman „Immerjahn“ 2019 für Aufsehen gesorgt, denn im deutschsprachigen Feuilleton ist die 1981 in Eisenstadt geborene Schriftstellerin dafür in den höchsten Tönen gelobt worden. Für ihren neuen Roman hat sich Zeman mit dem Nachthimmel beschäftigt, allen voran mit einem bestimmten Stern: Beteigeuze, ein sogenannter Roter Riese im Sternbild des Orion. Die Heldin in Zemans gleichnamigen Roman hat eine geradezu manische Faszination für diesen Beteigeuze. Sie bildet sich ein, so etwas wie der menschliche Zwilling dieses Sterns zu sein und träumt davon, sich zu ihm ins All hinauf zu schaukeln. Zwischen den Zeilen wird dabei deutlich, dass diese Obsession das Symptom einer psychotischen Episode ist. Jenseits der Sternenhimmelromantik hat Zeman mit diesem Roman die Chronik eines menschlichen Zusammenbruchs aufgeschrieben, und das mit rührender Zärtlichkeit und großer sprachlicher Magie.
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2. Mircea Cărtărescu (21 Punkte) NEU
„Theodoros“, Zsolnay
Übersetzung: Ernest Wichner
Der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu zählt seit Jahren zu den großen Favoriten auf den Literaturnobelpreis. Der Autor ist unter dem grausamen Regime Nicolae Ceaușescus aufgewachsen, was tiefe Spuren in seiner Literatur hinterlassen hat. Diese zeichnet sich durch eine düstere, bedrückende Atmosphäre aus, die zwischen (Alp)traum und Wirklichkeit changiert und mit surrealen, phantastischen Elementen gespickt ist, weswegen Cărtărescu oft mit Vertretern des Magischen Realismus wie Borges und García Márquez verglichen wird. Während seine Monumentalromane „Solenoid“ und die „Orbitor-Trilogie“ im kommunistischen Bukarest spielen, wagt sich Cărtărescu in „Theodoros“ in neue Erzähllandschaften und Zeitebenen. Durch literarische Wurmlöcher verschmelzt er das Donaufürstentum der Walachei, den griechische Archipel, das Äthiopien des 19. Jahrhunderts, das britische Empire Königin Victorias mit dem biblischen Juda und dem sagenhaften Abessinien der Königin Saba. Und mittendrin: Theodoros, der auch Tudor, und auch Thewodoros heißt. Geboren in der Walachei als Sohn eines Bojarendieners und einer Griechin, bricht dieser auf in die große weite Welt, schließt sich zuerst Räubern, dann Piraten an und verschreibt sein Leben fortan der Suche nach der heiligen Bundeslade, um sich schließlich zum Kaiser Äthiopiens zu krönen. „Theodoros“ ist ein monumentaler Roman zwischen Mythos und Historie, der einen so ehrfurchtsvoll zurücklässt wie ein seltenes Naturereignis.
3. Reinhard Kaiser-Mühlecker (20 Punkte)
„Brennende Felder“, S. Fischer
Reinhard Kaiser-Mühlecker ist ein vom Feuilleton viel beachteter Autor – und Bauer. In Oberösterreich führt er die Landwirtschaft seiner Eltern fort. Fernab von Hochglanzromantik und Heimatliebe bildet auch das bäuerliche Milieu die Kulisse seiner Bücher. Sein neuer, mittlerweile neunter Roman trägt den Titel „Brennende Felder“. Im Zentrum steht eine weibliche Hauptfigur, die voller Widersprüche ist. Sie verliebt sich in ihren Stiefvater, verlässt ihre Heimat, und kommt nach mehreren gescheiterten Beziehungen doch wieder hierher zurück – ohne Frieden zu finden. Mit großer Erzählkunst vermag es der 1982 geborene Autor die Spannung zu halten, vieles bleibt unausgesprochen, nichts ist eindeutig. Worte finden, wo es keine Sprache gibt: das ist das Ansinnen Kaiser-Mühleckers. Peter Handke hat den Schriftsteller einmal „einen Dritten zwischen Adalbert Stifter und Knut Hamsun“ genannt. Und tatsächlich beweist Reinhard Kaiser-Mühlecker in „Brennende Felder“ einmal mehr, dass es ihm gelingt, einen ganz eigenen Ton anzuschlagen.
