Die besten 10 im Mai 2023
1. Karin Peschka (24 Punkte)
„Dschomba“, Otto Müller
In ihrem neuen Roman begibt sich die Schriftstellerin Karin Peschka in ihre oberösterreichische Heimat, genauer gesagt nach Eferding, wo sie als Wirtshaustochter aufgewachsen ist, bevor sie Jahre später den Weg zum Schreiben gefunden hat. Mit „Dschomba“ stellt Peschka einmal mehr ihre große Zuneigung für Randfiguren und gesellschaftliche Außenseiter unter Beweis, denn ein solcher ist der titelgebende Held Dragan Džomba. Aufgetaucht ist der Serbe Anfang der 50er Jahre, da hat er halb nackt zwischen den Gräbern des Eferdinger Friedhofs getanzt und es ist einzig dem Herrn Dechant zu verdanken, dass man ihn nicht gewaltsam verjagt hat. Jahrzehnte später gehört er immer noch nicht ganz dazu und seine Geschichte bleibt immer noch ein Rätsel, denn am Land werden nicht viele Fragen gestellt. Der gealterte Džomba sitzt nun quasi täglich im Gasthaus zum „Roten Krebs“, lässt sich von der jüngsten Wirtshaustochter seine Biere bringen, die zu dem Fremden eine tiefe Verbundenheit spürt.
2. Teresa Präauer (20 Punkte)
„Kochen im falschen Jahrhundert“, Wallstein
Seit sie vor rund zehn Jahren im Literaturbetrieb aufgetaucht ist, gilt die Schriftstellerin und bildende Künstlerin Teresa Präauer als ausgesprochen eigenwillige Erzählerin. In ihren Romanen, Essays und Erzählungen steht immer das lustvolle Spiel mit der Sprache im Vordergrund, die Geschichten lassen sich von einem eigenen Rhythmus treiben, dem man sich beim Lesen gerne hingibt. „Kochen im falschen Jahrhundert“ heißt ihr neuer Roman, den man auch als eine Art fragmentarisches Kammerspiel beschreiben könnte, denn im Zentrum steht ein Abendessen, dass die Autorin immer wieder neu anfangen lässt. Die Gastgeberin will ein perfektes Dinner ausrichten, möchte aber möglichst entspannt und ungezwungen wirken, sodass man Aufwand und Stress dahinter nicht merkt. Über Gespräche, Kochrezepte, Tischdekoration und Playlists gelingt Teresa Präauer ein herrlich selbstironisches Porträt des modernen Bildungsbürgertums.
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3. Olga Tokarczuk (19 Punkte) NEU
„Empusion“, Kampa
2019 wurde der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk der Literaturnobelpreis verliehen, „Empusion“ ist nun der erste Roman, den sie seit der Auszeichnung geschrieben hat. Die Handlung spielt in einem schlesischen Kurort zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mieczysław Wojnicz, Ingenieursstudent aus Lemberg, kommt nach Görbersdorf, um seine Lunge zu kurieren. Er ist nicht der einzige: von überall ziehen Kranke mit der Hoffnung auf Genese in das kleine Städtchen. Es ist das Jahr 1913 und in dem Gästehaus, wo Wojnicz unterkommt, wird über die brennenden Fragen der Zeit diskutiert. Natürlich ist man sofort an Thomas Mann erinnert – mit dem schlesischen Görbersdorf hat sich Tokarczuk nicht zufällig das historische Vorbild des „Zauberbergs“ als Schauplatz ausgesucht. Wie man es von Tokarczuk gewohnt ist, verleiht sie diesem Setting einen mystischen Twist: denn in der Stadt mehren sich geheimnisvolle Todesfälle und aus den umliegenden Wäldern kriecht etwas Finsteres hervor.
