Die besten 10 im Juli 2024
1. Helena Adler (27 Punkte) NEU
„Miserere“, Jung und Jung
Die Schriftstellerin Helena Adler zählte zu den vielversprechendsten Autorinnen Österreichs. Sie hat Malerei am Salzburger Mozarteum studiert, für Aufsehen gesorgt hat sie mit ihren zwei Romanen „Fretten“ und „Die Infantin trägt den Scheitel links“, die inzwischen zu den Fixpunkten der jüngsten Literaturgeschichte zählen. Die österreichische Provinz seziert Adler darin hart wie liebend, ihre Prosa ist voll von emanzipatorischem Furor. Anfang des Jahres ist sie viel zu früh verstorben. Im Alter von 40 Jahren. Posthum ist nun das Buch „Miserere“ erschienen. Die Wut, die in ihrem Fall ein produktiver literarischer Motor war, ist auch darin zu finden. Das Buch birgt drei Texte Helena Adlers: mit dem titelgebenden hätte sie im Vorjahr bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt antreten sollen: die Erkrankung an Gehirntumor kam dazwischen. Auf Einladung des Literaturkritikers Klaus Kastberger hätte sie lesen sollen. Das Erschütternde an dem Text: es scheint darin die Krankheit vorweg genommen zu sein, ein Ich führt darin Zwiegespräch mit dem Tod. „Woher hat sie das gewusst? Als ob da wirklich eine letzte Energie geherrscht hätte, noch einmal bis zum Äußersten zu gehen“, so Kastberger. Helena Adler geht auch in ihren posthum erschienenen Texten zum literarisch Äußersten: hier wird Wirklichkeit nicht abgebildet, hier wird Wirklichkeit hergestellt, hier wird mit den Mitteln der Literatur der Welt gekontert, zugleich üppige Schönheit als Möglichkeit beschworen.
2. ex aequo: Claire Keegan (24 Punkte) NEU
„Reichlich spät“, Steidl
Claire Keegan wurde 1968 in Wicklow als Tochter einer irischen Bauernfamilie geboren, in Irland zählt sie zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. Mit dem Roman „Kleine Dinge wie diese“ erlangte sie 2022 auch internationale Bekanntheit. Das Buch stand auf der Shortlist für den Booker Price und wurde erfolgreich verfilmt, mit Oscar-Preisträger Cillian Murphy in der Hauptrolle. Die Frauenfeindlichkeit im erzkatholischen Irland zählt zu den zentralen Themen ihres Schreibens. Ihre schmalen Bücher, die meist nicht mehr als 150 Seiten umfassen, zeichnen sich durch eine stark reduzierte, klare Sprache aus – so auch die Erzählung „Reichlich spät“. Auf nur 64 Seiten erzählt Keegan darin von einer gescheiterten Paarbeziehung, aus der Perspektive von Cathal, der nach einem Streit mit seiner Freundin Sabine seine Gedanken kreisen lässt. Vor nicht langer Zeit waren die beiden zusammengezogen und immer öfter aneinander geraten. Der Grund: Sabine wehrte sich beharrlich dagegen, dass sich in ihrem Zusammenleben alte Rollenmuster einstellen. In dem besagten Streit konfrontierte sie Cathal schließlich mit der Selbstverständlichkeit, mit der er ihr den Haushalt überlässt, warf ihm Frauenfeindlichkeit vor. Man merkt, wie unangenehm Cathal die Erinnerung an diesen Streit ist – weil er spürt, dass da etwas Wahres dran ist. Keegan lässt ihren Protagonisten erahnen, dass er sich diese Wahrheit nur eingestehen müsste, um seine Beziehung zu retten. Doch er wird sich anders entscheiden.