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4. ex aequo: Arno Geiger (18 Punkte)
„Reise nach Laredo“, Hanser
Der Vorarlberger Erfolgsautor Arno Geiger hat einen neuen Roman veröffentlicht: „Reise nach Laredo“ heißt das Buch und es spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts. Die Hauptfigur: der Habsburger Karl der V., der als Kaiser des Heiligen römischen Reichs und König von Spanien als erster Weltherrscher der Geschichte gilt. Nicht zufällig stammt das berühmte Zitat „In meinem Reich geht die Sonne nicht unter“ aus seinem Munde: Mit Kolonien in Lateinamerika und Asien erstreckte sich sein Hoheitsgebiet tatsächlich über den gesamten Globus. Doch im Jahr 1556, von der Gicht geplagt und zermürbt von den Religionskämpfen mit Luther, trat Karl der V. zurück. Diesem Leben nach dem Rücktritt widmet sich Arno Geiger in seinem Roman. Schauplatz: das Kloster Yuste, Karls Rückzugsort bis zu seinem Tod 1558. Vielmehr als um die Geschichte Karl des V. geht es Geiger um die Frage: Wer ist man selbst, abseits der Arbeit, des gewohnten Alltags? Bei der Ausgestaltung des Stoffs nimmt sich Geiger viele Freiheiten: Er schickt seinen Karl auf eine Reise durch die spanische Extremadura. Das Buch ist eine Art fiebertraumhafter Selbstfindungsroadtrip.
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4. ex aequo: Jana Volkmann (18 Punkte)
„Der beste Tag seit langem“, Residenz
Die Schriftstellerin Jana Volkmann, die 1983 in Kassel geboren und seit einigen Jahren in Wien lebt, hat bereits mit ihrem vielgelobten Debütroman „Auwald“ auf sich aufmerksam machen können. Mit ihrem Zweitling „Der beste Tag seit langem“ stellt sie abermals großes literarisches Können unter Beweis. Volkmann, die zusammen mit anderen Wiener Autoren und Autorinnen den sogenannten „Tierlesekreis“ ins Leben gerufen hat, beschäftigt sich darin mit dem Verhältnis Mensch und Tier. Am Anfang steht ein Pferd: offenbar einem Fiaker entlaufen, trifft es auf Volkmanns Protagonistin, eine junge Frau namens Maja. Diese wohnt mit ihrer Nichte Cordelia in einem kleinen Wiener Vorstadthaus mit Garten, wo das zugelaufene Fiakerpferd künftig leben soll. Doch das idyllische Projekt stößt schnell auf Schwierigkeiten, denn der Garten wird unter den Hufen des neuen Mitbewohners schnell zur Schlammgrube, und auch die Nachbarn rümpfen über das halblegale Projekt bald die Nase. Unterstützung kommt ausgerechnet aus der Villa nebenan, denn Nadja, der jüngste Spross der Villenbesitzer, ist radikale Tierschutzaktivistin. Ihr Verein „MOrPH“ versucht Nutztieren das Streiken beizubringen und setzt sich dafür ein, dass das, was Tiere für den Menschen tun, endlich als Arbeit gewertet wird – Pensionsansprüche inklusive.
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6. Thomas Köck (17 Punkte)
„Chronik der laufenden Entgleisungen“, Suhrkamp
Der 38-jährige österreichische Autor Thomas Köck gehört zu den meist gespielten Dramatikern seiner Generation. Es sind vor allem die politisch brisanten Themen seiner Stücke für die er mit Preisen überhäuft wird: Flüchtlingsströme, Rohstoffausbeutung, Klimakatastrophe – Köck verhandelt das ganze Krisenaufgebot unserer Zeit. In „Chronik der laufenden Entgleisungen“ nimmt sich Köck nun die politische Stimmung innerhalb seiner österreichischen Heimat vor. Ein Jahr lang, von 5. Juni 2023 bis 4. Juni 2024, hat er die österreichische Innenpolitik akribisch verfolgt. Mit analytischem Scharfsinn und bissiger Ironie kommentiert Köck die tägliche Flut an Verbalattacken auf die Demokratie und stätiger sprachlicher Grenzüberschreitung. Mit Blick auf den Ruhm berüchtigter österreichischer Aktivisten der Neuen Rechten und Prognosen zum Wahlsieg einer am rechtsäußersten Rand angesiedelten Partei versucht er Antworten auf die Frage zu finden: Wie konnte Österreich zur Speerspitze des europäischen Rechtspopulismus werden?
