Die besten 10 im Dezember 2022
1. Robert Menasse (47 Punkte)
„Die Erweiterung“, Suhrkamp
In seinem neuen Roman beschäftigt sich Robert Menasse einmal mehr mit seinem Lieblingsthema: der Europäischen Union. Nach „Die Hauptstadt“ liegt mit „Die Erweiterung“ der zweite Teil Menasses EU-Trilogie vor. Während im ersten Teil mit Brüssel das europäische Zentrum im Fokus stand, ist es nun die Peripherie, genauer gesagt Beitrittskandidat Albanien. Roter Faden von „Erweiterung“ ist der Helm des Skanderbeg, eines albanischen Fürsten des 15. Jahrhunderts. Der Helm ruht im Kunsthistorischen Museum Wien und ist doch Ikone der Albaner für ihre nationale Einheit. Menasse spinnt eine rasante Handlung aus Diebstahl, Fälschung, Mafia und skrupellosen Politikern. Den äußeren Rahmen der Handlung bildet die EU-Erweiterung im Spannungsfeld zwischen Integration und nationalen Egoismen. Die Beobachtung des Autors: In Mitgliedsländern wie Polen gewinnen Politiker die Wahlen mit anti-europäischen Slogans. In Kandidatenländern wie Albanien werden Politiker gewählt, die einen pro-europäischen Kurs verfolgen. Und zwischen allem: das politische Gerangel in Brüssel.
2. Péter Nádas (39 Punkte)
„Schauergeschichten“, Rowohlt
Übersetzung: Heinrich Eisterer
Péter Nádas gehört zu den großen zeitgenössischen Autoren von Weltruhm, immer wieder wird er als Kandidat auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Im Oktober feierte er seinen 80. Geburtstags, zeitgleich ist nun auch sein neuer Roman „Schauergeschichten“ erschienen. Zur Zeit der kommunistischen Diktatur wurde Péter Nádas ein Arbeitsverbot auferlegt, mehr als ein halbes Jahrhundert lebt er nun schon zurückgezogen in dem kleinen Dorf Gombosszeg im Nordwesten Ungarns. Ein Dorf ist auch Schauplatz des neuen Romans, der im Ungarn des Jahres 1967 spielt, zur Zeit des Regimes von János Kádár: Die Bauern sind enteignet worden, müssen sich der Kolchosenwirtschaft anpassen. Die dörfliche Idylle, die Schönheit des Landlebens sucht man auf den 600 Seiten des detail- und figurenreichen Romans vergeblich. Péter Nádas entwirft ein Panorama des Neids und der Missgunst, lässt seinen Icherzähler in der Vielstimmigkeit der Dorfbewohner aufgehen, wo jeder Satz auf Beleidung, auf Kränkung und Verletzung des Gegenübers ausgelegt zu sein scheint. Subtil untersucht Nádas den Hass, die Sehnsucht, die Einsamkeit der Bewohner. „Schauergeschichten“ ist ein schonungsloser Roman mit aktuellen Bezügen.
3. Javier Marías (22 Punkte)
„Tomás Nevinson“, S. Fischer
Übersetzung: Susanne Lange
Lange Zeit galt Javier Marías als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, doch im September ist der spanische Schriftsteller im Alter von 70 Jahren überraschend an den Folgen einer Covid19-Erkrankung gestorben. Nun ist sein literarisches Vermächtnis in deutscher Übersetzung erschienen: „Tomás Nevinson“ heißt Marías jüngster Roman, in dem der Romancier ein letztes Mal seine große Erzählkunst unter Beweis gestellt hat. Das Buch ist eine Mischung zweier Genres, die für das Werk Marías von Beginn an essentiell waren: dem Spionagethriller und dem Eheroman. Der titelgebende Held Tomás Nevinson ist der Ehemann von Berta Isla, jener Figur, der Javier Marías den gleichnamigen Vorgängerroman gewidmet hat. Nevinson ist als Student in die Fänge des britischen Geheimdienstes MI6 geraten und führt seither ein quälendes Doppelleben als Spion, das er auch vor seiner Frau Berta verheimlichen muss. Nachdem Tomás Nevinson seine Spionagearbeit endlich abgeschlossen geglaubt hat, drängt ihn sein Boss – der skrupellose Bertram Tupra, ein alter Bekannter im Erzählkosmos des Javier Marías – zu einem neuen Auftrag. Nevinson wird in eine spanische Kleinstadt geschickt, wo er eine Frau ausfindig machen und töten soll, die verdächtigt wird, sowohl an Anschlägen der irischen Terrormiliz IRA als auch der baskischen ETA beteiligt gewesen zu sein. Getarnt als Spanischlehrer fängt er dort eine Affäre mit einer Frau an, die immer mehr der Zielperson seines Auftrags zu entsprechen scheint.
