Die besten 10 im September 2024
1. Arno Geiger (35 Punkte) NEU
„Reise nach Laredo“, Hanser
Der Vorarlberger Erfolgsautor Arno Geiger hat einen neuen Roman veröffentlicht: „Reise nach Laredo“ heißt das Buch und es spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts. Die Hauptfigur: der Habsburger Karl der V., der als Kaiser des Heiligen römischen Reichs und König von Spanien als erster Weltherrscher der Geschichte gilt. Nicht zufällig stammt das berühmte Zitat „In meinem Reich geht die Sonne nicht unter“ aus seinem Munde: Mit Kolonien in Lateinamerika und Asien erstreckte sich sein Hoheitsgebiet tatsächlich über den gesamten Globus. Doch im Jahr 1556, von der Gicht geplagt und zermürbt von den Religionskämpfen mit Luther, trat Karl der V. zurück. Diesem Leben nach dem Rücktritt widmet sich Arno Geiger in seinem Roman. Schauplatz: das Kloster Yuste, Karls Rückzugsort bis zu seinem Tod 1558. Vielmehr als um die Geschichte Karl des V. geht es Geiger um die Frage: Wer ist man selbst, abseits der Arbeit, des gewohnten Alltags? Bei der Ausgestaltung des Stoffs nimmt sich Geiger viele Freiheiten: Er schickt seinen Karl auf eine Reise durch die spanische Extremadura. Das Buch ist eine Art fiebertraumhafter Selbstfindungsroadtrip.
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2. Barbara Zeman (21 Punkte) NEU
„Beteigeuze“, dtv
Barbara Zeman hat mit ihrem Debütroman „Immerjahn“ 2019 für Aufsehen gesorgt, denn im deutschsprachigen Feuilleton ist die 1981 in Eisenstadt geborene Schriftstellerin dafür in den höchsten Tönen gelobt worden. Für ihren neuen Roman hat sich Zeman mit dem Nachthimmel beschäftigt, allen voran mit einem bestimmten Stern: Beteigeuze, ein sogenannter Roter Riese im Sternbild des Orion. Die Heldin in Zemans gleichnamigen Roman hat eine geradezu manische Faszination für diesen Beteigeuze. Sie bildet sich ein, so etwas wie der menschliche Zwilling dieses Sterns zu sein und träumt davon, sich zu ihm ins All hinauf zu schaukeln. Zwischen den Zeilen wird dabei deutlich, dass diese Obsession das Symptom einer psychotischen Episode ist. Jenseits der Sternenhimmelromantik hat Zeman mit diesem Roman die Chronik eines menschlichen Zusammenbruchs aufgeschrieben, und das mit rührender Zärtlichkeit und großer sprachlicher Magie.
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3. Gerhard Roth (14 Punkte)
„Jenseitsreise“, S. Fischer
„Jenseitsreise“ - so heißt jenes Buch, an dem der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth bis zu seinem Tod im Jahr 2022 gearbeitet hat. Jetzt ist sein letzter unvollendeter Roman auf über 360 Seiten erschienen. Darin schickt Roth sein Alter Ego ins Totenreich. „Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht“, steht am Beginn von Gerhard Roths letztem Werk. Das Rätselhafte, das Unglück und psychische Grenzerfahrungen beschäftigten den Vielschreiber Roth in seinem mehrere tausend Seiten umfassenden Textkonvolut immer wieder - so auch in der „Jenseitsreise“. „Ich bin überzeugt, dass man ins Nichts eingeht, dass man wie ein Tropfen im Meer vergeht. Ich glaube, dass das, was man „religiös“ nennt, mit dem Leben verbunden ist. Das heißt, wenn ich in die Landschaft schaue, empfinde ich religiöse Gefühle“, sagte Roth selbst über seine eigenen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod. In seinem Roman hingegen ist dieses Jenseits symbolisch ausformuliert: Der Ich-Erzähler tritt seine letzte Reise an. Nach seinem Tod findet er sich im ägyptischen Schattenreich wieder. Sprechende Tiere und berühmte Dichter und Denker kreuzen seinen Weg. In vier handschriftlich verfassten Notizbüchern hat Gerhard Roth ein Romanfragment hinterlassen, das ihn posthum einmal mehr als kunstvollen Erzähler und Schöpfer fantasievoller Welten ausweist.