2. ex aequo: Gerhard Roth (24 Punkte) NEU
„Jenseitsreise“, S. Fischer
„Jenseitsreise“ - so heißt jenes Buch, an dem der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth bis zu seinem Tod im Jahr 2022 gearbeitet hat. Jetzt ist sein letzter unvollendeter Roman auf über 360 Seiten erschienen. Darin schickt Roth sein Alter Ego ins Totenreich. „Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht“, steht am Beginn von Gerhard Roths letztem Werk. Das Rätselhafte, das Unglück und psychische Grenzerfahrungen beschäftigten den Vielschreiber Roth in seinem mehrere tausend Seiten umfassenden Textkonvolut immer wieder - so auch in der „Jenseitsreise“. „Ich bin überzeugt, dass man ins Nichts eingeht, dass man wie ein Tropfen im Meer vergeht. Ich glaube, dass das, was man „religiös“ nennt, mit dem Leben verbunden ist. Das heißt, wenn ich in die Landschaft schaue, empfinde ich religiöse Gefühle“, sagte Roth selbst über seine eigenen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod. In seinem Roman hingegen ist dieses Jenseits symbolisch ausformuliert: Der Ich-Erzähler tritt seine letzte Reise an. Nach seinem Tod findet er sich im ägyptischen Schattenreich wieder. Sprechende Tiere und berühmte Dichter und Denker kreuzen seinen Weg. In vier handschriftlich verfassten Notizbüchern hat Gerhard Roth ein Romanfragment hinterlassen, das ihn posthum einmal mehr als kunstvollen Erzähler und Schöpfer phantasievoller Welten ausweist.
4. Andreas Okopenko (20 Punkte)
„Kindernazi“, Ritter
Der 2010 verstorbene Andreas Okopenko gilt als einer der wichtigsten und eigenwilligsten Vertreter der österreichischen Nachkriegsliteratur. Mit seinen experimentierfreudigen Texten wie dem „Lexikon-Roman“ hat er die österreichische Literatur nach 1945 wesentlich mitgeprägt. Im Leben wie in der Literatur: er war ein „Rebell mit Charme“ - seine Lyrik und Prosa, seine Essays, Theaterstücke und Hörspiele stehen für eine autarke, sprachkritische und existenzbejahende Literatur. Witz, Prägnanz und Anarchie gehen in seinem Werk Hand in Hand. Im Ritter Verlag ist nun eine kommentierte Neuauflage seines legendären Romans „Kindernazi“ erschienen, den Okopenko erstmals 1984 veröffentlichte. Das Buch erzählt die Geschichte einer Kindheit in Nazideutschland, aus der Perspektive des zu Beginn der Handlung 15-jährigen Anatol Vitrov. Es ist der 1. April 1945 und im Radio wird gerade der Fall Wiener Neustadts verkündet, über den Anatol, ein durch und durch indoktrinierter „reichsdeutscher“ Teenager, in Tränen ausbricht. Dann wird auf die literarische Rückspultaste gedrückt: in insgesamt 62 Episoden schildert Okopenko das Heranwachsen in einem faschistischen Staat – und lässt zwischen den Zeilen erahnen, was es bedeutet, dass eine ganze Generation in ihrer prägendsten Entwicklungsphase keine andere Realität als diese kannte.
5. Abdulrazak Gurnah (18 Punkte)
„Das versteinerte Herz“, Penguin
Übersetzung: Eva Bonné
Mit der Entscheidung für Abdulrazak Gurnah hat die Schwedische Akademie bei der Vergabe des Literaturnobelpreises 2021 für eine große Überraschung gesorgt. Insbesondere im deutschsprachigen Raum war der 1948 in Sansibar, einer Insel vor Tansania, geborene Schriftsteller nur einschlägigen Fachkreisen ein Begriff, die wenigen deutschen Übersetzungen seiner Bücher waren vergriffen. Das hat sich nun geändert: Der Penguin-Verlag hat sich mit großem Erfolg an die Erst- und Neuübersetzung seines Werks gemacht, auf Deutsch liegt nun der im Original 2017 erschienene Roman „Das versteinerte Herz“ vor. Die Handlung setzt zeitlich kurz nach der Unabhängigkeit seiner Heimat vom britischen Protektorat ein, die Gurnah als damals 15-Jähriger hautnah miterlebt hat. Chaos und Gewalt prägten diese Zeit: die von der Kolonialmacht gezogenen Grenzen waren alles andere als organisch gewachsen, sodass die von den britischen Herrschern unterdrückten Konflikte zwischen den dort lebenden Menschen sich danach umso heftiger entluden. Geschildert wird das Geschehen aus der Perspektive eines Teenagers, der – wie auch Abdulrazak Gurnah selbst – Angehöriger der muslimischen Minderheit im Land ist.
