Bestenliste Juni
ORF

Die besten 10 im Juni 2023

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Dschomba
Otto Müller Verlag

1. Karin Peschka (30 Punkte)

„Dschomba“, Otto Müller

In ihrem neuen Roman begibt sich die Schriftstellerin Karin Peschka in ihre oberösterreichische Heimat, genauer gesagt nach Eferding, wo sie als Wirtshaustochter aufgewachsen ist, bevor sie Jahre später den Weg zum Schreiben gefunden hat. Mit „Dschomba“ stellt Peschka einmal mehr ihre große Zuneigung für Randfiguren und gesellschaftliche Außenseiter unter Beweis, denn ein solcher ist der titelgebende Held Dragan Džomba. Aufgetaucht ist der Serbe Anfang der 50er Jahre, da hat er halb nackt zwischen den Gräbern des Eferdinger Friedhofs getanzt und es ist einzig dem Herrn Dechant zu verdanken, dass man ihn nicht gewaltsam verjagt hat. Jahrzehnte später gehört er immer noch nicht ganz dazu und seine Geschichte bleibt immer noch ein Rätsel, denn am Land werden nicht viele Fragen gestellt. Der gealterte Džomba sitzt nun quasi täglich im Gasthaus zum „Roten Krebs“, lässt sich von der jüngsten Wirtshaustochter seine Biere bringen, die zu dem Fremden eine tiefe Verbundenheit spürt.

Die Schwerkraft der Verhältnisse
Bibliothek Suhrkamp

2. Marianne Fritz (24 Punkte)        

„Die Schwerkraft der Verhältnisse“, Bibliothek Suhrkamp

Eine Ausnahmeschriftstellerin, das war Marianne Fritz ganz ohne Zweifel. Ihr mehrere tausend Seiten umfassendes Romanprojekt „Die Festung“ ist legendär, auch wenn es durch die sprachliche Komplexität und den monströsen Umfang nur wenig rezipiert wurde. Im Zentrum ihres Schreibens stand die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Platz der „kleinen Leute“ darin. Interviews hat sie vermieden, auch Fotos gibt es von der 1948 in der Steiermark geborene Fritz nur wenige. 2007 starb Marianne Fritz, mit einer Neuauflage ihres Debutromans „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ lädt der Suhrkamp Verlag zu Wiederentdeckung ein. Sprachlich zugänglicher als ihr Spätwerk, erzählt Fritz darin ein Nachkriegsdrama in der Stadt Donaublau und überträgt den Medea-Mythos ins 20. Jahrhundert.

Mehr dazu auf Ö1

Steine aus dem Himmel
Bibliothek Suhrkamp

3. ex aequo: Tomaž Šalamun (17 Punkte) NEU  

Steine aus dem Himmel“, Bibliothek Suhrkamp
Übersetzung: Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck

Tomaž Šalamun gilt als der bedeutendste und international bekanntester Dichter der slowenischen Gegenwartsliteratur, 2014 ist der 1941 in Zagreb geborene Schriftsteller verstorben. 51 Gedichtbände zählt sein Werk, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Er war Herausgeber des Literaturmagazins „Perspektive“, sein Debüt „Poker“ im Jahr 1966 gilt heute als Wendepunkt in der slowenischen Lyrik. Er war studierter Kunsthistoriker, arbeitete nebenher auch als Broker an der Börse, war Kulturattachée in New York, wo er bis heute als Dichter hoch verehrt wird. In der Reihe Bibliothek Suhrkamp ist nun eine Auswahl der Gedichte aus seinem Spätwerk erschienen, die erstmals in deutscher Übersetzung und gleichzeitig ein guter Einstieg in den lyrischen Kosmos des Dichters ist. Er selbst beschrieb seine Gedichte als „Steine aus dem Himmel“ – denn genau so würden sie ihm zufliegen. 

Rezitativ
Rowohlt

3. ex aequo: Toni Morrison (17 Punkte) NEU

Rezitativ“, Rowohlt
Übersetzung: Tanja Handels

Als erste afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin hat Toni Morrison 1993 Geschichte geschrieben, knapp vier Jahre sind seit dem Tod der Schriftstellerin inzwischen vergangen. In ihrem umfangreichen Romanwerk hat sich Morrison mit der Perspektive der schwarzen Frau innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft auseinandergesetzt, ausgehend von ihrer eigenen Biographie. „Rezitativ“ ist die einzige Erzählung, die Morrison je geschrieben hat. Veröffentlicht wurde der Text bereits 1983, erstmals liegt er nun in deutscher Übersetzung vor. Es ist eine Art literarisches Experiment, dem die Schriftstellerin ihr Publikum hier ausliefert: zwei achtjährige Mädchen, Twyla und Roberta, lernen sich in einem Kinderheim kennen. Twyla landet im Heim, weil ihre Mutter die ganze Nacht tanzen ging und sie alleine ließ, Roberta wiederum, weil ihre Mutter ständig krank war. Eines der Mädchen ist schwarz, das andere weiß – doch wer von beiden welche Hautfarbe hat, wird nicht verraten. Unweigerlich beginnt man beim Lesen zu rätseln und sitzt dabei wieder und wieder den eigenen rassistischen Vorurteilen auf. Denn sobald man glaubt, ein eindeutiges Indiz gefunden zu haben, kommt das nächstes Indiz, dass das vorherige entkräftet.

Pompeji
dtv

5. ex aequo: Eugen Ruge (14 Punkte)  NEU

Pompeji“, dtv

Mit seinem autobiografischen DDR-Familienepos „In Zeiten des abnehmenden Lichts” hat sich Eugen Ruge in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben, 2011 wurde der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Nach darauffolgenden Büchern wie „Follower“ oder „Metropol“ lässt Ruge mit seinem neuen Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ die eigene Familiengeschichte nun hinter sich. Schauplatz ist das titelgebende Pompeji, und zwar im Jahre 79 nach Christus. Hauptfigur ist der Junge Jowna, der als Sohn eines Metzgers am Golf von Neapel lebt. Nachdem er hört, wie ein griechischer Bergbauspezialist vor einem drohenden Vulkanausbruch warnt, versucht er mit schwingenden Reden die Bevölkerung davon zu überzeugen, eine neue Siedlung einige Kilometer von Pompeji zu gründen.

Glory
Suhrkamp

5. ex aequo: NoViolet Bulawayo (14 Punkte)   

Glory“, Suhrkamp
Übersetzung: Jan Schönherr

NoViolet Bulawayo wurde 1982 in Simbabwe geboren, seit ihrem 18. Lebensjahr lebt sie in den USA. „Glory“ ist ihr zweiter Roman, darin setzt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslands auseinander, allen voran mit Langzeitherrscher Robert Mugabe. 40 Jahre war Mugabe an der Macht, sein Amtsantritt 1987 war zunächst von Hoffnung begleitet, doch schon in den 90er Jahren standen Korruption und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Bulawayo erzählt diese Geschichte vom Ende her – und als Tierfabel. „Jidada“ heißt das Land im Roman, das „Land der Farmtiere“. Mugabe wird darin zu einem klapprigen Gaul, der sich der Tatsache stellen muss, dass die Tiere seines Landes unzufrieden sind. Die deutliche Referenz auf George Orwell hat einen Hintergrund: Bulawayo war aufgefallen, dass ihre Landsleute die Lage in Simbabwe regelmäßig mit „Farm der Tiere“ verglichen.

Going Zero
Diogenes

7. ex aequo: Anthony McCarten (12 Punkte) NEU 

Going Zero“, Diogenes
Übersetzung: Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Im deutschsprachigen Raum ist Anthony McCarten bislang noch wenig bekannt, in Großbritannien hat sich der gebürtige Neuseeländer vor allem als Drehbuchautor einen Namen gemacht. Für „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ wurde er 2014 mit dem BAFTA-Award ausgezeichnet und war für den Oscar nominiert. Seine Erfahrung als Drehbuchautor merkt man auch seinem nun auf Deutsch übersetzten Roman „Going Zero“ im besten Sinne an. McCarten legt hier einen rasanten Thriller vor, der einer simplen und gerade darum so reizvollen Dramaturgie folgt: zehn Personen versuchen auf Einladung der CIA und einem Social-Media-Mogul für exakt 30 Tage vom digitalen Radar zu verschwinden und unauffindbar zu bleiben – trotz des Einsatzes allerneuester Technologien und Methoden. Wem das gelingt, dem winken drei Millionen Dollar Belohnung. Die junge Bibliothekarin Kaitlyn beschließt sich auf diese Herausforderung einzulassen, was sie antreibt, ist jedoch nicht das Geld, sondern eine ganze eigene Agenda. Anthony McCarten, der selbst als eine Art digitales U-Boot lebt und Soziale Netzwerke komplett meidet, hat hier eine eindringliche Warnung vor den Gefahren von Big Data verfasst – die überzeugt, weil sie eben nicht dystopisch, sondern ganz und gar realistisch ist.