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7. Nora Bossong (15 Punkte)
„Reichskanzlerplatz“, Suhrkamp
Nora Bossong hat sich einen Namen als eine Schriftstellerin gemacht, die Politik und Literatur geschickt zu verbinden weiß. In ihrem neuen Roman „Reichskanzlerplatz“ nimmt sie sich der historischen Figur Magda Goebbels an. Vielen ist die Ehefrau des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels vor allem durch ihr grausames Verhalten im Führerbunker ein Begriff: Nach dem Selbstmord Hitlers vergiftete sie zuerst ihre sechs Kinder und nahm sich anschließend ebenfalls das Leben. Die Handlung des Romans setzt deutlich früher ein, nämlich im Berlin der 1920er, als Magda Goebbels noch Quandt hieß und mit einem reichen, wesentlich älteren Industriellen verheiratet war. Bossong nähert sich ihrer Figur durch einen historisch verbürgten Liebhaber, mit dem die junge Magda ihren reichen Mann betrügt: Hans, ein Mitschüler ihres Stiefsohns Hellmut. Nachdem die Affäre auffliegt und die Ehe geschieden wird, bleiben die beiden in Kontakt. Durch Hans‘ Augen sieht man dabei zu, wie aus dieser kaum 20-jährigen Magda eine Ikone des Nationalsozialismus wird, die sich mit ihren sieben Kindern als Vorzeigemutter des Deutschen Reichs inszenierte.
8. Zora del Buono (14 Punkte) NEU
„Seinetwegen“, C.H. Beck
Zora del Buono, 1962 als Tochter eines Italieners und einer Schweizerin geboren, ist Schriftstellerin und Architektin sowie Mitbegründerin der Kulturzeitschrift „Mare“. Mit ihrem neuen Roman „Seinetwegen“ stand sie auf der Longlist der Deutschen Buchpreis. Es ist ein autofiktionaler Roman über ihren Vater, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, als Zora del Buono 8 Monate alt war. Der Schmerz über den Verlust war so groß, dass in der Familie kaum über ihn gesprochen wurde. Del Buono war als Vater darum nur ein vager Schatten geblieben. Mit Anfang 60 beschließt sie, sich mit seinem Tod endlich auseinanderzusetzen und ist dabei vor allem von einer Frage getrieben: was ist aus dem damals 28-jährigen E.T. geworden, der bei einem waghalsigen Überholmanöver gegen den grünen VW-Käfer gekracht war, in dem ihr Vater gesessen war? Dieser E.T. war damals trotz dieser groben Fahrlässigkeit mit einer Geldstrafe davon gekommen. Ob ihn Gewissenbisse quälen? Ob er überhaupt noch an den Unfall denkt? Überhaupt: was ist das für ein Mensch? Del Buono beginnt manisch in Unterlagen rund um den Umfall zu wühlen. Das Schreiben, das Rationalisieren des Unfalls, dient ihr als emotionale Abkühlung, um in dieser nervenaufreibenden Arbeit nicht zu versinken. Sie recherchiert Statistiken, erstellt Listen berühmter Unfalltoter, driftet ab in Erinnerungen an ihre Studentenzeit in Westberlin, um immer wieder auf die Frage zurückzukommen: Und wenn sie E.T. findet, was dann? Eine berührende Spurensuche.
9. Curzio Malaparte (13 Punkte) NEU
„Die Haut“, Rowohlt
Übersetzung: Frank Heibert
Der Schriftsteller Curzio Malaparte war eine schillernde Figur im Italien der Zwischen- und Nachkriegszeit. Als wohlhabender Dandy verkehrte er in den besten Kreisen und ließ sich Ende der 1930er Jahre eine riesige Villa auf Capri bauen, die Jahrzehnte später als Kulisse des Filmklassikers „Le Mepris“ von Jean-Luc Godard diente. Politisch galt Malaparte als ausgesprochen sprunghaft: Er war Faschist, Anti-Faschist, Kommunist, Katholik – und schaffte es doch irgendwie, all diese Widersprüche mit sich selbst in Einklang zu bringen. Während des 2. Weltkriegs, als er dem Faschismus längst abgeschworen hatte, arbeitete Malaparte als Kriegsreporter, eine Erfahrung, die er in sein legendäres Buch „Die Haut“ einfließen ließ. Erschienen 1949, landete das Buch prompt auf dem Index des Vatikans, denn in seiner Beschreibung der Stadt Neapel in den Kriegsjahren 1943/44 schilderte Malaparte den moralischen Verfall der Bevölkerung in all seiner Hässlichkeit. Das Kriegschaos zwingt die Neapolitaner (und nicht zuletzt die Neapolitanerinnen) dazu, sich selbst zur Ware zu machen und dem meistbietenden amerikanischen Besatzungssoldaten zu verkaufen, selbst die Jungfräulichkeit eines kleinen Mädchens kann gegen Geld bestaunt werden. Der Ich-Erzähler Malaparte beschreibt diese Abgründe mal mit verstörendem Zynismus, mal mit Pathos geladenen Monologen. Was Fakt ist, was Fiktion, bleibt offen. Meisterlich neuübersetzt von Frank Heibert, ist „Die Haut“ ein in jeglicher Hinsicht bemerkenswertes Anti-Kriegsbuch.