6. Saša Stanišić (16 Punkte) NEU
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“, Luchterhand
Saša Stanišić, 1978 in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien geboren, gilt als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, für seinen Roman „Herkunft“ wurde er im Jahr 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Im Alter von 14 Jahren ist Stanišić mit seiner Familie aus Bosnien nach Deutschland geflüchtet: die Jugoslawienkriege, die Erfahrung der Flucht und das Ankommen in einer neuen Gesellschaft sind zentrale Motive seines Schreibens. So auch in seinem jüngsten Erzählband „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ heißt der neue Erzählband von Saša Stanišić, ein Mosaik unterschiedlicher Lebensläufe, die eine Frage verbindet: was wäre wenn? Ob die titelgebende Witwe, eine türkische Reinungskraft oder eine Gruppe junger migrantischer Freunde – Stanišić erzählt von Menschen an Lebenskreuzungen, die es bisher nicht leicht hatten. Ihnen gibt er eine zweite Chance – durch teils fantastische Begebenheiten. Die Erzählungen handeln etwa vom Anhalten der Zeit oder vom Reisen in die eigene Zukunft. Wieder liegen Tragik und Komik bei Stanišić nah beieinander, wieder erzählt er geistreich und verspielt.
7. ex aequo: Marianna Kijanowska (15 Punkte) NEU
„Babyn Jar. Stimmen“, Suhrkamp
30. September, 1941: nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Kiew wurde die jüdische Bevölkerung der Stadt aufgerufen, sich am Bahnhof einzufinden. Die SS-Einsatzgruppe C brachte die Menschen, überwiegend Alte, Frauen und Kinder, anschließend in die nahe der Stadt gelegenen Schlucht von Babyn Jar. Die Wehrmacht sicherte das Gelände ab. Innerhalb von 36 Stunden wurden dort 33.771 Juden und Jüdinnen systematisch erschossen. Das Massaker von Babyn Jar gilt heute als das größte Einzelmassaker des zweiten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund von Stalins Kampagne gegen die sowjetischen Juden wurde das Verbrechen in der Sowjetunion lange Zeit totgeschwiegen, den Opfern jegliches Gedenken verwehrt. Erst in den 1960er Jahren wurde Babyn Jar durch ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko, das Schostakowitsch später in der 13. Sinfonie vertonte, öffentlich thematisiert. In ihrem Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“ nimmt sich nun auch die ukrainische Lyrikerin Marianna Kijakowska des Themas an: Insgesamt 65 „Stimmen“ liefern unterschiedliche Blickwinkel auf das unausweichliche Grauen. Kijanowska, 1973 in Lwiw geboren, gibt hier nicht nur den Opfern ihre Namen und ihre Würde zurück – sie stößt hier gleichzeitig eine Debatte über Schuld an: denn bei dem Massenmord konnte die SS auf die Unterstützung von unzähligen ukrainischen Kollaborateuren zählen.