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Unser Deutschlandmärchen
mikrotext

7. ex aequo: Dinçer Güçyeter (12 Punkte) NEU

Unser Deutschlandmärchen“, mikrotext

Der Schriftsteller Dinçer Güçyeter hat eine für den Literaturbetrieb ziemlich ungewöhnliche Biographie: 1979 wurde er als Sohn türkischer Gastarbeiter im deutschen Nettetal geboren, er absolvierte eine Ausbildung zum Elektromechaniker und arbeitet bis heute in Teilzeit als Gabelstapler-Fahrer. In seinem Verlag Elif hat Güçyeter mehrere Gedichtbände veröffentlich, sein erster Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ist heuer mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Im Spiel mit unterschiedlichsten literarischen Formen und Stimmen hat er darin die Geschichte seiner Familie niedergeschrieben. Da ist Großmutter Hanife, die in ärmlichen Verhältnissen in der anatolischen Provinz aufwächst, ihre Tochter Fatma, die als Braut nach Deutschland geschickt wird und sich nach und nach kaputt arbeitet – und der kleine Dinçer, der seiner Mutter hilft, wo er kann - aber schon bald lieber Gedichte schreiben möchte, als in der Fabrik zu arbeiten. „Ich wollte in meinem Leben mehr als die Geschichte des guten Sohnes.“, heißt es im Roman. Die Geschichte der Güçyeters steht exemplarisch für die so vieler Familien in Deutschland: Partiarchale Strukturen, die harte Realität des Gastarbeiterlebens, Rassismus. Deutlich wird auch, wie sehr die rechtsextremen Anschläge der 90er und später die NSU-Morde zu einem kollektiven Trauma geworden sind.

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Weiter Sehen
Bibliothek Suhrkamp

7. ex aequo: Esther Kinsky (12 Punkte) NEU   

„Weiter Sehen“, Bibliothek Suhrkamp                                 

Reisen in die Peripherien dieser Welt, sie prägen das Werk der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. In ihren zahlreichen Romanen, Essays und Gedichtbänden rückt sie dasjenige ins Zentrum, was an den äußersten Rändern unserer Wahrnehmung sein Dasein fristet. Der Romanessay „Weiter Sehen“ führt an einen nahezu ausgestorbenen Grenzort zwischen Ungarn und Rumänien. Hier macht die Erzählerin auf einer Reise durch den Südosten Ungarns Halt und lauscht den Gesprächen der Einheimischen, die sich zwischen Resignation und Vergangenheitsglorifizierung hin und her bewegen. Wie so vieles in dem verlassenen Ort hat auch sein einstiger Mittelpunkt seine Tore geschlossen: das Kino, Ungarisch „Mozi“. Sie beschließt den Versuch zu starten, das verfallene Kino wieder zu beleben. Ein Projekt, das in Zeiten der Privatisierung des Kinoerlebnisses durch Netflix und Co notgedrungen scheitern muss, der Autorin jedoch Anlass bietet, eine wortgewaltige und geistreiche Hommage an diese aussterbende  Kulturform zu verfassen.

Echos der Vergangenheit
Luchterhand

7. ex aequo: Hugo Hamilton: (12 Punkte) NEU                

Echos der Vergangenheit“, Luchterhand
Übersetzung: Henning Ahrens

Der Schriftsteller Hugo Hamilton wurde 1953 als Sohn einer Irin und eines Deutschen geboren, er lebt zwischen Dublin und Berlin. In „Echos der Vergangenheit“ setzt er sich mit der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten auseinander, die sich heuer zum 90. Mal jährt. Erzählt wird aus der Perspektive eines Buches, das den Flammen entgangen ist: eine Erstausgabe von Joseph Roths 1924 erschienenen Roman „Die Rebellion“. In der Obhut eines Studenten und getarnt in einem Umschlag von Fontanes „Effi Briest“, schafft es das Buch unbeschadet aus Deutschland hinaus, landet schließlich in Amerika - von wo aus es Jahrzehnte später im Gepäck der Enkelin jenes Studenten wieder nach Berlin zurückgekehrt. Denn eine Zeichnung einer geheimnisvollen Landkarte, die sie in dem Buch entdeckt hat, lässt die junge Frau nicht mehr los und sie beschließt Nachforschungen anzustellen. Kunstvoll verwebt Hugo Hamilton die Romanhandlung mit Joseph Roths Biographie und der Geschichte des alten Leiermanns, der Hauptfigur von „Die Rebellion“.

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