10. ex aequo: David Wagner (12 Punkte) NEU
„Verkin“, Rowohlt
Mit dem Buch „Leben“, das 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, hat sich David Wagner in die vorderste Reihe der deutschsprachigen Literatur geschrieben. Eindrücklich und berührend schilderte Wagner in dem autobiographischen Roman sein Leben mit der Krankheit Immunhepatitis und eine dadurch notwendig gewordene Lebertransplantation. An den Erfolg des Buchs konnte er 2019 mit „Der vergessliche Riese“ anknüpfen, ein Roman über die Demenzerkrankung seines Vaters. In seinem neuen Buch „Verkin“ schlägt David Wagner erzählerisch nun eine ganz neue Richtung ein, wenngleich auch dieser Roman auf wahren Begebenheiten beruht. Schauplatz: Istanbul, die Schwelle zwischen Orient und Okzident. Hauptfigur: die titelgebende Verkin, eine exzentrische Frau mit einer filmreifen Lebensgeschichte, die der Erzähler-Autor David Wagner auf einer Party in Istanbul kennenlernt. Bei regelmäßigen Treffen lässt sich Wagner peu à peu die Geschichte dieser Verkin erzählen, die Anfang der 1940er Jahre als Spross eines türkisch-armenischen Großindustriellen geboren wurde und von Kinderbeinen an ein Jet-Set-Leben führt. Internate in der Schweize, zahlreiche Liebschaften und Gelegenheitsjobs, die sie quer über den Globus führen und die Reichen, Schönen und Wichtigen des vergangenen Jahrhunderts kennenlernen lassen: Andy Warhol, Greta Garbo, Angela David, Yoko Ono und und und. Gleichzeitig hat Verkin auch abseits des Glamours viel zu erzählen: über den Genozid an der armenischen Bevölkerung, über die Frauenrechtsbewegung, die türkische Politik und die multikulturelle Metropole Istanbul. Ein unglaubliches Menschleben, das David Wagner meisterlich zu Papier gebracht hat.
10. ex aequo: Olga Tokarczuk (12 Punkte) NEU
„E.E.“, Kampa
Übersetzung: Lothar Quinkenstein
Der Auszeichnung Olga Tokarczuks mit dem Literaturnobelpreis im Jahr 2019 ist es zu verdanken, dass die Werke der polnischen Schriftstellerin nun nach und nach ins Deutsche übersetzt werden. Der jüngst auf Deutsch erschienene Roman mit dem mysteriösen Titel „E.E.“ ist im polnischen Original bereits 1995 publiziert worden. Breslau zu Beginn des 20. Jahrhundert, damals noch deutsche Provinzhauptstadt Schlesiens, bildet die Kulisse für den Roman. Die titelgebende Erna Eltzner, 15jährige Tochter einer gutbürgerlichen Familie wird zur Stadtsensation. Als spiritistisches Medium hört sie Stimmen, hat Visionen und erhält Eingebungen aus dem Jenseits. Eine Schar von Neugierigen versammelt sich im Haus, um an den nächtlichen Séancen teilzunehmen, Ärzte, Psychologen und Parawissenschaftler. Tokarczuk bezeichnet sich als studierte Psychologin von C. G. Jung beeinflusst und lässt dies immer wieder in ihren Romanen durchblicken. Jungs Aufzeichnungen von den Séancen mit seiner Cousine Hélène Preiswerk waren eine wichtige Inspirationsquelle für den Roman „E.E“, der sprachlich schlicht und präzise gestaltet ist. An die Qualität der späteren Werke kann das Buch jedoch nicht heranreichen.