7. ex aequo: Max Höfler (15 Punkte)
„Alles über alles - oder warum“, Ritter
Aus der Grazer Kulturszene ist der Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler Max Höfler nicht wegzudenken. Seit Jahren engagiert er sich in unterschiedlichsten städtischen Kulturprojekten, wie etwa dem Leinwandliteraturmagazin „Glory Hole“, das seit 2013 literarische Kurztexte auf die Fassade des Forum Stadtparks projiziert. Literarisch steht Höfler klar in der Tradition experimenteller Literatur, seine Texte zeichnen sich durch einen humorvollen Zugang zu diesem Genre aus. So auch sein neues Buch „ALLES ÜBER ALLES oder warum“, eine literarische Auseinandersetzung mit dem Kult-Brettspiel „Trivial Pursuit“. Zur Erinnerung: in dem Spiel geht es darum, Allgemeinwissen in den Kategorien Erdkunde, Unterhaltung, Geschichte, Kunst und Literatur, Wissenschaft und Technik, Sport und Vergnügen unter Beweis zu stellen. Inspiriert von den Fragekärtchen sucht Höfler insgesamt 200 eigene Antworten. In einer Tonlage, die zwischen Besserwisser und Wutbürger changiert, wird uns hier etwa erklärt, dass das menschliche Gehör nur Schwingungen bis zu einer Höhe von 20.000 Hertz wahrnehmen kann, damit man die boshaften Lästermäuler der Fledermäuse nicht vernimmt. Oder, dass Marylin Monroe nur deshalb Arthur Miller geheiratet hat, weil André Heller sie seinerzeit übel abblitzen ließ. Ein großer Lesespaß, der nicht nur dem absurden Witz, sondern vor allem den kunstvollen Satzkaskaden geschuldet ist, in die Höfler seine Antworten gegossen hat.
9. ex aequo: George Saunders (11 Punkte) NEU
„Tag der Befreiung“, Luchterhand
Übersetzung: Frank Heibert
Erst im fortgeschrittenen Alter hat sich der 1958 geborene Texaner und studierte Geophysiker George Saunders der Literatur zugewandt. Mitte der 1990er-Jahre feierte er seine ersten Erfolge mit Kurzgeschichten und erhielt für seinen Debütroman „Lincoln im Bardo“ gleich den renommierten Pulitzerpreis. Kürzlich ist Saunders jüngster Erzählband „Tag der Befreiung“ auf Deutsch erschienen. Die amerikanische Gegenwart im Schatten düsterer Zukunftsvisionen ist das zugrundeliegende Setting der neun Short Stories. Die Entrechteten und Abgehängten sind die Protagonisten seiner Geschichten. Von versklavten Mensch-Apparaturen, die die Innenwände der Superreichen zieren handelt etwa die Titelgeschichte. Ihre Identitäten sind dank Zukunftstechnologie gelöscht, der Aufstand gegen die Unterdrücker muss letztlich scheitern. In der Auftakterzählung „Liebesbrief“ bittet ein Großvater seinen Enkel nur möglichst in Deckung zu bleiben und die Machthaber nicht mit falschem Heldenmut herauszufordern. Die USA sind zum faschistischen Unrechtsstaat verkommen, überleben wird nur, wer sich anpasst. „Die schonungslosen Kurzgeschichten des amerikanischen Autors gehören zum Besten, was die amerikanische Literatur zu bieten hat“, schreibt die NZZ. Dass man sich dem Bann von Saunders Horrorwelten nicht entziehen kann, ist seinem Erzähltalent zu danken.
9. ex aequo: Julien Green (11 Punkte) NEU
„Treibgut“, Hanser
Übersetzung: Wolfgang Matz
Der in Paris lebende Amerikaner Julien Green war bereits ein Autor mit Welterfolg, als er 1932 seinen Roman „Treibgut“ veröffentlichte. Das im Untergang begriffene Bürgertum im Paris der Zwischenkriegszeit wird darin durch die Hauptfigur Philippe verkörpert. Anfang 30, mit allen Vorteilen der bourgeoisen Herkunft ausgestattet, unglücklich verheiratet und vom Leben gelangweilt, durchstreift dieser Philippe das nächtliche Paris. Er kehrt der vornehmen Avenue du Président Wilson den Rücken, um über die Treppen und engen Gassen an die dunklen Ecken der Stadt zu gelangen, an denen Armut und Elend wie Vorboten des drohenden Weltkriegs lauern. Green entwirft seinen Epochenroman entlang der inneren Bruchlinien des Hauptakteurs, der der „Leere seines Daseins“ nicht entkommt. „Jemand mit etwas mehr Zynismus hätte über dieses ewige Zurückweichen vor sich selbst gelacht, ihm aber fehlte diese Heiterkeit“. „Treibgut“ wurde nun vom Green-Kenner Wolfgang Matz anhand jüngst freigegebener biographischer Quellen neu übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen.