Bestenliste September
ORF

Die besten 10 im September 2023

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Die Dauer der Liebe
C.H. Beck

1. Sabine Gruber (41 Punkte)

Die Dauer der Liebe“, C.H. Beck

Wie schreiben über einen Schmerz, der einen in den Wahnsinn treibt? Wie eine Form finden für den Verlust eines geliebten Menschen, den es plötzlich aus dem Leben reißt? Die Schriftstellerin Sabine Gruber hat sich lange Zeit gelassen, um eine Erfahrung zu Literatur zu machen, durch die sie selbst gehen musste. Nah am eigenen Leben, zugleich mit großer, Präzision ermöglichender Distanz erzählt sie in ihrem neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ davon, was es heißt, sich von einem Menschen, mit dem man sein Leben viele Jahre teilte, völlig unvorbereitet verabschieden zu müssen. Es wäre aber nicht Sabine Gruber, wenn es darin nicht zugleich zutiefst politisch zuginge. Dass der Faschismus nicht erst außerhalb der eigenen vier Wände beginnt, sondern es nicht zuletzt familiäre Kontexte, Beziehungen sind, die im Innersten davon geprägt sind, macht dieser Roman geradezu leichthändig anschaulich.  

Das Ende naht
dtv

2. ex aequo: Amir Gudarzi (17 Punkte) NEU

Das Ende ist nah“, dtv

Der in Wien lebende Autor Amir Gudarzi hat als Dramatiker schon viele Auszeichnungen erhalten. Mit „Das Ende ist nah“ legt er nun seinen ersten Roman vor. Darin gibt der gebürtige Iraner Einblicke in das, was Menschen auf sich nehmen, wenn sie flüchten, anhand des Schicksals eines jungen Künstlers, der im Roman nur „A.“ genannt wird. Weil er sich an den Protesten gegen das iranische Regime im Jahr 2009 beteiligt, sieht er sich gezwungen, sein Land und seine Familie hinter sich zu lassen. Er landet als Flüchtling in Wien und findet sich in den unterschiedlichen Lagern und Heimen, in die er verfrachtet wird, nur sehr schwer zurecht. Die Einsamkeit, aber auch die Demütigungen, die er in seiner neuen Lebensrealität erfährt, machen ihm schwer zu schaffen. In Wien trifft er auf eine junge Frau, die sich Hals über Kopf in ihn verliebt und bei ihm eine Form von Halt und Unterstützung einfordert, die er nicht geben kann. „Das Ende ist Nah“ nimmt die Leser und Leserinnen mit auf eine fesselnde Reise, in eine Parallelwelt, die mit großer literarischer Kraft nicht nur von Fremdheit und den vielen Spielarten von Gewalt erzählt, sondern auch von Mut, Hoffnung, Liebe und der Macht der Sprache.

Muna
Luchterhand Literaturverlag

2. ex aequo: Terézia Mora (17 Punkte) NEU

Muna oder Die Hälfte des Lebens“, Luchterhand

Die 1971 in Sopron geborene Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora kann auf eine beachtliche Liste von Auszeichnungen zurückblicken, darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis, der Deutsche Buchpreis und nicht zuletzt der Georg-Büchner-Preis, der ihr 2018 für ihr Gesamtwerk verliehen wurde. Im Begründungsschreiben der Jury war damals zu lesen: „In ihren Romanen und Erzählungen widmet sich Terézia Mora Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit.“ Das trifft auch auf ihren neuen Roman „Muna oder die Hälfte des Lebens“ zu, der es abermals auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Die Handlung setzt im Jahr 1989 ein, in der DDR, unmittelbar vor dem Mauerfall. Die Abiturientin Muna verbringt eine Nacht mit dem Französischlehrer und Fotografen Magnus, doch im Wirbel der politischen Ereignisse verlieren sich die beiden sogleich wieder aus den Augen. Sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und lassen sich schnell auf eine Beziehung ein, doch schon früh treten die ersten Probleme auf. Magnus ist oft unbeherrscht und begegnet Muna mit zunehmender Distanz und Gefühlskälte. Doch sie hält an der Beziehung fest, schluckt ihre verletzten Gefühle runter und redet sich ein, dass alles besser wird. Mit bedrückender Genauigkeit beschreibt Terézia Mora was es bedeutet, sein Leben in gänzlicher Abhängigkeit von einem anderen zu führen.

Der Pole
S. Fischer

4. ex aequo: J.M. Coetzee (14 Punkte)

Der Pole“, S. Fischer
Übersetzung: Reinhild Böhnke

Der 1940 in Kapstadt geborene J. M. Coetzee kann auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Als erster Schriftsteller wurde er gleich zwei Mal mit dem Booker Price ausgezeichnet, 2003 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Zuletzt machte Coetzee 2019 mit seiner „Jesus-Trilogie“ auf sich aufmerksam, in „Der Pole“ erzählt er die Geschichte eines gealterten Pianisten, der sich in eine wesentlich jüngere Frau verliebt. Die beiden lernen sich nach einem Konzert in Barcelona kennen. Er, wie der Titel schon verrät, Pole und Anfang 70. Sie, Katalin, knapp 50 und Mutter zweier erwachsener Kinder. Die Frau, wie sie im Buch lange Zeit nur genannt wird, ist zunächst alles andere als angezogen von ihrem Gegenüber. Sie findet ihn zu groß, seine Art zu sprechen irritiert sie, auch wenn sie einräumt, dass dies seinen schlechten Englischkenntnissen geschuldet sein mag. Doch als er beginnt ihr romantische Avancen zu machen und sie immer hartnäckiger zu beeindrucken versucht, ist ihr Interesse plötzlich geweckt. Doch warum eigentlich? Beim Lesen begleitet man die Frau, deren Name sich als Beatriz herausstellt, beim Nachdenken über diese Frage, während sie sich gleichzeitig immer intensiver auf „den Polen“ einlässt. Und so beginnt ein rätselhaftes Spiel zwischen zwei nicht weniger rätselhaften Figuren, mit dem Coetzee einmal mehr seine große literarische Raffinesse unter Beweis stellt.  

Mehr dazu auf oe1.orf.at

Weil da war etwas im Wasser
Picus

4. ex aequo: Luca Kieser (14 Punkte) NEU

Weil da war etwas im Wasser“, Picus

Der in Wien lebende Autor Luca Kieser entführt die Leser:innen in seinem Debütroman „Weil da war etwas im Wasser“ in die Tiefen des Ozeans. Dort lebt eine Riesenkalmarin – ein besonders großer Tintenfisch. Aus der Sicht ihrer acht Arme wird in dem Roman die Geschichte dieser Riesenkalmarin erzählt. Kieser lässt jeden Arm seine eigene Geschichte erzählen und spielt in dem Roman damit, die klassischen Regeln des Lesens zu brechen. Immer wieder laden die Arme ein, einige Kapitel zu überspringen und Einschübe querzulesen. Außerdem erzählen die Arme historische Geschichten von Männern, die sich in ihrem künstlerischen Schaffen in unterschiedlichen Epochen mit Meerestieren auseinandergesetzt haben. Sie alle sind zu dem Zeitpunkt – ebenso wie der Autor – etwa 30 Jahre alt. Luca Kieser verknüpft in seinem Roman geschickt verschiedene Geschichten mit autofiktionalen und naturphilosophischen Elementen ineinander, die allesamt von einem Meereswesen, der Riesenkalmarin, zusammengehalten werden. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Mehr dazu auf fm4.orf.at

V13
Matthes und Seitz

6. ex aequo: Emmanuel Carrère (12 Punkte) NEU

„V13. Die Terroranschläge in Paris“, Matthes und Seitz
Übersetzung: Claudia Hamm

Am Freitag, den 13. September 2015, sprengten sich in der Pariser Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor dem Stade de France sieben IS-Kämpfer in die Luft. 131 Menschen wurden in den Tod gerissen und fast 700 verletzt. „V13“, der Titel von Emmanuel Carrères neuem Buch, bezieht sich auf eben jenen verhängnisvollen vendredi 13, der die französische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert hat. Im September 2021 startete das Gerichtsverfahren gegen die Komplizen des Attentats, von dem man sich in Frankreich nicht nur Aufklärung, sondern auch Heilung des nationalen Traumas erhoffte. Am 29. Juni 2022 wurde schließlich der Hauptangeklagte Salah Abdeslam zu lebenslanger Haft verurteilt, auch alle 19 Mitangeklagten wurden schuldig gesprochen. Emmanuel Carrère, der neben Houellebecq zu den wirkmächtigsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs zählt, besuchte die Verhandlungen Tag für Tag und beschrieb seine Erfahrungen in einer wöchentlichen Kolumne für den Nouvel Observateur. „V13“ ist demensprechend harte Kost: minuziös schildert Carrère den Ablauf des Prozesses, inklusiver aller grausamen Details zum Hergang der Anschläge. Dabei bewahrt er jedoch stets einen klaren, anständigen Blick auf die Ereignisse, fern von Sensationsgier oder heuchlerischem Mitleid.

