Die besten 10 im April 2023
1. Teresa Präauer (43 Punkte) NEU
„Kochen im falschen Jahrhundert“, Wallstein
Seit sie vor rund zehn Jahren im Literaturbetrieb aufgetaucht ist, gilt die Schriftstellerin und bildende Künstlerin Teresa Präauer als ausgesprochen eigenwillige Erzählerin. In ihren Romanen, Essays und Erzählungen steht immer das lustvolle Spiel mit der Sprache im Vordergrund, die Geschichten lassen sich von einem eigenen Rhythmus treiben, dem man sich beim Lesen gerne hingibt. „Kochen im falschen Jahrhundert“ heißt ihr neuer Roman, den man auch als eine Art fragmentarisches Kammerspiel beschreiben könnte, denn im Zentrum steht ein Abendessen, dass die Autorin immer wieder neu anfangen lässt. Die Gastgeberin will ein perfektes Dinner ausrichten, möchte aber möglichst entspannt und ungezwungen wirken, sodass man Aufwand und Stress dahinter nicht merkt. Über Gespräche, Kochrezepte, Tischdekoration und Playlists gelingt Teresa Präauer ein herrlich selbstironisches Porträt des modernen Bildungsbürgertums.
2. Milena Michiko Flašar (31 Punkte)
"Oben Erde, unten Himmel", Wagenbach
Einsamkeit ist ein stilles aber wachsendes Problem in unserer Zeit und das Thema des neuen Buches der Autorin Milena Michiko Flašar. In ihrem fünften Roman mit dem Titel „Oben Erde, unten Himmel“ schreibt sie über Menschen, die unbemerkt in ihren eigenen vier Wänden sterben. Flašar ist Tochter einer Japanerin und eines Österreichers. Ihr neuer Roman spielt in Japan. „Kodokushi" nennt man dort den unbemerkten Tod vereinsamter Menschen - und genau darum dreht sich der neue Roman von Milena Michiko Flašar. Flašar stellt eine zurückgezogene junge Japanerin ins Zentrum, die einen neuen Job beginnt: Bei einer Firma, die eben solche Leichenfundorte reinigt. In dem Putztrupp findet sie eine neue Familie; bricht aus ihrer eigenen sozialen Isolation aus. Einfühlsam zeigt „Oben Erde, unten Himmel“, wie lebensrettend soziale Beziehungen sein können.
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3. Birgit Birnbacher (26 Punkte)
„Wovon wir leben“, Zsolnay
Es gibt wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, der gerade so im Umbruch begriffen ist wie unsere Arbeitswelt. Der Mangel an Arbeitskräften, die zunehmende Erschöpfung der ArbeitnehmerInnen – Diskussionen über Arbeitszeitverkürzungen und besserer Bezahlung in Mangelberufen haben derzeit Hochkonjunktur. Um das Thema Arbeit dreht sich auch alles im neuen Roman von Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbach: „Wovon wir leben“ lautet der sprechende Titel. Im Zentrum steht Julia Noch, eine Krankenschwester, die eine schwere Asthmaerkrankung am weiteren Ausüben ihres Berufs hindert. Zur Erholung zieht sie zurück ins Dorf ihrer Eltern, sieht sich dort jedoch sogleich mit neuen Aufgaben konfrontiert. Ihre Mutter hat sich nach Jahrzehnten der Selbstaufgabe endlich einen Jugendtraum erfüllt und hat sich nach Italien abgesetzt, und so bleibt die Pflege ihres behinderten Bruders und ihres altersschwachen Vaters ihr überlassen. Rund um diese Figur entwirft Birgit Birnbacher ein Mosaik unterschiedlichster Arbeitsrealitäten, wobei deutlich wird: Die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen, haben die wenigsten.
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4. Joy Williams (24 Punkte) NEU
„Stories“, dtv
Übersetzung: Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
In den USA gilt die Schriftstellerin Joy Williams als eine Art Göttin der Kurzgeschichte, die Liste ihrer Verehrer reicht von Raymond Carver über Jonathan Franzen bis hin zu Bret Easton Ellis. 1944 geboren, veröffentlichte Williams 1974 ihr literarisches Debut, mit dem sie damals Thomas Pynchon beim National Book Award Konkurrenz machte. Bei Dtv erscheint nun ein Best-Of ihrer zwischen 1972 und 2014 erschienenen Geschichten, die Joy Williams nun auch im deutschsprachigen Raum als eine der Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur erfahrbar macht. Mütter verurteilter Mörder, die sich zu einem Außenseiterclub zusammenschließen, eine Frau mit einer obsessiven Faszination für eine nächtliche Radiosendung: Zwischen Komik und Unbehagen angesiedelt, führt jede einzelne der Geschichten ins Unvorhersehbare. Während die frühen Erzählungen noch mehr einem psychologischen Realismus folgen, reichen die späteren immer mehr ins Groteske hinein.
5. ex aequo: Ana Marwan (23 Punkte)
„Verpuppt“, Otto Müller
Für ihren Text „Die Wechselkröte“ wurde die in Slowenien geborene Schriftstellerin Ana Marwan im vergangenen Jahr mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet. Marwan ist eine buchstäblich zweisprachige Autorin, denn sie verfasst ihre Texte sowohl auf Slowenisch als auch auf Deutsch – was im Literaturbetrieb eher selten vorkommt. Ihr Roman „Verpuppt“ erschien im slowenischen Original 2021, nun liegt er auch in deutscher Übersetzung vor. Die Schriftstellerin verwebt darin viele verschiedene Themen miteinander: Das Buch beginnt mit einer unkonventionellen Beziehungsgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem älteren Mann, doch dann nimmt der Roman viele unerwartete Wendungen. Um das Chaos der Welt zu bändigen, erfindet Marwans Hauptfigur Geschichten und Personen und gestaltet die Wahrheit immer wieder neu. „Jede Geschichte ist eine Gewalt an der Wahrheit“ schreibt Ana Marwan. Mit „Verpuppt“ ist ihr ein fesselnder Anti-Roman gelungen, der mit unseren Erwartungshaltungen spielt und immer wieder verblüffende neue Wege einschlägt.
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5. ex aequo: Karin Peschka (23 Punkte) NEU
„Dschomba“, Otto Müller
In ihrem neuen Roman begibt sich die Schriftstellerin Karin Peschka in ihre oberösterreichische Heimat, genauer gesagt nach Eferding, wo sie als Wirtshaustochter aufgewachsen ist, bevor sie Jahre später den Weg zum Schreiben gefunden hat. Mit „Dschomba“ stellt Peschka einmal mehr ihre große Zuneigung für Randfiguren und gesellschaftliche Außenseiter unter Beweis, denn ein solcher ist der titelgebende Held Dragan Džomba. Aufgetaucht ist der Serbe Anfang der 50er Jahre, da hat er halb nackt zwischen den Gräbern des Eferdinger Friedhofs getanzt und es ist einzig dem Herrn Dechant zu verdanken, dass man ihn nicht gewaltsam verjagt hat. Jahrzehnte später gehört er immer noch nicht ganz dazu und seine Geschichte bleibt immer noch ein Rätsel, denn am Land werden nicht viele Fragen gestellt. Der gealterte Džomba sitzt nun quasi täglich im Gasthaus zum „Roten Krebs“, lässt sich von der jüngsten Wirtshaustochter seine Biere bringen, die zu dem Fremden eine tiefe Verbundenheit spürt.
7. Dževad Karahasan (21 Punkte)
„Einübung ins Schweben“, Suhrkamp
Übersetzung: Katharina Wolf-Grießhaber
Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan zählt zu den bekanntesten literarischen Stimmen des Balkans. Immer wieder wird der 1953 im ehemaligen Jugoslawien geborene Karahasan mit dem Nobelpreisträger Ivo Andrić verglichen – nicht zuletzt, weil die multikulturelle Geschichte Bosniens stets ihre gemeinsame Erzählheimat geblieben ist. In seinem neuen Roman widmet sich der „Chronist von Sarajevo“, wie Karahasan oft genannt wird, der jüngsten Geschichte seiner Heimat: der Belagerung Sarajevos während des Bosnien-Krieges. „Einübung ins Schweben“ ist ein Buch über das Leben im Krieg: Es schildert den Alltag der Menschen, die ständigen Herausforderungen, vor die sie die Belagerung stellt. Aber auch die seelischen Veränderungen, die dieser Zustand mit sich bringt. Im Zentrum steht dabei stets die Frage: Was macht der Krieg mit dem Menschen? Verhandelt wird diese über eine scheinbar außenstehende Figur, den Schriftsteller und Altphilologen Peter Hurd. Er befindet sich bei Kriegsausbruch gerade zufällig in Sarajevo und beschließt zu bleiben. Er möchte die Erfahrung einer Extremsituation nicht verpassen, möchte am eigenen Leib das moralische Vakuum des Ausnahmezustands erleben - auch wenn er spürt, wohin dieser Weg führt.
8. ex aequo: Julia Schoch (16 Punkte)
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“, dtv
„Biographie einer Frau“ heißt die Romantrilogie, an der Julia Schoch gerade arbeitet. Nicht zufällig fühlt man sich bei dem schlichten Titel an Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erinnert, denn auch bei Schoch handelt es sich um ein autofiktionales Erzählprojekt. Im ersten Teil „Das Vorkommnis“ erzählte Schoch von einer flüchtigen Begegnung mit einer Frau, die ihr ohne große Erklärungen mitteilte, dass sie beide denselben Vater hätten. Im zweiten Teil „Das Liebespaar des Jahrhundert“ zeichnet Schoch eine Liebesbeziehung im Laufe der Jahrzehnte nach, die sich vor allem aus ihren eigenen Erinnerungen speist. Schoch setzt ein beim Kennenlernen an einer ostdeutschen Universität kurz nach dem Mauerfall, erzählt von der unbeschwerten Zeit frischer Verliebtheit und den Herausforderungen des Familienlebens – bis zum langsamen Prozess einer Entfremdung voneinander, der nach 31 Jahren des Zusammenseins schließlich zu einer klaren Entscheidung führt: Trennung.
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8. ex aequo: Marianne Fritz (16 Punkte) NEU
„Die Schwerkraft der Verhältnisse“, Bibliothek Suhrkamp
Eine Ausnahmeschriftstellerin, das war Marianne Fritz ganz ohne Zweifel. Ihr mehrere tausend Seiten umfassendes Romanprojekt „Die Festung“ ist legendär, auch wenn es durch die sprachliche Komplexität und den monströsen Umfang nur wenig rezipiert wurde. Im Zentrum ihres Schreibens stand die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Platz der „kleinen Leute“ darin. Interviews hat sie vermieden, auch Fotos gibt es von der 1948 in der Steiermark geborene Fritz nur wenige. 2007 starb Marianne Fritz, mit einer Neuauflage ihres Debutromans „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ lädt der Suhrkamp Verlag zu Wiederentdeckung ein. Sprachlich zugänglicher als ihr Spätwerk, erzählt Fritz darin ein Nachkriegsdrama in der Stadt Donaublau und überträgt den Medea-Mythos ins 20. Jahrhundert.
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10. Sofia Andruchowytsch (15 Punkte)
„Die Geschichte von Romana“, Residenz
Übersetzung: Alexander Kratochvil, Maria Weissenböck
Sofia Andruchowytsch, geboren 1982 in Iwano-Frankiwsk, zählt zu den bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen ukrainischen Literatur. 2020 erschien in der Ukraine das „Amadoka-Epos“, ein dreiteiliges Romanprojekt, in dem die Schriftstellerin die komplexe Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert nachzeichnet. Die Veröffentlichung sorgte in ihrer Heimat für großes Aufsehen und heftige Diskussionen, denn Andruchowytsch greift darin nicht nur die Krim-Annexion 2014 auf, sondern auch die unaufgearbeitete Vergangenheit während des Nationalsozialismus. Mit „Die Geschichte von Romana“ ist im Residenz-Verlag nun der erste Teil der Trilogie auf Deutsch erschienen. Im Mittelpunkt steht die Archivarin Romana, deren Mann seit dem Krieg im Donbass als vermisst gilt. In einem schwer verwundeten Soldaten, dem der Krieg sein Gedächtnis genommen hat und sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat, glaubt sie ihren Mann schließlich wieder zu erkennen. Täglich besucht sie ihn im Krankenhaus, um durch ihre Erzählungen seine Erinnerungen anzuregen.