Die besten 10 im August 2023
1. Sabine Gruber (52 Punkte) NEU
„Die Dauer der Liebe“, C.H. Beck
Wie schreiben über einen Schmerz, der einen in den Wahnsinn treibt? Wie eine Form finden für den Verlust eines geliebten Menschen, den es plötzlich aus dem Leben reißt? Die Schriftstellerin Sabine Gruber hat sich lange Zeit gelassen, um eine Erfahrung zu Literatur zu machen, durch die sie selbst gehen musste. Nah am eigenen Leben, zugleich mit großer, Präzision ermöglichender Distanz erzählt sie in ihrem neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ davon, was es heißt, sich von einem Menschen, mit dem man sein Leben viele Jahre teilte, völlig unvorbereitet verabschieden zu müssen. Es wäre aber nicht Sabine Gruber, wenn es darin nicht zugleich zutiefst politisch zuginge. Dass der Faschismus nicht erst außerhalb der eigenen vier Wände beginnt, sondern es nicht zuletzt familiäre Kontexte, Beziehungen sind, die im Innersten davon geprägt sind, macht dieser Roman geradezu leichthändig anschaulich.
2. J.M. Coetzee (25 Punkte)
„Der Pole“, S. Fischer
Übersetzung: Reinhild Böhnke
Der 1940 in Kapstadt geborene J. M. Coetzee kann auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Als erster Schriftsteller wurde er gleich zwei Mal mit dem Booker Price ausgezeichnet, 2003 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Zuletzt machte Coetzee 2019 mit seiner „Jesus-Trilogie“ auf sich aufmerksam, in „Der Pole“ erzählt er die Geschichte eines gealterten Pianisten, der sich in eine wesentlich jüngere Frau verliebt. Die beiden lernen sich nach einem Konzert in Barcelona kennen. Er, wie der Titel schon verrät, Pole und Anfang 70. Sie, Katalin, knapp 50 und Mutter zweier erwachsener Kinder. Die Frau, wie sie im Buch lange Zeit nur genannt wird, ist zunächst alles andere als angezogen von ihrem Gegenüber. Sie findet ihn zu groß, seine Art zu sprechen irritiert sie, auch wenn sie einräumt, dass dies seinen schlechten Englischkenntnissen geschuldet sein mag. Doch als er beginnt ihr romantische Avancen zu machen und sie immer hartnäckiger zu beeindrucken versucht, ist ihr Interesse plötzlich geweckt. Doch warum eigentlich? Beim Lesen begleitet man die Frau, deren Name sich als Beatriz herausstellt, beim Nachdenken über diese Frage, während sie sich gleichzeitig immer intensiver auf „den Polen“ einlässt. Und so beginnt ein rätselhaftes Spiel zwischen zwei nicht weniger rätselhaften Figuren, mit dem Coetzee einmal mehr seine große literarische Raffinesse unter Beweis stellt.
3. Franz Schuh (19 Punkte) NEU
„Ein Mann ohne Beschwerden“, Zsolnay
Als „titanisch gebildeter Denker“ gilt er vielen Zeitgenossen: Franz Schuh. Der inzwischen 76-Jährige zählt ohne Zweifel zu den originärsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Mit seinen politischen, philosophischen und literarischen Ausführungen und Einmischungen prägt er seit Jahrzehnten wesentlich den öffentlichen Diskurs. Sein neues Buch „Ein Mann ohne Beschwerden“ widersetzt sich wieder jeder engen Genrezuweisung: es ist eine Sammlung von Essays, in die sich unter anderem Lyrisches mischt. Es ist ein typischer Franz Schuh, ließe sich sagen: darin wird über die großen politischen Fragen der Gegenwart genauso erkenntnisreich nachgedacht wie über Randständigeres – die Salzburger Festspiele zum Beispiel. In „Ein Mann ohne Beschwerden“ wird nichts gegeneinander ausgespielt, vielmehr Unterschiedlichstes dialektisch zusammengeführt. So ist das Nachdenken über die politische Situation der Gegenwart eines der Herzstücke des Buches. Franz Schuh schreibt: „Den Rechtsruck halte ich in meiner Gegenwartseinschätzung für bereits vollzogen und im Begriff, sich bis ins Autoritäre zu verfestigen.“