4. Reinhard Kaiser-Mühlecker (13 Punkte) NEU
„Brennende Felder“, S. Fischer
Reinhard Kaiser-Mühlecker ist ein vom Feuilleton viel beachteter Autor – und Bauer. In Oberösterreich führt er die Landwirtschaft seiner Eltern fort. Fernab von Hochglanzromantik und Heimatliebe bildet auch das bäuerliche Milieu die Kulisse seiner Bücher. Sein neuer, mittlerweile neunter Roman trägt den Titel „Brennende Felder“. Im Zentrum steht eine weibliche Hauptfigur, die voller Widersprüche ist. Sie verliebt sich in ihren Stiefvater, verlässt ihre Heimat, und kommt nach mehreren gescheiterten Beziehungen doch wieder hierher zurück – ohne Frieden zu finden. Mit großer Erzählkunst vermag es der 1982 geborene Autor die Spannung zu halten, vieles bleibt unausgesprochen, nichts ist eindeutig. Worte finden, wo es keine Sprache gibt: das ist das Ansinnen Kaiser-Mühleckers. Peter Handke hat den Schriftsteller einmal „einen Dritten zwischen Adalbert Stifter und Knut Hamsun“ genannt. Und tatsächlich beweist Reinhard Kaiser-Mühlecker in „Brennende Felder“ einmal mehr, dass es ihm gelingt, einen ganz eigenen Ton anzuschlagen.
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5. ex aequo: Jessica Lind (10 Punkte) NEU
„Kleine Monster“, Hanser Berlin
Jessica Lind, 1988 in St. Pölten geboren, hat sich in den vergangenen Jahren als Drehbuchautorin und Schriftstellerin einen Namen gemacht. Mit ihrem Debütroman „Mama“ hat Lind einen vielgelobten Body-Horror-Thriller rund um das Thema Mutterschaft geschrieben, in eine ähnliche Kerbe schlägt nun auch ihr zweiter Roman „Kleine Monster“. Alles beginnt mit einem Vorfall in der Schule: Der 7-jährige Sohn von Hauptfigur Pia soll etwas Schlimmes angestellt haben, und zwar mit einer Mitschülerin. Was genau, weigert er sich zu verraten. Während der Vater des Kindes die Sache entspannt sieht, wird Pia ihr eigener Sohn zunehmend unheimlich. Hat er wirklich ins Bett gemacht, oder den feuchten Fleck dort nur hinterlassen, um ein schlechtes Gewissen vorzutäuschen? Je tiefer sich Pia in dieses Misstrauen hineinsteigert, desto mehr Details drängen aus ihrer eigenen, traumatischen Kindheit an die Oberfläche. Mit „Kleine Monster“ hat Lind abermals bewiesen, dass sie das Thriller-Genre geschickt mit gesellschaftspolitischen Diskursen rund um Frauen und Mutterschaft zu verbinden versteht.
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5. ex aequo: Thomas Köck (10 Punkte) NEU
„Chronik der laufenden Entgleisungen“, Suhrkamp
Der 38-jährige österreichische Autor Thomas Köck gehört zu den meist gespielten Dramatikern seiner Generation. Es sind vor allem die politisch brisanten Themen seiner Stücke für die er mit Preisen überhäuft wird: Flüchtlingsströme, Rohstoffausbeutung, Klimakatastrophe – Köck verhandelt das ganze Krisenaufgebot unserer Zeit. In „Chronik der laufenden Entgleisungen“ nimmt sich Köck nun die politische Stimmung innerhalb seiner österreichischen Heimat vor. Ein Jahr lang, von 5. Juni 2023 bis 4. Juni 2024, hat er die österreichische Innenpolitik akribisch verfolgt. Mit analytischem Scharfsinn und bissiger Ironie kommentiert Köck die tägliche Flut an Verbalattacken auf die Demokratie und stätiger sprachlicher Grenzüberschreitung. Mit Blick auf den Ruhm berüchtigter österreichischer Aktivisten der Neuen Rechten und Prognosen zum Wahlsieg einer am rechtsäußersten Rand angesiedelten Partei versucht er Antworten auf die Frage zu finden: Wie konnte Österreich zur Speerspitze des europäischen Rechtspopulismus werden?
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7. ex aequo: Can Xue (8 Punkte) NEU
„Schattenvolk“, Matthes & Seitz
Übersetzung: Eva Schestag
Can Xue gilt als die schillerndste Figur der chinesischen Gegenwartsliteratur, seit Jahren steht sie ganz oben auf der Liste der Anwärterinnen auf den Literaturnobelpreis. Xue wurde 1953 in Changsha geboren und stammt aus einer Intellektuellen-Familie, die unter Mao brutal verfolgt wurde, sie selbst musste ihre Ausbildung nach der Volkschule beenden. Ihr Werk ist der chinesischen Avant-Garde zuzurechnen, dessen eigenwilliger Schreibstil sich stark von herkömmlichen Erzählmustern absetzt. Das gilt auch für „Schattenvolk“: ein Erzählband, der Geschichten aus den Jahren 1996-2018 versammelt. Mit „Schattenvolk“ ist hier die Bevölkerung des modernen, urbanen Chinas gemeint: Jenseits von Zeit und Raum, irgendwo zwischen Traum und Realität, erzählt Xue von all jenen, die hinter dem gnadenlosen Fortschrittswillen des Landes auf der Strecke bleiben. Menschen, Tiere, Pflanzen, sie alle werden zu Protagonisten einer Welt, die durch Abgase und Zement unwirtlich gemacht wurde, sie bahnen sich einen Weg durch Abwasserkanäle und verdreckte Tunnel. Xue hat hier ein so faszinierend wie düsteres Universum erschaffen, das das Label „kafkaesk“ tatsächlich verdient – zumal Franz Kafka als einer ihrer wichtigsten literarischen Bezugspunkte gilt.
