ORF-Bestenliste Juli
ORF

Die besten 10 im Juli 2023

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Gefährten
Luchterhand

1. Ali Smith (28 Punkte) NEU

Gefährten“, Luchterhand
Übersetzung: Silvia Morawetz

In den letzten Jahren hat die schottische Schriftstellerin Ali Smith mit ihrer Jahreszeiten Tetralogie für Aufsehen gesorgt. „Herbst“, „Winter“, „Frühling“ und „Sommer“ waren der Versuch, der Gegenwart im Schreiben habhaft zu werden, genauer gesagt: die politisch prekäre Entwicklung Großbritanniens seit dem Brexit-Referendum literarisch greifbar zu machen. Mit die „Gefährten“ schlägt Ali Smith jedoch kein neues Kapitel ihres Schaffens auf, sondern fügt dem Ganzen quasi eine fünfte Jahreszeit hinzu – denn mit dem Post-Brexit-Großbritannien ist die Schriftstellerin noch nicht fertig, wird es womöglich noch lange nicht sein. Hauptfigur ist die Künstlerin Sandy, die das Haus ihres Vaters hütet, während der mit Herzproblemen auf der Intensivstation liegt – und das ausgerechnet im Lockdown. Ihre Isolation wird unterbrochen von einem Anruf einer ehemaligen Studienkollegin und Museumskuratorin, von der sie seit Jahrzehnten nichts gehört hat. Diese erzählt Sandy, sie sei beim Transport des sogenannten Boothby-Schlosses (ein kunstvoll gefertigtes Truhenschloss aus dem 16. Jahrhundert) von den britischen Grenzbeamten aufs Schlimmste schikaniert und stundenlang festgehalten worden. Drei Tage später stehen plötzlich die erwachsenen Kinder der Frau vor der Tür und beschuldigen Sandy, ihre Mutter „verrückt“ gemacht zu haben, da diese unmittelbar nach dem Gespräch verkündet habe, nun lesbisch zu sein. Ein Kunstvolles wie rätselhaftes Gegenwartsporträt, das zwischen Traum und Wirklichkeit changiert.

Mit mir hast du keine Chance
Jung und Jung

2. Ludwig Fels (27 Punkte) NEU

Mit mir hast du keine Chance“, Jung und Jung

Insgesamt zehn Gedichtbände hat der 2021 verstorbene Ludwig Fels zeitlebens veröffentlicht. Der Band „Mit mir hast du keine Chance“ kombiniert Fundstücke aus dem Nachlass mit einer Auswahl seines umfangreichen lyrischen Werks. Geboren 1946 im fränkischen Treuchtlingen, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, als uneheliches Kind von den Kleinstadtbürgern ausgegrenzt, zog es Ludwig Fels 1983 nach Wien, wo er bis zuletzt lebte. In der deutschsprachigen Literatur gilt er als Solitär: Zwar erschrieb sich der Autodidakt früh den Ruf des „Arbeiterschriftstellers“ und trat kurzzeitig dem „Werkkreis der Literatur der Arbeitswelten“ bei, entzog sich jedoch bewusst jeglicher Form der Vereinnahmung. Sein Vermächtnis: eine Definition von Literatur, deren Orientierungspunkte jenseits der Kategorien des Bildungsbürgertums liegen. Die erste Strophe des ersten Gedichts seines ersten Buch: »Ich bin der L. F. / wohne in einem dieser Häuser / fahre eines dieser Autos / zahle Miete und / die Strafzettel an der Windschutzscheibe / bin ledig und Arbeiter und / in der Mitte / zwischen arm und am ärmsten.« 

Der Pole
S. Fischer

3. J.M. Coetzee (18 Punkte) NEU

Der Pole“, S. Fischer
Übersetzung: Reinhild Böhnke

Der 1940 in Kapstadt geborene J. M. Coetzee kann auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Als erster Schriftsteller wurde er gleich zwei Mal mit dem Booker Price ausgezeichnet, 2003 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Zuletzt machte Coetzee 2019 mit seiner „Jesus-Trilogie“ auf sich aufmerksam, in „Der Pole“ erzählt er die Geschichte eines gealterten Pianisten, der sich in eine wesentlich jüngere Frau verliebt. Die beiden lernen sich nach einem Konzert in Barcelona kennen. Er, wie der Titel schon verrät, Pole und Anfang 70. Sie, Katalin, knapp 50 und Mutter zweier erwachsener Kinder. Die Frau, wie sie im Buch lange Zeit nur genannt wird, ist zunächst alles andere als angezogen von ihrem Gegenüber. Sie findet ihn zu groß, seine Art zu sprechen irritiert sie, auch wenn sie einräumt, dass dies seinen schlechten Englischkenntnissen geschuldet sein mag. Doch als er beginnt ihr romantische Avancen zu machen und sie immer hartnäckiger zu beeindrucken versucht, ist ihr Interesse plötzlich geweckt. Doch warum eigentlich? Beim Lesen begleitet man die Frau, deren Name sich als Beatriz herausstellt, beim Nachdenken über diese Frage, während sie sich gleichzeitig immer intensiver auf „den Polen“ einlässt. Und so beginnt ein rätselhaftes Spiel zwischen zwei nicht weniger rätselhaften Figuren, mit dem Coetzee einmal mehr seine große literarische Raffinesse unter Beweis stellt.  

Unser Deutschlandmärchen
mikrotext

4. Dinçer Güçyeter (17 Punkte)

Unser Deutschlandmärchen“, mikrotext

Der Schriftsteller Dinçer Güçyeter hat eine für den Literaturbetrieb ziemlich ungewöhnliche Biographie: 1979 wurde er als Sohn türkischer Gastarbeiter im deutschen Nettetal geboren, er absolvierte eine Ausbildung zum Elektromechaniker und arbeitet bis heute in Teilzeit als Gabelstapler-Fahrer. In seinem Verlag Elif hat Güçyeter mehrere Gedichtbände veröffentlich, sein erster Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ist heuer mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Im Spiel mit unterschiedlichsten literarischen Formen und Stimmen hat er darin die Geschichte seiner Familie niedergeschrieben. Da ist Großmutter Hanife, die in ärmlichen Verhältnissen in der anatolischen Provinz aufwächst, ihre Tochter Fatma, die als Braut nach Deutschland geschickt wird und sich nach und nach kaputt arbeitet – und der kleine Dinçer, der seiner Mutter hilft, wo er kann - aber schon bald lieber Gedichte schreiben möchte, als in der Fabrik zu arbeiten. „Ich wollte in meinem Leben mehr als die Geschichte des guten Sohnes.“, heißt es im Roman. Die Geschichte der Güçyeters steht exemplarisch für die so vieler Familien in Deutschland: Partiarchale Strukturen, die harte Realität des Gastarbeiterlebens, Rassismus. Deutlich wird auch, wie sehr die rechtsextremen Anschläge der 90er und später die NSU-Morde zu einem kollektiven Trauma geworden sind.

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Weiter Sehen
Bibliothek Suhrkamp

5. Esther Kinsky (16 Punkte)

„Weiter Sehen“, Bibliothek Suhrkamp                                 

Reisen in die Peripherien dieser Welt, sie prägen das Werk der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. In ihren zahlreichen Romanen, Essays und Gedichtbänden rückt sie dasjenige ins Zentrum, was an den äußersten Rändern unserer Wahrnehmung sein Dasein fristet. Der Romanessay „Weiter Sehen“ führt an einen nahezu ausgestorbenen Grenzort zwischen Ungarn und Rumänien. Hier macht die Erzählerin auf einer Reise durch den Südosten Ungarns Halt und lauscht den Gesprächen der Einheimischen, die sich zwischen Resignation und Vergangenheitsglorifizierung hin und her bewegen. Wie so vieles in dem verlassenen Ort hat auch sein einstiger Mittelpunkt seine Tore geschlossen: das Kino, Ungarisch „Mozi“. Sie beschließt den Versuch zu starten, das verfallene Kino wieder zu beleben. Ein Projekt, das in Zeiten der Privatisierung des Kinoerlebnisses durch Netflix und Co notgedrungen scheitern muss, der Autorin jedoch Anlass bietet, eine wortgewaltige und geistreiche Hommage an diese aussterbende  Kulturform zu verfassen.

Sturz in die Sonne
Limmat

6. C.F. Ramuz (14 Punkte) NEU

Sturz in die Sonne“, Limmat
Übersetzung: Steven Wyss

Charles Ferdinand Ramuz gilt als einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller französischer Sprache, im deutschsprachigen Raum ist der 1887 in Lausanne geborene weitergehend unbekannt. Seinen vor rund 100 Jahren erstmals veröffentlichten Roman „Sturz in die Sonne“ kann man aus heutiger Sicht als den ersten Roman des inzwischen so beliebten Genres „Climate Ficiton“ verstehen. Ausgangspunkt für Ramuz war das Jahr 1921, in dem in Genf eine Rekordtemperatur von 38,3 Grad gemessen wurde. Ramuz inspirierte dieses Wetterereignis zu einem Gedankenexperiment: Was, wenn es auf der Erde immer heißer und heißer würde? Und wie würde die Welt darauf reagieren? In „Sturz in die Sonne“ liegen die Gründe dafür nicht in der grenzenlosen Energie- und Ressourcenverschwendung der Menschheit – sondern an einem Gravitationsunfall. Wissenschaftler entdecken, dass die Erde aus ihrer Umlaufbahn geraten ist und immer rasanter auf die Sonne zusteuert. Bis zum endgültigen Verglühen, so die Einschätzung der Experten, bleibe nur noch wenig Zeit. Die Menschen möchten von dieser Hiobsbotschaft zunächst nichts hören, bis die Anzeichen sich häufen und die Beweise schließlich nicht mehr zu leugnen zu sind.

