Bestenlisten-plakat
ORF

Die besten 10 im Jänner 2023

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Die geheimste Erinnerung der Menschen
Hanser

1. Mohamed Mbougar Sarr (29 Punkte) NEU

Die geheimste Erinnerung der Menschen, Hanser
Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller

Mit seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ hat Mohamed Mbougar Sarr 2021 für großes Aufsehen gesorgt. Zum einen ist Sarr mit 31 Jahren der jüngste Preisträger des renommierten Prix Goncourt, zum anderen ist er der erste Senegalese, dem diese wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs verliehen wurde. Die Hauptfigur in Sarrs Roman, der junge Senegalese Diégane, stößt darin auf ein in Vergessenheit geratenes Kultbuch: „Labyrinth des Unmenschlichen“ von T.C. Elimane. Als dieser Roman 1938 erschien, wurde sein Autor als der „schwarze Rimbaud“ gefeiert, doch nach einem Skandal und rassistischen Anfeindungen aus der Literaturkritik verschwand Elimane in der Versenkung. In Diéganes Freundeskreis, einer Clique junger Intellektueller aus der afrikanischen Diaspora, wird das Buch bald zur Bibel ihrer eigenen schriftstellerischen Ambitionen und Diégane beschließt sich auf die Spuren des geheimnisvollen Schriftstellers zu machen. Eine Suche, die ihn über drei Kontinente führt und immer größere Rätsel aufgibt – und gleichzeitig zu einer kritischen Parabel auf den Literaturbetrieb der Gegenwart wird.

Die Erweiterung
Suhrkamp

2. Robert Menasse (23 Punkte)

Die Erweiterung“, Suhrkamp

In seinem neuen Roman beschäftigt sich Robert Menasse einmal mehr mit seinem Lieblingsthema: der Europäischen Union. Nach „Die Hauptstadt“ liegt mit „Die Erweiterung“ der zweite Teil Menasses EU-Trilogie vor. Während im ersten Teil mit Brüssel das europäische Zentrum im Fokus stand, ist es nun die Peripherie, genauer gesagt Beitrittskandidat Albanien. Roter Faden von „Erweiterung“ ist der Helm des Skanderbeg, eines albanischen Fürsten des 15. Jahrhunderts. Der Helm ruht im Kunsthistorischen Museum Wien und ist doch Ikone der Albaner für ihre nationale Einheit. Menasse spinnt eine rasante Handlung aus Diebstahl, Fälschung, Mafia und skrupellosen Politikern. Den äußeren Rahmen der Handlung bildet die EU-Erweiterung im Spannungsfeld zwischen Integration und nationalen Egoismen. Die Beobachtung des Autors: In Mitgliedsländern wie Polen gewinnen Politiker die Wahlen mit anti-europäischen Slogans. In Kandidatenländern wie Albanien werden Politiker gewählt, die einen pro-europäischen Kurs verfolgen. Und zwischen allem: das politische Gerangel in Brüssel.

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Angabe der Person
Rowohlt

3. Elfriede Jelinek (22 Punkte)

Angabe der Person“, Rowohlt

Seit der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 hat sich Elfriede Jelinek bekanntlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, Interviewanfragen lehnt sie ab, offizielle Auftritte vermeidet sie. Seit Jahren tritt die Schriftstellerin vor allem über ihre Webseite in Erscheinung, auf der sie laufend publiziert und blitzschnell auf die gesellschaftspolitischen Verwerfungen unserer Zeit reagiert. Diesen Herbst gab es nun gleich zwei für Jelinek ungewöhnliche Lebenszeichen: in dem Dokumentarfilm „Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein aktuelles Interview mit der Autorin zu sehen, mit „Angabe der Person“ liegt wiederum ein Text vor, in dem sie wie nur selten zuvor auch viel Autobiographisches miteinbringt – wenngleich der bissige Sprachwitz, das Kalauern bis zur sprachlichen Kenntlichmachung gesellschaftlicher Missstände, nie ausbleibt. Alles beginnt mit einem unangenehmen Besuch: das deutsche Finanzamt steht plötzlich vor der Tür ihres Münchner Zweitwohnsitzes, man wirft ihr vor, Einkünfte vertuschen zu wollen und den Wohnsitz in Wien nur zum Schein anzugeben, um Steuern zu umgehen. Denn: man habe ihre Texte genau gelesen, und jemand, der Österreich so schlecht macht, könne dort unmöglich tatsächlich wohnen.

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Wir haben es nicht gut gemacht
Piper/Suhrkamp

4. Ingeborg Bachmann/Max Frisch (20 Punkte)

Wir haben es nicht gut gemacht“, Suhrkamp/Piper

1958, kurz nach ihrer Trennung von Paul Celan, lernen sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch in Paris näher kennen. Es ist der Beginn einer durchwegs komplizierten Liebe, einer Beziehung, die man im heutigen Sprachgebrauch wohl „toxisch“ nennen würde. Sowohl Bachmann als auch Frisch sind zu diesem Zeitpunkt große Stars in der deutschsprachigen Literaturszene, ihre Beziehung wird damit automatisch auch Gegenstand heftiger Spekulationen und Gerüchte – nicht zuletzt, weil ein Vertrag zwischen ihnen unerhebliche Seitensprünge toleriert. Vier Jahre bleiben sie ein Paar, die schwierige Zeit zwischen den beiden wird später auch als Stoff in ihre Romane eingegangen, prominent etwa in Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ und in Bachmanns „Todesarten“-Zyklus – was die Gerüchteküche noch über Jahrzehnte brodeln lassen sollte. „Wir haben es nicht gut gemacht“ gibt erstmals Einblicke in diese vertrackte Liebe und räumt mit Vorurteilen auf. Lange galt Ingeborg Bachmann als das Opfer, man warf Frisch oft vor, Bachmann seelisch zerstört und in die Tablettenabhängigkeit getrieben zu haben. Der nun veröffentlichte Briefwechsel widerspricht diesem Bild, auch wenn sich die Beziehung darin nicht weniger destruktiv zeigt. Man entdeckt darin zwei Menschen, die eine beeindruckende Sprache für ihre Gefühle haben, die sie jedoch nicht davor bewahrt, sich gegenseitig aufs Tiefste zu verletzen.  

Quecksilber
Matthes & Seitz

5. Thomas Stangl (14 Punkte)

Quecksilberlicht“, Matthes & Seitz       

Ein Roman ist Thomas Stangls neues Buch „Quecksilberlicht“ höchstens deshalb, weil es das Buchcover behauptet. Denn beim Lesen merkt man schnell, dass diese Gattungszuschreibung nicht passen will, dass es sich hier vielmehr um eine Sammlung fragmentarischer Erzählpassagen handelt, um ein anspruchsvolles Spiel mit literarischen Identitäten. Denn der Erzähler (einer, der dem realen Autor nicht unähnlich scheint) nimmt in den rund 250 Seiten des Buchs die Perspektiven unterschiedlichster historischer Persönlichkeiten in den Blick – von seiner Simmeringer Großmutter über die Schwestern Brontë bis hin zu jenem chinesischen Kaiser, der durch die Einnahme von Quecksilber unsterblich werden wollte und dabei verendete. Was diese Figuren gemeinsam haben? Zugegebenermaßen nicht sehr viel – außer, dass sie allesamt tot sind und von Thomas Stangl auf geradezu magische Weise zum Leben erweckt werden.  

Tomas
S. Fischer

6. Javier Marías (13 Punkte)

Tomás Nevinson“, S. Fischer
Übersetzung: Susanne Lange

Lange Zeit galt Javier Marías als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, doch im September ist der spanische Schriftsteller im Alter von 70 Jahren überraschend an den Folgen einer Covid19-Erkrankung gestorben. Nun ist sein literarisches Vermächtnis in deutscher Übersetzung erschienen: „Tomás Nevinson“ heißt Marías jüngster Roman, in dem der Romancier ein letztes Mal seine große Erzählkunst unter Beweis gestellt hat. Das Buch ist eine Mischung zweier Genres, die für das Werk Marías von Beginn an essentiell waren: dem Spionagethriller und dem Eheroman. Der titelgebende Held Tomás Nevinson ist der Ehemann von Berta Isla, jener Figur, der Javier Marías den gleichnamigen Vorgängerroman gewidmet hat. Nevinson ist als Student in die Fänge des britischen Geheimdienstes MI6 geraten und führt seither ein quälendes Doppelleben als Spion, das er auch vor seiner Frau Berta verheimlichen muss. Nachdem Tomás Nevinson seine Spionagearbeit endlich abgeschlossen geglaubt hat, drängt ihn sein Boss – der skrupellose Bertram Tupra, ein alter Bekannter im Erzählkosmos des Javier Marías – zu einem neuen Auftrag. Nevinson wird in eine spanische Kleinstadt geschickt, wo er eine Frau ausfindig machen und töten soll, die verdächtigt wird, sowohl an Anschlägen der irischen Terrormiliz IRA als auch der baskischen ETA beteiligt gewesen zu sein. Getarnt als Spanischlehrer fängt er dort eine Affäre mit einer Frau an, die immer mehr der Zielperson seines Auftrags zu entsprechen scheint.