Arson
Jung und Jung

6. ex aequo: Laura Freudenthaler (12 Punkte) NEU

„Arson“, Jung und Jung

Wer sich für österreichische Gegenwartsliteratur interessiert, kommt an ihr nicht umhin: Laura Freudenthaler. „Arson“ lautet der Titel ihres jüngsten Roman, Auszüge daraus waren bereits im Rahmen des Auftritts der Autorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 zu hören, wo Freudenthaler mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde. „Arson“ bedeutet „Brandstiftung“ - die Welt, die Laura Freudenthaler hier beschreibt, ist eine, die außer Kontrolle geraten ist: der menschengemachte Klimawandel zeitigt verheerende Folgen. Die Schriftstellerin hat für den Roman viel recherchiert, das prägt den Text in seinen Tiefenschichten. Ins Zentrum stellt sie zwei Figuren: eine weibliche, die die aus den Fugen geratende Welt beobachtet und sich zunehmend aus dieser zurückzieht und eine männliche: einen Wildfeuerforscher, den der sich verschlechternde Zustand unseres Planeten immer hilfloser macht. Depression, Schlaflosigkeit: sie sind im Text allgegenwärtig. „Ich muss glauben, dass mein kleines Leben eine Bedeutung hat, sonst mache ich gar nichts mehr“, schreibt Laura Freudenthaler an einer Stelle. „Arson“ zeigt nicht zuletzt: Literatur greift viel tiefer als jede Therapie.

Als die Welt entstand
Zsolnay

8. ex aequo: Drago Jančar (10 Punkte) NEU

„Als die Welt entstand“, Zsolnay
Übersetzung: Erwin Köstler

Slowenien ist heuer Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, dementsprechend viele slowenische Buchtitel prägen den anbrechenden Bücherherbst. Ein Highlight in diesem Zusammenhang: der neue Roman von Drago Jančar. Seit Jahrzehnten gilt er als einer der wichtigsten slowenischen Autoren der Gegenwart, vor drei Jahren wurde ihm der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur zuerkannt. Schonungslose Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Heimat Slowenien und damit auch mit dem Kommunismus jugoslawischer Prägung, durchzieht sein Leben sowie  sein Werk. Und so verhält es sich auch mit seinem neuen Roman „Als die Welt entstand“: er ist im Jugoslawien nach dem 2. Weltkrieg angesiedelt. Der stille Held ist der Sohn eines überzeugten Kommunisten, der beobachtet und lernt. Drago Jančar zeigt mit dem Roman wiederholt, worin seine Meisterschaft liegt: so zu erzählen, dass man das Buch ab der ersten Seite nicht mehr aus der Hand legen möchte – und zugleich ohne sich anzubiedern an die Leserschaft. 

Tausend und ein Morgen
S. Fischer

8. ex aequo: Ilija Trojanow (10 Punkte) NEU

„Tausend und ein Morgen“, S. Fischer

Während gegenwärtig diverse Dystopien den Buchmarkt beherrschen, bringt Ilija Trojanow mit seinem Roman „Tausend und ein Morgen“ einen Roman heraus, der maßgeblich von einer Utopie geprägt ist: Geld wie Gier sind in dieser erdachten Welt abgeschafft, die Menschenrechte gelten universell, diverse Krisen, die unserer Gegenwart prägen, überwunden. Von dieser Utopie aus schickt Ilija Trojanow seine Heldin Cya, eine Spielart der Scheherezade, in die Vergangenheit, um die Geschichte dort zu korrigieren, wo sie schreckliche Verheerungen angerichtet hat. Ein Roman voller Virilität und rebellischer Erzähllust, der geschichten- und bildreich veranschaulicht: wie wir hinkünftig leben werden, wird auch von unserer Vorstellungskraft und Fertigkeit zu erzählen abhängen.

Mobilmachung
Schöffling & Co.

10. Margit Schreiner (9 Punkte) NEU

„Mobilmachung“, Schöffling

"Wir alle sind traurige Tiere“, schreibt Margit Schreiner in ihrem jüngsten Buch „Mobilmachung. Über das Private“. Am Unbehagen, das mit der Existenz des Menschen zu tun hat, arbeitet sich die Schriftstellerin, die seit Jahrzehnten mit ihren Büchern die österreichische Gegenwartsliteratur prägt, seit Langem ab. In ihrem neuen Buch widmet sich die 1953 in Linz geborene Autorin ihren ersten zwei Lebensjahren und schaut, indem sie die Lebenswelt des Embryos rekonstruiert, sogar noch weiter zurück. Mit ihrem unverwechselbaren Blick auf die Welt erzählt Margit Schreiner die Atmosphäre ihrer Kindheit in den 1950er Jahren. Dabei macht sich Margit Schreiner auch Gedanken über unausgeglichene Geschlechterverhältnisse, gibt viel Privates preis und verhandelt gleichzeitig den Ursprung des Menschseins mit. „Mobilmachung. Über das Private“ ist erneut ein Beweis dafür, dass Margit Schreiner zu den originellsten österreichischen Schriftstellerinnen ihrer Generation zählt.

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