Bestenliste Mai
ORF

Die besten 10 im Mai 2024

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Schiff aus Stein
Zsolnay

1. Karl-Markus Gauß (31 Punkte)

„Schiff aus Stein“, Zsolnay

Ein würdiges Leben, ohne den Blick in den Abgrund zu wagen, das ist nicht möglich - so lautet das Credo des in Salzburg lebenden Schriftstellers Karl-Markus Gauß. Er hat sich vor allem als scharfzüngiger Kommentator der Tagespolitik und als bis an die Ränder Europas reisender Autor einen Namen gemacht. Im Mai feiert Gauß seinen 70. Geburtstag, dem er ein neues Buch vorwegschickt: „Schiff aus Stein“. Darin widmet er sich vorwiegend den Schönheiten des Alltäglichen. Er durchquert entlegene Ortschaften, spürt vergangenen Träumen nach und erinnert sich an Zufallsbegegnungen. Von Kaffeehausszenen, U-Bahn-Begegnungen, Friedhofsträumen, und Erkundungen wenig bekannter Orte, etwa in der Obersteiermark oder entlang der Küste Dalmatiens erzählen die Miniaturen im Buch. Gauß' Kunst besteht im Sichtbarmachen der oftmals unsichtbaren Besonderheiten des Lebens.

Unzustellbare Briefe
Luchterhand

2. Anna Mitgutsch (28 Punkte) NEU

„Unzustellbare Briefe“, Luchterhand

Seit ihrem Debüt „Die Züchtigung“, erschienen 1985, zählt sie zu den fixen Größen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: die nach vielen Jahren in den USA wieder in Linz lebende Autorin Anna Mitgutsch. Geraume Zeit hat sie an ihrem neuen Buch gearbeitet, zögerte lange, es zu veröffentlichen – jetzt ist es doch erschienen: „Unzustellbare Briefe“ ist der Titel. Anna Mitgutsch hält darin schonungslos Rückschau auf ein bewegtes, in jeder Hinsicht unkonventionelles Leben, in dessen Zentrum ein nicht zu zähmender Freiheitsdrang steht. Dieser Blick zurück erfolgt in Form von Briefen: beginnend mit ihrer Großmutter bis hin zur ersten großen Liebe, ihrer charismatischen Literaturagentin, ihrem treuen, langjährigen Lektor und einigen anderen mehr. Ihre vielen Reisen, nicht zuletzt nach Israel: sie finden darin Niederschlag. Dreh- und Angelpunkt des Buches ist das Ringen eines weiblichen Ich um einen Ort als Schreibende in der Welt. Was dieses Ich zusammenhält, ist ein ausgeprägtes Talent zur Nicht-Angepasstheit – sich einer Gruppe ganz anzuschließen, war für Mitgutsch nie eine Option.

Mehr dazu auf orf.at

Lichtungen
Klett-Cotta

3. Iris Wolff (26 Punkte)

„Lichtungen“, Klett-Cotta

Mit dem vielgelobten Roman „Die Unschärfe der Welt“ gelang Iris Wolff 2020 der literarische Durchbruch. Die Schriftstellerin wurde 1977 in Siebenbürgen geboren, noch im Kindesalter zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Das Aufwachsen in diesem Teil Rumäniens ist Dreh- und Angelpunkt ihres Schreibens geblieben, so auch im neuen Roman „Lichtungen“. Hauptfiguren sind die quirlige Kato und der ruhige Lev, die einander seit ihrer Kindheit im Rumänien Ceausescus kennen – doch all das erfahren wir eigentlich erst später, denn: Wolff erzählt hier die Geschichte einer Freundschaft im Rückwärtsgang. Der Roman setzt ein mit Kapitel 9; das ungleiche Paar befindet sich gerade auf einer Reise quer durch Europa. „Wann kommst du?“ hatte Kato, die seit 5 Jahren als nomadische Straßenmalerin unterwegs ist, ihrem Freund auf einer Postkarte aus Zürich geschrieben – was dem zögerlichen Lev endlich den Mut gab, seine Heimat zu verlassen. Mit jeder Seite erfährt man mehr über den Ursprung dieser Freundschaft, an der Wolff unaufdringlich die jüngere Geschichte Rumäniens vorbeirauschen lässt.  

Nachwasser
Azur

4. Frieda Paris (17 Punkte)

Nachwasser“, Edition Azur

Oft als Nischenprodukt der Literatur bezeichnet, erlebt die kurze literarische Form in den sozialen Medien eine wahre Renaissance. Mit dem Effekt, dass sich immer mehr junge Autorinnen und Autoren für diese Art der Kunst interessieren. So auch die 1986 geborene Frieda Paris mit ihrem Debüt „Nachwasser“. In Ulm geboren lebt die Lyrikerin seit 2010 in Wien. Vor ihrer Karriere als Lyrikerin absolvierte sie eine Ausbildung zur Damenschneiderin und dieser handwerkliche Hintergrund macht sich durchaus bemerkbar, denn am Näh- und Schneidetisch ist im übertragenen Sinn auch „Nachwasser“ entstanden. Es ist ein Langgedicht, an dessen Entstehung uns der Text beim Lesen teilhaben lässt. Wörter aus der Kindheit in Süddeutschland, Alltagswörter als recyceltes Poesiegut, Zettelrückseiten aus dem Nachlass der großen Dichterin und „Wortmutter“ Friederike Mayröcker: alles wird wild miteinander vernäht, sodass am Ende kein glatter Text, sondern mehr ein literarischer Quilt entsteht: mit vielen Lagen Stoff, bestehend aus vielen kleinen Wortfasern, die an der eigenen Gedankenwelt sofort anknüpfen und ihre Fäden dort weiterspinnen.

Lauter
Jung und Jung

5. Stephan Roiss (16 Punkte) NEU

„Lauter“, Jung und Jung

Mit „Triceratops“ hat der 1982 in Linz geborene Schriftsteller Stephan Roiss erstmals ein breiteres Publikum auf sich aufmerksam gemacht. Der Roman über ein Kind, das mit psychisch kranken Eltern aufwächst, wurde viel gelobt und für die Longlist des Deutschen Buchpreises 20 nominiert. Nun liegt sein neuer Roman „Lauter“ vor, der abermals eine schwierige Familiengeschichte zum Thema hat. Hauptfigur ist Leon, ein Lebenskünstler und Musiker, der schon früh gegen sein Elternhaus rebelliert hat und seine Zeit damit verbringt, rastlos durch Europa zu reisen. Als ihn die Nachricht erreicht, dass seine Mutter im Sterben liegt, hetzt er nach Hause: doch er kommt zu spät. In die Trauer mischen sich Gewissensbisse, Selbstzweifel hinsichtlich seines Lebensentwurfs, immer mehr zieht sich Leon zurück. Auch die Tatsache, dass seine Punkband endlich der Durchbruch bevorstehen könnte, reißt ihn nicht aus der Lethargie. Als er zu allem Überfluss noch mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wird, ergreift er abermals die Flucht. Zuerst Venedig, dann quer durch Italien bis auf die Insel Stromboli, wo er neuen Lebensmut fasst. Roiss hat hier ein rasantes, rauschhaftes Porträt einer Generation gezeichnet, dessen Rhythmus man sich nur schwer entzieht.

Vom Glück
Otto Müller

6. ex aequo: Erwin Riess (15 Punkte) NEU

„Vom Glück auf dem Feldherrenhügel“, Otto Müller

Mehr als ein Jahr ist seit dem Tod von Erwin Riess inzwischen vergangen. Zeit seines Lebens hat sich der Schriftsteller und Aktivist für die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung eingesetzt. Er kämpfte dafür, dass Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekt anerkannt werden und so ihr Recht einklagen können. Das Gesetz als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben sollte Mitleid in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung ein Ende setzen. In literarischer Hinsicht hat Riess diesen Kampf geführt: er schrieb gegen die einseitige Darstellung von Behinderten in der Literatur an. Als legendär gilt etwa seine Groll-Krimi-Reihe: Scharfsinnig und mit sarkastischem Witz ließ Riess darin sein fiktives Alter Ego, den Floridsdorfer Rollstuhlfahrer und Ermittler Herrn Groll, gegen die Ignoranz und Arroganz der Gesellschaft austeilen. Der Band „Vom Glück auf dem Feldherrnhügel“ vereint nun eine Auswahl seiner wichtigsten Schriften aus den letzten 40 Jahren.