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Das andere Mädchen
Bibliothek Suhrkamp

7. Annie Ernaux (12 Punkte) NEU

Das andere Mädchen, Bibliothek Suhrkamp
Übersetzung: Sonja Finck

In Frankreich gilt Nobelpreisträgerin Annie Ernaux seit Jahrzehnten als feministische Ikone, im deutschsprachigen Raum war sie lange eine Unbekannte. Die wenigen Übersetzungen, die es gab, wurden als „Frauenliteratur“ abgestempelt, erst als ihr Bestseller „Die Jahre“ 2017 bei Suhrkamp erschien, änderte sich diese Wahrnehmung schlagartig. Inzwischen wird Annie Ernaux auch im deutschen Sprachraum als Grande-Dame der autobiographischen Literatur gefeiert, Buch für Buch schreibt sie ihr Leben nieder und greift dabei Themen wie soziale Ungleichheit und Frauenrechte auf. Der Suhrkamp-Verlag arbeitet mit großem Erfolg an der Übersetzung ihres Gesamtwerks, „Das andere Mädchen“ heißt der jüngste Titel dieses Projekts. Im französischen Original 2016 erschienen, schreibt Ernaux darin einen Brief an ihre als 6-Jährige verstorbene Schwester, von deren Existenz sie selbst nur durch ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen der Mutter und einer Nachbarin erfuhr. An Hand von ein paar Fotographien, einem Grabmal und ein paar wenigen Gegenständen, versucht die Schriftstellerin dieser unbekannten Schwester Jahrzehnte später näher zu kommen.

Schauergeschichten
Rowohlt

8. Péter Nádas (11 Punkte)

Schauergeschichten“, Rowohlt
Übersetzung: Heinrich Eisterer

Péter Nádas gehört zu den großen zeitgenössischen Autoren von Weltruhm, immer wieder wird er als Kandidat auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Im Oktober feierte er seinen 80. Geburtstags, zeitgleich ist nun auch sein neuer Roman „Schauergeschichten“ erschienen. Zur Zeit der kommunistischen Diktatur wurde Péter Nádas ein Arbeitsverbot auferlegt, mehr als ein halbes Jahrhundert lebt er nun schon zurückgezogen in dem kleinen Dorf Gombosszeg im Nordwesten Ungarns. Ein Dorf ist auch Schauplatz des neuen Romans, der im Ungarn des Jahres 1967 spielt, zur Zeit des Regimes von János Kádár: Die Bauern sind enteignet worden, müssen sich der Kolchosenwirtschaft anpassen. Die dörfliche Idylle, die Schönheit des Landlebens sucht man auf den 600 Seiten des detail- und figurenreichen Romans vergeblich. Péter Nádas entwirft ein Panorama des Neids und der Missgunst, lässt seinen Icherzähler in der Vielstimmigkeit der Dorfbewohner aufgehen, wo jeder Satz auf Beleidung, auf Kränkung und Verletzung des Gegenübers ausgelegt zu sein scheint. Subtil untersucht Nádas den Hass, die Sehnsucht, die Einsamkeit der Bewohner. „Schauergeschichten“ ist ein schonungsloser Roman mit aktuellen Bezügen.

Radio Nacht
Suhrkamp

9. ex aequo: Juri Andruchowytsch (8 Punkte)

„Radio Nacht“, Suhrkamp
Übersetzung: Sabine Stöhr

„Sie hören Radio Nacht, am Mikrofon ist Josip Rotsky, alias Jos. Hier hat es eben zwölf geschlagen, und ich bleibe bis zum Morgen auf Sendung. Heute ist Freitag, der 13. Dezember - alles ideal, wie Sie sehen: der schlimmste Tag des schlimmsten Monats am schlimmsten Wochentag.“

Josip Rotsky ist Radiomoderator, der in dieser Nacht am schlimmsten Tag des Monats, wie es gleich zu Beginn des Romans „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch heißt, sein ungewöhnliches Leben als Musiker und ehemaliger Revolutionär Revue passieren lässt. Der Moderator wird der Mithilfe am Anschlag auf den „Vorletzten Diktator“ beschuldigt und ist deshalb in den Karpaten auf der Flucht. Über seinen Romanhelden sagt der renommierte ukrainische Schriftsteller im Interview: „Ich mag diese Vagabunden, die sich auf dem schmalen und gefährlichen Grat zwischen der Welt der Künstler und der Welt des Verbrechens bewegen.“

Juri Andruchwytsch nutzt geschickt die Lebensgeschichte seines Helden, die politische Entwicklung in der Ukraine während der letzten Jahrzehnte zu erzählen. Mit seiner teils abschweifenden Fantastik und den vielfältigen literarischen Bezügen zu Joseph Roth und Joseph Brodsky erfasst der Roman die ukrainisch-russische Realität weit besser als jeder Realismus. Sabine Stöhr hat das Werk ins Deutsche übersetzt.

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Maria malt
Picus

9. ex aequo: Kirstin Breitenfellner (8 Punkte) NEU

Maria malt“, Picus

Die 2014 verstorbene Maria Lassnig gilt heute längst als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts – diese Anerkennung wurde der Malerin jedoch erst spät zu Teil. Auf Basis umfangreicher Recherchen im Nachlass Lassnigs zeichnet Kirstin Breitenfellner in ihrem Roman „Maria malt“ das Leben einer Künstlerin nach, die als ebenso außergewöhnlich wie widerborstig galt. 1919 als uneheliches Kind in Kärnten geboren, gelang Lassnig in den 40er Jahren die Aufnahme an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Schon früh verkehrte sie in den Kreisen der Wiener Avant-Garde, musste jedoch bald erkennen, dass Frauen dort, wenn überhaupt, nur an den äußersten Rändern Platz haben. Eng an den biographischen Tatsachen entlang, ohne diese jedoch als Korsett zu begreifen, schreibt Breitenfellner über Lassnigs schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, die nicht minder schwierige Beziehung zum zehn Jahre jüngeren Arnulf Rainer – und ihren kompromissloses Kampf um die Etablierung als Künstlerin in einem männerdominierten Kunstbetrieb.

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Taube und Wildente
dtv

9. ex aequo: Martin Mosebach (8 Punkte) NEU

Taube und Wildente“, dtv

An Martin Mosebach scheiden sich die Geister: Für die einen ist der Schriftsteller und Georg Büchner-Preisträger ein großer Erzähler unserer Zeit, für die anderen ein großbürgerlicher Autor mit antiquiertem Stil (woran seine offen konservative Haltung zur Welt sicher nicht unschuldig ist). Wie auch immer man zu ihm stehen mag, klar ist, dass es dem Schriftsteller immer wieder gelingt, die seelischen Abgründe des europäischen Bürgertums literarisch auszuloten – so auch in seinem jüngsten Roman „Taube und Wildente“. In einem schicken Landhaus in der französischen Provence lässt Mosebach eine reiche Familie während der alljährlichen Sommerfrische aneinandergeraten. Hausherrin und Hausherr sind gerade beide in komplizierte Seitensprünge verwickelt, die drückende Hitze schlägt auf die Gemüter, und so entfacht plötzlich ein heftiger Streit über das Gemälde „Tote Feldtaube und Wildente“, einem Stillleben aus dem 19. Jahrhundert. Der Ehemann sieht darin ein modernes Meisterwerk, die Ehefrau möchte es verkaufen. An Hand dieses Ehestreits entwirft Mosebach ein Panorama zwischenmenschlicher Grausamkeit, das sich auch als Sittenbild einer moralisch verkommenen Gesellschaft lesen lässt.

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