4. Mark Aldanow (14 Punkte) NEU
„Der Anfang vom Ende“, Rowohlt
Übersetzung: Andreas Weihe
„Unser noch relativ junges zwanzigstes Jahrhundert wird wahrscheinlich das schlimmste Jahrhundert aller Zeiten. Dieses junge Geschöpf hat bereits die glänzendsten Erwartungen erfüllt“, heißt es in Mark Aldanows erstmals 1943 erschienen Roman. Der titelgebende „Anfang vom Ende“, von dem der berühmte russische Exilautor schreibt, betrifft nicht weniger als das „Alte Europa“ – und doch erinnert der Verfallsprozess, der darin geschildert wird, so bedrückend an unsere Gegenwart, dass man Aldanows Roman fast ein „Buch der Stunde“ nennen könnte. Die Handlung spielt gegen Ende der 1930er: In Moskau herrscht der stalinistische Terror, in Spanien tobt der Bürgerkrieg, in Deutschland haben die Nazis ihre Macht fest etabliert. Vor dem Hintergrund dieses weltpolitischen Chaos reist ein sowjetischer Botschafter inklusive Gefolgschaft nach Paris, um die unterkühlten außenpolitischen Beziehungen zu verbessern. Die Begegnungen und Gespräche, die sie dort erwarten, machen deutlich: Die Welt ist aus den Fugen und die Katastrophe steht längst vor der Tür.
5. ex aequo: Esther Kinsky (10 Punkte)
„Weiter Sehen“, Bibliothek Suhrkamp
Reisen in die Peripherien dieser Welt, sie prägen das Werk der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. In ihren zahlreichen Romanen, Essays und Gedichtbänden rückt sie dasjenige ins Zentrum, was an den äußersten Rändern unserer Wahrnehmung sein Dasein fristet. Der Romanessay „Weiter Sehen“ führt an einen nahezu ausgestorbenen Grenzort zwischen Ungarn und Rumänien. Hier macht die Erzählerin auf einer Reise durch den Südosten Ungarns Halt und lauscht den Gesprächen der Einheimischen, die sich zwischen Resignation und Vergangenheitsglorifizierung hin und her bewegen. Wie so vieles in dem verlassenen Ort hat auch sein einstiger Mittelpunkt seine Tore geschlossen: das Kino, Ungarisch „Mozi“. Sie beschließt den Versuch zu starten, das verfallene Kino wieder zu beleben. Ein Projekt, das in Zeiten der Privatisierung des Kinoerlebnisses durch Netflix und Co notgedrungen scheitern muss, der Autorin jedoch Anlass bietet, eine wortgewaltige und geistreiche Hommage an diese aussterbende Kulturform zu verfassen.
5. ex aequo: Lukas Bärfuss (10 Punkte) NEU
„Die Krume Brot“, Rowohlt
Als „modernen Dürrenmatt“ hat man den Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss schon geadelt. In seinen Romanen, Stücken und Essays setzt der Schweizer auf schonungslose Sozialkritik, die es insbesondere auf die Neoliberalisierung der Gesellschaft abgesehen hat. Wie ein Menschenleben von den Verhältnissen, in die es eingebettet ist, nach und nach zu Grunde gerichtet wird, davon erzählt sein jüngster Roman „Die Krume Brot“. Die Handlung spielt in der Schweiz der 70er Jahre und wohin der Weg seiner Hauptfigur Adelina führt, macht schon der erste Satz klar: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein.“ Geboren in Zürich als Tochter italienischer Einwanderer ist sie noch keine 18 Jahre alt, als sie den riesigen Schuldenberg ihres Vaters vererbt bekommt. Trotz dieser Startschwierigkeiten gibt Adelina nicht auf, auch als ein Kind ihre Situation zusätzlich erschwert, denn schon bald steht sie als Mutter alleine da. Sie arbeitet hart, lässt sich nicht unterkriegen. Doch es reicht einfach nicht. Eine aufrüttelnder Roman, der die Mär von der Leistungsgesellschaft erbarmungslos entlarvt.
8. ex aequo: Ludwig Fels (8 Punkte)
„Mit mir hast du keine Chance“, Jung und Jung
Insgesamt zehn Gedichtbände hat der 2021 verstorbene Ludwig Fels zeitlebens veröffentlicht. Der Band „Mit mir hast du keine Chance“ kombiniert Fundstücke aus dem Nachlass mit einer Auswahl seines umfangreichen lyrischen Werks. Geboren 1946 im fränkischen Treuchtlingen, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, als uneheliches Kind von den Kleinstadtbürgern ausgegrenzt, zog es Ludwig Fels 1983 nach Wien, wo er bis zuletzt lebte. In der deutschsprachigen Literatur gilt er als Solitär: Zwar erschrieb sich der Autodidakt früh den Ruf des „Arbeiterschriftstellers“ und trat kurzzeitig dem „Werkkreis der Literatur der Arbeitswelten“ bei, entzog sich jedoch bewusst jeglicher Form der Vereinnahmung. Sein Vermächtnis: eine Definition von Literatur, deren Orientierungspunkte jenseits der Kategorien des Bildungsbürgertums liegen. Die erste Strophe des ersten Gedichts seines ersten Buch: »Ich bin der L. F. / wohne in einem dieser Häuser / fahre eines dieser Autos / zahle Miete und / die Strafzettel an der Windschutzscheibe / bin ledig und Arbeiter und / in der Mitte / zwischen arm und am ärmsten.«
8. ex aequo: Tess Gunty (8 Punkte) NEU
„Der Kaninchenstall“, Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Sophie Zeitz
Tess Gunty, geboren 1993 in South Bend, Indiana, gilt als der neue Shooting Star der amerikanischen Literatur. Ihr Debütroman „Der Kaninchenstall“ wurde letztes Jahr mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet, damit ist Gunty die jüngste Preisträgerin seit Autorenlegende Philip Roth. Von der internationalen Kritik wird die Schriftstellerin seither in den Himmel gelobt und man sagt ihr sogar nach, der neue David Foster Wallace der amerikanischen Literatur zu sein. Ihr Roman ist ein vielstimmiges Porträt des sogenannten „Rust Belts“, der größten und ältesten Industrieregion der USA, die sich von Chicago über Detroit bis an die Ostküste erstreckt. Der „Kaninchenstall“ im Titel bezieht sich auf einen heruntergekommenen Wohnblock im fiktiven Ort Vacca Vale im Bundesstaat Indiana. Die Nachbarschaft setzt sich aus skurrilen, vereinsamten und verstörten Figuren zusammen, unter ihnen Guntys Protagonistin Blandine. Sie ist 18 Jahre alt, hochbegabt, Vollwaise und Verehrerin der großen deutschen Mystikerin Hildegard von Bingen. Als Vacca Vale von großen Immobilieninvestoren aufgesucht wird, die die Gegend und das umliegende Erholungsgebiet aufwerten wollen, setzt sich Blandine vehement zur Wehr.
8. ex aequo: Zoran Ferić (8 Punkte) NEU
„Die Wanderbühne“, Folio
Übersetzung: Klaus Detlef Olof
Der Schriftsteller und Gymnasiallehrer Zoran Ferić gehört zu den ganz Großen der kroatischen Gegenwartsliteratur. In seinem neuen Roman „Die Wanderbühne“ spannt er ein gigantisches historisches und autobiographisches Panorama: Über 22 Familienmitglieder, vier Generationen und drei Kriege erzählt Ferić die Geschichte seiner Familie. Da ist die Urgroßmutter, die mit einem fahrenden Schauspieler durchbrennt. Der Großvater, der vor der russischen Oktoberrevolution zuerst nach Paris flieht, sich in Zagreb niederlässt und später im Konzentrationslager Jasenovac ermordet wird. Die Mutter, die als sogenannte „Halbjüdin“ den 2. Weltkrieg nur dank eines katholischen Gebetsbuches überlebt. Und schließlich Zoran Ferić selbst, den die Pflege seines kranken Vaters vor dem Einrücken in die Jugoslawienkriege der 90er Jahre bewahrt. Die Tragödien, die seine Familiengeschichte prägen, versteht der Autor dabei durch humorvolle Anekdoten und berührende Liebesgeschichten zu entschärfen.