Alles über alles
Ritter

6. ex aequo: Max Höfler (15 Punkte) NEU

„Alles über alles - oder warum“, Ritter

Aus der Grazer Kulturszene ist der Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler Max Höfler nicht wegzudenken. Seit Jahren engagiert er sich in unterschiedlichsten städtischen Kulturprojekten, wie etwa dem Leinwandliteraturmagazin „Glory Hole“, das seit 2013 literarische Kurztexte auf die Fassade des Forum Stadtparks projiziert. Literarisch steht Höfler klar in der Tradition experimenteller Literatur, seine Texte zeichnen sich durch einen humorvollen Zugang zu diesem Genre aus. So auch sein neues Buch „ALLES ÜBER ALLES oder warum“, eine literarische Auseinandersetzung mit dem Kult-Brettspiel „Trivial Pursuit“. Zur Erinnerung: in dem Spiel geht es darum, Allgemeinwissen in den Kategorien Erdkunde, Unterhaltung, Geschichte, Kunst und Literatur, Wissenschaft und Technik, Sport und Vergnügen unter Beweis zu stellen. Inspiriert von den Fragekärtchen sucht Höfler insgesamt 200 eigene Antworten. In einer Tonlage, die zwischen Besserwisser und Wutbürger changiert, wird uns hier etwa erklärt, dass das menschliche Gehör nur Schwingungen bis zu einer Höhe von 20.000 Hertz wahrnehmen kann, damit man die boshaften Lästermäuler der Fledermäuse nicht vernimmt. Oder, dass Marylin Monroe nur deshalb Arthur Miller geheiratet hat, weil André Heller sie seinerzeit übel abblitzen ließ. Ein großer Lesespaß, der nicht nur dem absurden Witz, sondern vor allem den kunstvollen Satzkaskaden geschuldet ist, in die Höfler seine Antworten gegossen hat.

Zitronen
Suhrkamp

6. ex aequo: Valerie Fritsch (15 Punkte)

„Zitronen“, Suhrkamp

2015 hat die damals gerade einmal 25-jährige Valerie Fritsch mit ihrem Weltuntergangs-Roman „Winters Garten“ einen weitreichenden Erfolg gelandet. Heute ist Fritsch eine fixe Größe in der deutschsprachigen Literatur. In ihren Büchern arbeitet sie sich oft an schwierigen Familienkonstellationen ab, so auch im neuen Roman „Zitronen“. Alles dreht sich darin um eine perfide Art des Kindesmissbrauchs, dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Zu rund 95% Prozent handelt es sich bei den Tätern um Frauen, meist die leiblichen Mütter der Opfer, die ihre Kinder gezielt krank machen, um sich nach außen hin aufopfernd um sie zu kümmern. Die Täterin in Fritschs Roman ist eine gescheiterte Frau, die immer davon träumt, jemand anderer zu sein als sie selbst. Dem Opfer, ihrem Sohn, gelingt es sich aus dieser grausamen Zärtlichkeit zu lösen. Auf sich allein gestellt steht er vor der Aufgabe, den Scherben seiner Existenz zu entwachsen.  

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Die Häutungen
Suhrkamp

9. Lucía Lijtmaer (13 Punkte)

Die Häutungen“, Suhrkamp
Übersetzung: Kirsten Brandt

Die Schriftstellerin Lucía Lijtmaer wurde 1977 in Buenos Aires geborenen, bald darauf verließ die Familie das politisch zerrüttete Argentinien und ging ins Exil nach Barcelona. In Spanien zählt Lijtmaer längst zu den großen Stars der Literaturszene, im deutschsprachigen Raum ist sie noch wenig bekannt. Neben ihren literarischen Arbeiten gestaltet Lijtmaer Podcasts und schreibt regelmäßig für Zeitungen wie El País oder El Diario, ihre Kernthemen sind Popkultur und Feminismus. „Häutungen“ ist der erste Roman Lijtmaers, der ins Deutsche übersetzt wurde. Erzählt wird darin von zwei Frauen, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet. Die eine lebt im Barcelona der Gegenwart, die andere im England des 17. Jahrhunderts. Subtil beginnt Lijtmaer ein Band zwischen ihren durch vier Jahrhunderte getrennte Protagonistinnen zu knüpfen: denn beide Frauen sehen sich gezwungen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und neu anzufangen. Die eine flieht aus einer toxischen Beziehung und bricht aus dem von der Wirtschaftskrise gebeutelten Barcelona nach Madrid auf, die andere wird aus England in die amerikanischen Kolonien verbannt. Schritt für Schritt überwinden sie ihre Verzweiflung, dasselbe Ziel vor Augen: Rache.  

Griechischstunden
aufbau

10. ex aequo: Han Kang (12 Punkte) NEU

„Griechischstunden“, aufbau
Übersetzung: Ki-Hyang Lee

In ihrer Heimat Südkorea zählt die Schriftstellerin Han Kang schon lange zu den Stars der Literaturszene, mit dem Roman „Die Vegetarierin“ gelang ihr 2016 ein internationaler Bestseller. Das Buch über eine Hausfrau, deren plötzlicher Verzicht auf Fleisch immer mehr zu einer passiven Rebellion gegen die beengenden Verhältnisse wird, wurde mit dem Booker Price ausgezeichnet, in zahlreiche Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt. Nun liegt der Roman „Griechischstunden“ in deutscher Übersetzung vor. Die Stimmung hat, wie alle Han Kang-Bücher, etwas Bedrückendes, jedoch nicht Trostloses. Hauptfigur ist eine Frau um die Dreißig, die plötzlich zu sprechen aufhört, unfähig ist, auch nur ein Wort mit ihrer Stimme zu artikulieren. Der Tod ihrer Mutter, die Scheidung von ihrem Mann, der Verlust des Sorgerechts für ihren 8-jährigen Sohn: dass die plötzliche Sprachstörung psychischer Belastung geschuldet ist, liegt nahe. Sie versucht, ihrem Sprachverlust mit dem Erlernen einer neuen Sprache entgegen zu wirken: Altgriechisch. Schweigend nimmt sie Stunden bei einem Lehrer, der seinerseits mit dem Verlust seines Sehvermögens zu kämpfen hat. Ein fast blinder Mann und eine gänzlich verstummte Frau: dass es Kang gelingt aus dieser geradezu unmöglichen Konstellation eine zarte, berührende Liebesgeschichte zu entwickeln, darin liegt ihre große Kunst.  

James
Hanser

10. ex aequo: Percival Everett (12 Punkte)

James“, Hanser
Übersetzung: Nikolaus Stingl

Gemeinsam mit Autoren wie Colson Whitehead zählt Percival Everett zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen der afroamerikanischen Literatur. Everett, 1956 in Georgia geboren, ist Englisch-Professor an der renommierten University of Southern California. In seinem neuen Roman „James“ wagt er nicht weniger als die Umschreibung eines der zentralen Werke des US-amerikanischen Literaturkanons: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Zur Erinnerung: im Original begeben sich der gesellschaftliche Außenseiter Huck Finn und der rechtlose Sklave Jim auf eine Flussreise den Mississippi hinab. Twain nutzte diese Odyssee, um ein kritisches Porträt der amerikanischen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. In Everetts Bearbeitung des Stoffs erzählt jedoch nicht Huck, sondern Jim - der sich selbst lieber „James“ nennt. Der Plot folgt über weite Strecken dem des Originals, doch durch den anderen Blick ergeben sich zwangsläufig neue Perspektiven. James ist ein Sklave, der sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hat, doch er ist zu klug, um diese Kunst seinen weißen Peinigern vorzuführen. Stattdessen spielt er den Dummen, um sich dadurch fintenreich aus jeder noch so misslichen Lage zu befreien. Aus dem Opfer wird ein gewitzter Schelm, der die sich überlegen fühlenden Weißen vorführt, ohne, dass sie es merken. Ein grandioser, emanzipatorischer Abenteuerroman.

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