7. ex aequo: Jana Volkmann (8 Punkte) NEU
„Der beste Tag seit langem“, Residenz
Die Schriftstellerin Jana Volkmann, die 1983 in Kassel geboren und seit einigen Jahren in Wien lebt, hat bereits mit ihrem vielgelobten Debütroman „Auwald“ auf sich aufmerksam machen können. Mit ihrem Zweitling „Der beste Tag seit langem“ stellt sie abermals großes literarisches Können unter Beweis. Volkmann, die zusammen mit anderen Wiener Autoren und Autorinnen den sogenannten „Tierlesekreis“ ins Leben gerufen hat, beschäftigt sich darin mit dem Verhältnis Mensch und Tier. Am Anfang steht ein Pferd: offenbar einem Fiaker entlaufen, trifft es auf Volkmanns Protagonistin, eine junge Frau namens Maja. Diese wohnt mit ihrer Nichte Cordelia in einem kleinen Wiener Vorstadthaus mit Garten, wo das zugelaufene Fiakerpferd künftig leben soll. Doch das idyllische Projekt stößt schnell auf Schwierigkeiten, denn der Garten wird unter den Hufen des neuen Mitbewohners schnell zur Schlammgrube, und auch die Nachbarn rümpfen über das halblegale Projekt bald die Nase. Unterstützung kommt ausgerechnet aus der Villa nebenan, denn Nadja, der jüngste Spross der Villenbesitzer, ist radikale Tierschutzaktivistin. Ihr Verein „MOrPH“ versucht Nutztieren das Streiken beizubringen und setzt sich dafür ein, dass das, was Tiere für den Menschen tun, endlich als Arbeit gewertet wird – Pensionsansprüche inklusive.
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7. ex aequo: Nora Bossong (8 Punkte) NEU
„Reichskanzlerplatz“, Suhrkamp
Nora Bossong hat sich einen Namen als eine Schriftstellerin gemacht, die Politik und Literatur geschickt zu verbinden weiß. In ihrem neuen Roman „Reichskanzlerplatz“ nimmt sie sich der historischen Figur Magda Goebbels an. Vielen ist die Ehefrau des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels vor allem durch ihr grausames Verhalten im Führerbunker ein Begriff: Nach dem Selbstmord Hitlers vergiftete sie zuerst ihre sechs Kinder und nahm sich anschließend ebenfalls das Leben. Die Handlung des Romans setzt deutlich früher ein, nämlich im Berlin der 1920er, als Magda Goebbels noch Quandt hieß und mit einem reichen, wesentlich älteren Industriellen verheiratet war. Bossong nähert sich ihrer Figur durch einen historisch verbürgten Liebhaber, mit dem die junge Magda ihren reichen Mann betrügt: Hans, ein Mitschüler ihres Stiefsohns Hellmut. Nachdem die Affäre auffliegt und die Ehe geschieden wird, bleiben die beiden in Kontakt. Durch Hans‘ Augen sieht man dabei zu, wie aus dieser kaum 20-jährigen Magda eine Ikone des Nationalsozialismus wird, die sich mit ihren sieben Kindern als Vorzeigemutter des Deutschen Reichs inszenierte.
7. ex aequo: Paul Lynch (8 Punkte) NEU
„Das Lied des Propheten“, Klett-Cotta
Übersetzung: Eike Schönfeld
Stellen Sie sich vor, in Irland kommt eine Partei an die Macht, die den Staat Schritt für Schritt in eine Autokratie verwandelt und schließlich in einen blutigen Bürgerkrieg stürzt. Das Besondere an dem Gedankenexperiment, das Paul Lynch in „Das Lied des Propheten“ entwirft: im Vergleich zu anderen literarischen Dystopien bleiben die politischen Details hier konsequent im Vagen. Von der Ideologie dieser fiktiven Partei erfahren wir wenig, nur, dass sie vorgibt Irland vor einer nicht näher definierten, äußeren Gefahr zu beschützen. Lynch richtet seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die privaten Folgen der politischen Unruhen im Land und fokussiert sich auf das Schicksal einer vierfachen Mutter, deren Mann von den neuen Machthabern verhaftet wurde. In einem immer komplizierter und vor allem gefährlicher werdenden Alltag, hat sie mit drei Teenagern, einem Kleinkind und einem dementen Vater zu kämpfen. Lynch wurde für „Das Lied des Propheten“ im vergangenen Herbst mit dem Booker-Price ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens.