Die besten 10 im Jänner 2024
1. Barbi Marković (41 Punkte)
„Minihorror“, Residenz
Die Schriftstellerin Barbi Marković hat ein gutes Jahr hinter sich. Gleich zwei Mal wurde sie heuer ausgezeichnet, mit dem Berliner Kunstpreis und dem Outstanding Artist Award des Bundesministeriums für Kunst und Kultur. Nach „Die verschissene Zeit“ ist „Minihorror“ der zweite Roman, den die in Belgrad aufgewachsene Schriftstellerin auf Deutsch geschrieben hat und der sich, wie der Vorgänger, durch einen unverkennbar originellen Sound auszeichnet. Horror trifft das „Lustige Taschenbuch“, so könnte man das Buch, das aus rund zwei Dutzend zusammenhängenden Geschichten besteht, mit wenigen Worten beschreiben. Die Hauptfiguren Miki und Mini lassen ganz bewusst an die weltbekannten Disney-Mäuse denken, bieten aber gleichzeitig reichlich Identifikationspotenzial, denn ihr Horror ist der ganz normale städtische Alltag: Da lauern menschenfressende Cousinen-Monster im Supermarkt, es zerbröckeln Gesichter unter den Abschminktüchern und ein Besuch bei Ikea wird zum existenzialistischen Spießrutenlauf. Skurril, bissig und doch einfühlsam widmet sich Barbi Marković in „Minihorror“ den Ängsten des Mittelstands.
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2. László Krasznahorkai (30 Punkte) NEU
„Im Wahn der Anderen“, S. Fischer
Übersetzung: Heike Flemming
Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai zählt seit Jahren zu den ganz großen Namen der europäischen Literatur. Der in Triest lebende Autor wurde bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt etwa mit dem österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Und auch auf den Wettlisten für den Literaturnobelpreis findet sich sein Namen jedes Jahr ganz oben. „Meister der Apokalypse“ wird der 69-Jährige gerne genannt, da er sich in seinem Schreiben oft mit Untergangsszenarien und Verfallsprozessen auseinandersetzt. Diesem Ruf wird Krasznahorkai auch in seinem neuen Buch „Im Wahn der Anderen“ gerecht. Es ist ein literarisches Triptychon der Paranoia und des Wahns, das mit Zeichnungen des Künstlers Max Neumann versehen ist. Das Herzstück der drei Erzählungen bildet Kleinstarbeit für einen Palast: alles dreht sich darin um einen New Yorker Bibliothekar, der seine Arbeit zunehmend als stupide Endlosschleife wahrnimmt und von Senkfüßen geplagt wird. Er begibt sich auf die Spuren von Herman Melville und verirrt sich dabei immer stärker auf den Wegen des großen Schriftstellers – bis er sich selbst gänzlich verliert.
3. Zadie Smith (29 Punkte)
„Betrug“, Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Tanja Handels
Mit ihrem Romandebüt „Zähne zeigen“ wurde die damals 25-jährige Zadie Smith im Jahr 2000 schlagartig bekannt. Etliche Romane, Erzählungen und Essays später, zählt die 1975 in London als Tochter einer Jamaikanerin und eines Briten geborene Smith zu den großen Stars der Literaturszene. In der Vergangenheit hat die Schriftstellerin ihr Schreiben meist im multikulturellen London der Gegenwart verankert, in „Betrug“ nimmt sie sich erstmals eines historischen Stoffes an. Die Handlung spielt im viktorianischen England und kreist um einen historischen Gerichtsprozess, den sogenannten „Tichborne Fall“. Arthur Orten, ein Londoner Fleischhacker steht vor Gericht, weil er behauptet, Roger Tichborne zu sein, der Jahre zuvor verschollene Erbe des Tichborne-Clans. Lady Tichborne meint in dem Mann ihren Sohn wiederzuerkennen, doch die restliche Verwandtschaft durchschaut den Betrug. Die gänzliche Unähnlichkeit zwischen den beiden Männern, sowie Ortons völlige Unkenntnis des Französischen (Tichbornes zweiter Muttersprache) sollte aus dem Fall eigentlich eine klare Angelegenheit machen – doch die Presse macht aus dem Hochstapler zu eine Art Robin Hood, zu einer Galionsfigur des Klassenkampfs.
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4. Peter Handke (22 Punkte)
„Die Ballade des letzten Gastes“, Suhrkamp
In „Die Ballade des letzten Gastes“ erzählt Peter Handke, wieder einmal, vom Aufbrechen und Zurückkehren und davon, wie sehr Veränderung und Vertrautheit Hand in Hand gehen. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist die in Peter Handkes Werk immer wieder kehrende Figur des Gregor: Gregor ist es, der in diesem Text in sein ‚vormaliges Vieldörferland’ aufbricht aus Anlass der Geburt eines Kindes: seine Schwester wünscht sich, er, Gregor, solle der Taufpate sein. Es ist ein Text, in dem Peter Handke erneut zeigt, wozu seine radikal subjektive Literatur befähigt: mittels Sprache, mittels eines Erzählens, das sich an keiner Stelle aufplustert, in eine Bewegung zu kommen, in der Gegenwärtiges und Vergangenes, Grauen, Geheimnis und Glanz in ihrer fürchterlichen wie friedvollen Verflochtenheit spürbar werden. Nicht zufällig spielt das Wort „Flechte“ in diesem Buch eine so wichtige Rolle.
5. Valentin Polanšek (20 Punkte)
„Schicksalsherbst der Brüder“, bahoe books
Übersetzung: Metka Wakounig
Den Verdienst des Valentin Polanšek für das kulturelle Leben der Kärntner Slowenen und Sloweninnen kann man gar nicht hoch genug schätzen: als Schriftsteller, Komponist und auch als Lehrer an einer zweisprachigen Volksschule ist Polanšek längst zu einem personifizierten Kulturgut geworden. Er war Gründer des Verbandes Slowenischer Schriftsteller in Österreich, initiierte und organisierte die Tagungen der europäischen Minderheitsschriftsteller und arbeitete für die slowenische Abteilung des ORF in Klagenfurt. „Schicksalsherbst der Brüder“ gilt als einer seiner bedeutendsten Romane und liegt nun, knapp 30 Jahre nach Veröffentlichung, erstmals auf Deutsch vor. Es ist ein Partisanenroman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Polanšek erzählt darin die tragische Geschichte zweier seiner Nachbarn: Die Brüder Matevž. Nach dem Einmarsch Hitlers schlossen sich die beiden schon als Jugendliche dem slowenischen Widerstand an und verloren ihre Leben im Kampf. Über das Schicksal der beiden Brüder macht Polanšek die grausame Verfolgung der slowenischen Minderheit greifbar, die er selbst schmerzlich erleben musste: der Großteil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet.
6. Paul Auster (18 Punkte)
„Baumgartner“, Rowohlt
Übersetzung: Werner Schmitz
Mehr als 30 Romane, übersetzt in rund 40 Sprachen – Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Der bevorzugte Erzählkosmos des 1947 in New Jersey geborenen Schriftstellers: seine Heimatstadt New York, genauer gesagt der Stadtteil Brooklyn, wo er mit seiner Frau, der bekannten Autorin Siri Hustvedt, wohnt. Sein neuer Roman „Baumgartner“ ist mit knapp 200 Seiten ungewohnt schmal ausgefallen, hatten doch die beiden Vorgänger „4321“ und „In Flammen“ weit über 1.000 Seiten – was mit der Krebserkrankung zu tun haben mag, gegen die Auster seit Monaten ankämpft. Geschmälter hat sich allerdings nur der Umfang, denn an erzählerischer Brillanz hat Auster hier nichts eingebüßt. Der titelgebende Baumgartner ist ein emeritierter College-Professor, der an der renommierten Princeton-University Philosophie gelehrt hat und seine Zeit mit dem Verfassen neuer philosophischer Schriften, zunehmend aber auch mit dem Schwelgen in Erinnerungen verbringt, in einem Leben, das nicht mehr ist. Seit 10 Jahren ist Baumgartner nun schon verwitwet, doch über den Tod seiner geliebten Frau Anna ist er mitnichten hinweg. Was klingt wie ein melancholisches Alterswerk, ist tatsächlich eine durchaus humorvolle Charakterstudie, gespickt mit literarischen und philosophischen Querverweisen.
7. Viktor Jerofejew (17 Punkte)
„Der Große Gopnik“, Matthes & Seitz
Übersetzung: Beate Rausch
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew hat dem Regime von Vladimir Putin lange widerstanden. Bereits 2009 warf er dem Präsidenten öffentlich einen Staatsstreich vor, 2011 wurde er vom staatlichen Fernsehen als Moderator einer literarischen Talkshow gefeuert, in der Folge tat er sich als Kritiker der Krim-Annexion hervor. Nach dem Beginn des Ukrainekrieges allerdings sah sich Jerofejew gezwungen, Moskau zu verlassen und sich nach Berlin ins Exil zu begeben. Nun hat er den Roman „Der große Gopnik“ veröffentlicht. Ein „Gopnik“, das ist eine Art Hinterhofgangster, ein Hooligan, der sein Umfeld aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex heraus malträtiert. Die Kernthese des Romans: Vladimir Putin – auch wenn sein Name nie genannt wird – ist ein ebensolcher Gopnik. In einer bis ins Absurde übersteigerten Hyperrealität erzählt Jerofejew vom Aufstieg Putins, von seinen bescheidenen Anfängen bis hin zum russischen Präsidenten. Als Gegenspieler stellt ihm Jerofejew sich selbst gegenüber, besser gesagt eine fiktionalisierte, fast schon parodierte Version seiner selbst. Fragmentarisch springt die sich über 600 Seiten erstreckende Handlung zwischen den beiden Protagonisten hin und her und kreist dabei ebenso humorvoll wie scharfsinnig um die Frage: wie konnte es so weit kommen, dass die gesamte Welt ausgerechnet von einem solchen Schlägertypen, von einem großen Gopnik, tyrannisiert wird?
8. Shehan Karunatilaka (15 Punkte) NEU
„Die sieben Monde des Maali Almeida“, Rowohlt
Übersetzung: Hannes Meyer
Für „Die sieben Monde des Maali Almeida“ wurde der Schriftsteller Shehan Karunatilaka 2022 der Booker Prize verliehen, der wichtigsten literarischen Auszeichnung im englischen Sprachraum. Karunatilaka wurde 1975 in Sri Lanka geboren und gilt seit seinem Debutroman „Chinaman“, in dem er die Gesellschaft Sri Lankas an Hand der Sportart Cricket analysiert, als eine der interessantesten Stimmen südasiatischer Literatur. Auch sein jüngster Roman kreist um Sri Lanka, genauer gesagt um den Bürgerkrieg, der dort zwischen 1983 und 2009 tobte. Hauptfigur ist der titelgebende Maali Almeida: er ist ein verkappt schwuler Kriegsfotograf, der Mitte der 90er Jahre im Jenseits aufwacht und dort feststellen muss, ermordet worden zu sein. Doch von wem? Und warum? Begleitet von Geistern und Dämonen bleiben Maali Almeida exakt sieben Tage Zeit, um das herauszufinden. Doch, mitten in den Wirren eines Bruderkriegs, kommen als Verdächtige so einige in Frage. Gleichzeitig versucht Maali einen Weg zu finden, um seine engsten Vertrauten auf die Negative brisanter Fotografien aufmerksam zu machen, die erheblichen Einfluss auf die Zukunft Sri Lankas und den weiteren Verlauf des Krieges hätten.
9. Marlen Haushofer (14 Punkte) NEU
„Die gesammelten Romane und Erzählungen“, Claassen
Endlich haben der Claassen-Verlag und das Adalbert-Stifter-Institut eine gewaltige Leerstelle innerhalb der österreichischen Germanistik geschlossen: Mehr als 50 Jahre nach Marlen Haushofers Tod liegt nun die erste Werkausgabe der Schriftstellerin vor. Die 1920 in Oberösterreich geborene Haushofer zählt zu den eigensinnigsten Stimmen der österreichischen Nachkriegsliteratur. Zu Lebzeiten unterschätzt, als Hausfrauenprosa missverstanden, gerieten ihre Bücher erst in den 80er Jahren, ein Jahrzehnt nach ihrem Tod, wieder in den Fokus. Mittlerweile gilt Haushofer als Chronistin weiblicher Lebenswelten, die Verfilmung ihres wohl bekanntesten Roman „Die Wand“ verhalf Marlen Haushofer 2012 zu großer Popularität. Schonungslos und präzise schreibt sie in ihren Romanen und Erzählungen gegen die Fassade der kleinbürgerlichen Lebenswelt an, die sie als Zahnarztgattin in Steyr selbst nur zu gut kannte. Ihre Protagonistinnen, fast ausschließlich Frauen, eint das Gefühl des Fremdseins. Haushofer selbst sah sich als stille Beobachterin: „Ein Romanautor sollte nichts anderes sein als ein Zuschauer, der den Menschen und Vorgängen in seinem Buch Zeit lässt, sich behutsam zu entwickeln“, heißt es in „Die Tapetentür“.
10. Cordelia Edvardson (10 Punkte) NEU
„Gebranntes Kind sucht das Feuer“, Hanser
Übersetzung: Ursel Allenstein
Cordelia Edvardsons 1984 auf Schwedisch erschienener Roman „Gebranntes Kind sucht Feuer“ gilt längst als eines der wichtigsten Werke der Holocaust-Literatur, nun liegt das Buch in neuer Übersetzung vor. Edvardson, die nach dem zweiten Weltkrieg von einer schwedischen Familie adoptiert wurde, verarbeitet darin das Aufwachsen als jüdisches Kind in Hitlerdeutschland sowie ihre Deportation nach Auschwitz, ähnlich wie Ruth Klüger in „Weiter leben“ oder Imre Kertész in „Roman eines Schicksallosen“. 1929 als uneheliches Kind der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer in München geboren, kommt zu Edvardsons tragischer Geschichte hinzu, von der eigenen Mutter im Stich gelassen worden zu sein. Durch deren spätere Ehe zu einem „arischen“ Deutschen, war die Mutter vor der Deportation geschützt. Auch Tochter Cordelia sollte diesem Schicksal durch die Adoption durch ein spanisches Ehepaar entgehen. Doch unter der Drohung, auch die Mutter zu verfolgen, zwang die Gestapo dem Kind eine Doppelstaatsbürgerschaft auf – womit Corderlia Edvardson den Nürnberger Rassengesetzen unterworfen war.
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