4. ex aequo: Helga Schubert (16 Punkte) NEU
„Der heutige Tag“, dtv
Mit ihrem Sieg bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2020 hat Helga Schubert für ein kleines Literatur-Märchen gesorgt: eigentlich war die Schriftstellerin schon im Jahr 1980 nach Klagenfurt eingeladen gewesen, doch die DDR stellte Schubert damals keine Ausreisegenehmigung aus. Mit dem autobiographischen Text „Vom Aufstehen“ konnte sich Helga Schubert durchsetzen, der Ingeborg Bachmann-Preis hat der 82-Jährigen späte Anerkennung beschert. Auch ihr neuer Roman „Der heutige Tag“ orientiert sich stark an ihrer eigenen Biographie. Schubert schreibt darin über die Pflege ihres 96-jährigen Ehemanns, dem sie versprochen hat seinen Lebensabend nicht im Altersheim, sondern zu Hause zu verbringen. Jenseits von Kitsch und Betroffenheitsprosa erzählt die Schriftstellerin von ihrem kräftezehrenden Alltag, und von ihrer Liebe, die diesen überhaupt erst möglich macht.
4. ex aequo: Marianne Fritz (16 Punkte)
„Die Schwerkraft der Verhältnisse“, Bibliothek Suhrkamp
Eine Ausnahmeschriftstellerin, das war Marianne Fritz ganz ohne Zweifel. Ihr mehrere tausend Seiten umfassendes Romanprojekt „Die Festung“ ist legendär, auch wenn es durch die sprachliche Komplexität und den monströsen Umfang nur wenig rezipiert wurde. Im Zentrum ihres Schreibens stand die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Platz der „kleinen Leute“ darin. Interviews hat sie vermieden, auch Fotos gibt es von der 1948 in der Steiermark geborene Fritz nur wenige. 2007 starb Marianne Fritz, mit einer Neuauflage ihres Debutromans „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ lädt der Suhrkamp Verlag zu Wiederentdeckung ein. Sprachlich zugänglicher als ihr Spätwerk, erzählt Fritz darin ein Nachkriegsdrama in der Stadt Donaublau und überträgt den Medea-Mythos ins 20. Jahrhundert.
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6. Bodo Hell (13 Punkte) NEU
„Begabte Bäume“, Droschl
Seit Jahrzehnten schon zählt Bodo Hell zu den großen Namen der Literaturszene in Österreich. Ein Dichter, ein Wortartist, ein Alpinist, ein Menschenfreund - so wurde der vielfach ausgezeichnete Autor schon genannt. Bodo Hell, der das halbe Jahr als Senner auf der Alm lebt, zeichnet sich durch ein enormes enzyklopädisches Wissen aus. Wie auch in seinem neuen Buch „Begabte Bäume“, das den 80. Geburtstag des Schriftsteller begleitet. Darin bringt er die entlegensten Dinge zueinander, um neue Sichtweisen zu schaffen. Von der Wissenschaft über die Forstbotanik bis hin zur Jägerei, all diese Bereiche hätten ihre eigene Sprache, so Bodo Hell. Der Vorteil der Literatur sei es, all diese zu verbinden und die ironischen Brechungen zwischen ihnen sichtbar zu machen. Seine Texte sind beeindruckende Kunstwerke, ein Dickicht von Spracherkundungen, Kuriosem und Naturwissenschaftlichen.
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7. ex aequo: A.L. Kennedy (12 Punkte) NEU
„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“, Hanser
Übersetzung: Ingo Herzke, Susanne Höbel
Die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy zählt zu den schärfsten Kritikerinnen des Brexits, in ihrer Kolumne „Affentheater“ setzt sie sich seit Jahren mit den gesellschaftspolitischen Problemen Großbritanniens auseinander. Ihr neuer Roman ist vorerst nur auf Deutsch erschienen (Kennedy hat eine große deutsche Leserschaft). Der bissige Titel „Als lebten wir in einem barmherzige Land“ kündigt das Programm des Romans schon an: es ist eine kritische Bilanz über den Zustand Großbritanniens, das durch die Pandemie erheblich geschwächt wurde. Hauptfigur ist die Grundschullehrerin Anna. In ihrer Jugend war sie Teil einer aktivistischen Theatergruppe, die gegen die Regierung demonstriert hat. Ein Verbindungsmann der Polizei hatte sich damals eingeschleust und die Gruppe verraten. 25 Jahre später trifft Anna ihn wieder.
7. ex aequo: Douglas Stuart (12 Punkte) NEU
„Young Mungo“, Hanser Berlin
Übersetzung: Sophie Zeitz
Mit seinem Debütroman „Shuggie Bain“ hat der schottische Schriftsteller Douglas Stuart auf Anhieb den internationalen Durchbruch geschafft. Der autobiographische Roman, ein ebenso liebevolles wie erschütterndes Porträt seiner alkoholkranken Mutter, wurde von der Kritik gefeiert und mit dem renommierten Booker Price ausgezeichnet. „Young Mungo“ ist nun sein zweiter Roman, auch dieser hat autobiographische Züge. Die Handlung spielt in seiner Heimatstadt Glasgow, im äußersten gesellschaftlichen Rand der Stadt. Seine Hauptfigur ist der 15-jährige Mungo, er wohnt mit seiner Schwester, seiner suchtkranken Mutter und seinem gewalttätigen älteren Bruder in einer Sozialwohnung in einem Arbeiterviertel im East End. In diesem toxischen Milieu lässt Autor Douglas Stuart eine berührende Liebesgeschichte aufkeimen: Mungo verliebt sich in seinen Nachbarn James, ihre Beziehung bringt ein wenig Hoffnung in den tristen Alltag. Doch es dauert nicht lange, bis die Realität die beiden auf brutale Weise einholt.
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7. ex aequo: Milena Michiko Flašar (12 Punkte)
"Oben Erde, unten Himmel", Wagenbach
Einsamkeit ist ein stilles aber wachsendes Problem in unserer Zeit und das Thema des neuen Buches der Autorin Milena Michiko Flašar. In ihrem fünften Roman mit dem Titel „Oben Erde, unten Himmel“ schreibt sie über Menschen, die unbemerkt in ihren eigenen vier Wänden sterben. Flašar ist Tochter einer Japanerin und eines Österreichers. Ihr neuer Roman spielt in Japan. „Kodokushi" nennt man dort den unbemerkten Tod vereinsamter Menschen - und genau darum dreht sich der neue Roman von Milena Michiko Flašar. Flašar stellt eine zurückgezogene junge Japanerin ins Zentrum, die einen neuen Job beginnt: Bei einer Firma, die eben solche Leichenfundorte reinigt. In dem Putztrupp findet sie eine neue Familie; bricht aus ihrer eigenen sozialen Isolation aus. Einfühlsam zeigt „Oben Erde, unten Himmel“, wie lebensrettend soziale Beziehungen sein können.
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7. ex aequo: NoViolet Bulawayo (12 Punkte) NEU
„Glory“, Suhrkamp
NoViolet Bulawayo wurde 1982 in Simbabwe geboren, seit ihrem 18. Lebensjahr lebt sie in den USA. „Glory“ ist ihr zweiter Roman, darin setzt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslands auseinander, allen voran mit Langzeitherrscher Robert Mugabe. 40 Jahre war Mugabe an der Macht, sein Amtsantritt 1987 war zunächst von Hoffnung begleitet, doch schon in den 90er Jahren standen Korruption und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Bulawayo erzählt diese Geschichte vom Ende her – und als Tierfabel. „Jidada“ heißt das Land im Roman, das „Land der Farmtiere“. Mugabe wird darin zu einem klapprigen Gaul, der sich der Tatsache stellen muss, dass die Tiere seines Landes unzufrieden sind. Die deutliche Referenz auf George Orwell hat einen Hintergrund: Bulawayo war aufgefallen, dass ihre Landsleute die Lage in Simbabwe regelmäßig mit „Farm der Tiere“ verglichen.