Avalon
Rowohlt

7. Nell Zink (13 Punkte) NEU

Avalon“, Rowohlt
Übersetzung: Thomas Überhoff

Die US-Amerikanerin Nell Zink zählt zu den originellsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Dabei hatte sie ihren Durchbruch erst mit 50. Entdeckt wurde sie von Jonathan Franzen: denn die Vogel-Expertin hat den berühmten Autor einst in einem Leserbrief dafür kritisiert, dass er keine Ahnung von Vögeln habe. Er war von Zinks Chuzpe so begeistert, dass er zu ihrem Förderer wurde. Mit „Avalon“ legt die in der Nähe von Berlin lebende Autorin nun ihren sechsten Roman vor. Alles dreht sich darin um Bran, eine verwaiste junge Frau, die ihr Leben in der Baumschule ihres Noch-nicht-einmal-Stiefvaters zubringt. Dessen Familie hat Bran als Zehnjährige aufgenommen, nachdem sich ihre Mutter in ein tibetisches Kloster zurückgezogen hat und kurz darauf verstarb. Für die Familie bedeutete das Mädchen vor allem eines: eine billige Arbeitskraft, für die man auch noch Kindergeld kassiert kann. So wächst Bran heran, ohne zu lernen, sich ein Leben außerhalb des Betriebs vorzustellen – bis sie sich in den Literaturstudenten Peter verliebt. Eine Kritik amerikanischen Klassengesellschaft, verpackt in eine leichtfüßige Liebesgeschichte. 

Echos der Vergangenheit
Luchterhand

8. ex aequo: Hugo Hamilton (10 Punkte)

Echos der Vergangenheit“, Luchterhand
Übersetzung: Henning Ahrens

Der Schriftsteller Hugo Hamilton wurde 1953 als Sohn einer Irin und eines Deutschen geboren, er lebt zwischen Dublin und Berlin. In „Echos der Vergangenheit“ setzt er sich mit der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten auseinander, die sich heuer zum 90. Mal jährt. Erzählt wird aus der Perspektive eines Buches, das den Flammen entgangen ist: eine Erstausgabe von Joseph Roths 1924 erschienenen Roman „Die Rebellion“. In der Obhut eines Studenten und getarnt in einem Umschlag von Fontanes „Effi Briest“, schafft es das Buch unbeschadet aus Deutschland hinaus, landet schließlich in Amerika - von wo aus es Jahrzehnte später im Gepäck der Enkelin jenes Studenten wieder nach Berlin zurückgekehrt. Denn eine Zeichnung einer geheimnisvollen Landkarte, die sie in dem Buch entdeckt hat, lässt die junge Frau nicht mehr los und sie beschließt Nachforschungen anzustellen. Kunstvoll verwebt Hugo Hamilton die Romanhandlung mit Joseph Roths Biographie und der Geschichte des alten Leiermanns, der Hauptfigur von „Die Rebellion“.

Das Geheimnis meines Erfolgs
Leykam

8. ex aequo: Margit Mössmer (10 Punkte) NEU

„Das Geheimnis meines Erfolgs“, Leykam

„Das Geheimnis meines Erfolgs“ ist der Titel des dritten Romans der 1982 in Hollabrunn geborenen Autorin und Kulturvermittlerin Margit Mössmer. Es ist ein berührendes Werk, das den Scheinwerfer auf das eher selten beleuchtete Thema Autismus wirft. Aus der Perspektive eines Kindes, das auf die Welt kommt und mit dieser nicht einverstanden ist, erzählt Margit Mössmer von einer schwierigen aber ganz besonderen Mutter-Kind-Beziehung. Da ist Nina, die junge alleinerziehende Mutter und Alex, das Kind, dem die Welt fremd und unlogisch erscheint, zuerst ein Schreibaby, dann eine „auffällige“ Schülerin. Mössmer gelingt es, die Ambiguität der Krankheit ins Licht zu rücken: Die enorme Überforderung und Belastung der Betroffenen einerseits, das ungemein Faszinierende dieses speziellen Blicks auf die Welt andererseits. Es ist ein spannender und neuer Blick auf das Thema Mutterschaft und auf Autismus. Einfühlsam, mit Leichtigkeit und auch mit Humor erzählt Margit Mössmer von einer bedingungslosen Mutter-Kind-Liebe.

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Pompeji
dtv

10. Eugen Ruge (9 Punkte)

Pompeji“, dtv

Mit seinem autobiografischen DDR-Familienepos „In Zeiten des abnehmenden Lichts” hat sich Eugen Ruge in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben, 2011 wurde der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Nach darauffolgenden Büchern wie „Follower“ oder „Metropol“ lässt Ruge mit seinem neuen Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ die eigene Familiengeschichte nun hinter sich. Schauplatz ist das titelgebende Pompeji, und zwar im Jahre 79 nach Christus. Hauptfigur ist der Junge Jowna, der als Sohn eines Metzgers am Golf von Neapel lebt. Nachdem er hört, wie ein griechischer Bergbauspezialist vor einem drohenden Vulkanausbruch warnt, versucht er mit schwingenden Reden die Bevölkerung davon zu überzeugen, eine neue Siedlung einige Kilometer von Pompeji zu gründen.



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