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4. ex aequo: Elfriede Jelinek (21 Punkte) NEU
„Angabe der Person“, Rowohlt
Seit der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 hat sich Elfriede Jelinek bekanntlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, Interviewanfragen lehnt sie ab, offizielle Auftritte vermeidet sie. Seit Jahren tritt die Schriftstellerin vor allem über ihre Webseite in Erscheinung, auf der sie laufend publiziert und blitzschnell auf die gesellschaftspolitischen Verwerfungen unserer Zeit reagiert. Diesen Herbst gab es nun gleich zwei für Jelinek ungewöhnliche Lebenszeichen: in dem Dokumentarfilm „Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein aktuelles Interview mit der Autorin zu sehen, mit „Angabe der Person“ liegt wiederum ein Text vor, in dem sie wie nur selten zuvor auch viel Autobiographisches miteinbringt – wenngleich der bissige Sprachwitz, das Kalauern bis zur sprachlichen Kenntlichmachung gesellschaftlicher Missstände, nie ausbleibt. Alles beginnt mit einem unangenehmen Besuch: das deutsche Finanzamt steht plötzlich vor der Tür ihres Münchner Zweitwohnsitzes, man wirft ihr vor, Einkünfte vertuschen zu wollen und den Wohnsitz in Wien nur zum Schein anzugeben, um Steuern zu umgehen. Denn: man habe ihre Texte genau gelesen, und jemand, der Österreich so schlecht macht, könne dort unmöglich tatsächlich wohnen.
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4. ex aequo: Ingeborg Bachmann/Max Frisch (21 Punkte) NEU
„Wir haben es nicht gut gemacht“, Suhrkamp/Piper
1958, kurz nach ihrer Trennung von Paul Celan, lernen sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch in Paris näher kennen. Es ist der Beginn einer durchwegs komplizierten Liebe, einer Beziehung, die man im heutigen Sprachgebrauch wohl „toxisch“ nennen würde. Sowohl Bachmann als auch Frisch sind zu diesem Zeitpunkt große Stars in der deutschsprachigen Literaturszene, ihre Beziehung wird damit automatisch auch Gegenstand heftiger Spekulationen und Gerüchte – nicht zuletzt, weil ein Vertrag zwischen ihnen unerhebliche Seitensprünge toleriert. Vier Jahre bleiben sie ein Paar, die schwierige Zeit zwischen den beiden wird später auch als Stoff in ihre Romane eingegangen, prominent etwa in Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ und in Bachmanns „Todesarten“-Zyklus – was die Gerüchteküche noch über Jahrzehnte brodeln lassen sollte. „Wir haben es nicht gut gemacht“ gibt erstmals Einblicke in diese vertrackte Liebe und räumt mit Vorurteilen auf. Lange galt Ingeborg Bachmann als das Opfer, man warf Frisch oft vor, Bachmann seelisch zerstört und in die Tablettenabhängigkeit getrieben zu haben. Der nun veröffentlichte Briefwechsel widerspricht diesem Bild, auch wenn sich die Beziehung darin nicht weniger destruktiv zeigt. Man entdeckt darin zwei Menschen, die eine beeindruckende Sprache für ihre Gefühle haben, die sie jedoch nicht davor bewahrt, sich gegenseitig aufs Tiefste zu verletzen.
6. Sorj Chalandon (17 Punkte) NEU
„Verräterkind“, dtv
Übersetzung: Brigitte Große
Sorj Chalandon gilt als eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen Frankreichs. Der Journalist und Schriftsteller war einer der Mitbegründer der berühmten französischen Tageszeitung Libération, sowohl für seine politischen Reportagen als auch sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. In seinem Schreiben hat sich Sorj Chalandon immer wieder an dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater abgearbeitet, nach „Die Legende unserer Väter“ und „Mein fremder Vater“ erscheint der jüngste Roman „Verräterkind“ nun wie eine endgültige Abrechnung. Im Zentrum steht die Frage: war der Vater nun bei der Résistance oder der SS? Vom Großvater bekommt der 10-Jährige Chalandon die Information, der Vater sei im Krieg auf der falschen Seite gestanden, obwohl dieser sich dem Kind gegenüber gerne als Widerstandskämpfer ausgibt. Lange traut sich Chalandon nicht genauer nachzufragen, denn die Beziehung zwischen den beiden ist von Gewalt geprägt. Als er den Vater eines Tages doch zur Rede stellt, behauptet dieser trotzig, Mitglied der SS gewesen zu sein. Doch auch diese Aussage scheint nach genauerer Recherche nicht der Wahrheit zu entsprechen. Kunstvoll verschränkt Chalandon die schmerzvolle Konfrontation mit den Lügen des Vaters mit dem Prozess des Kriegsverbrechers Klaus Barbie, von dem er 1987 als Journalist berichtet hatte.
7. ex aequo: Ian McEwan (12 Punkte) NEU
„Lektionen“, Diogenes
Übersetzung: Bernhard Robben
Mit Romanen wie „Abbitte“ oder „Der Zementgarten“ hat sich der Schriftsteller Ian McEwan in die vorderste Reihe der englischsprachigen Literatur geschrieben, inzwischen gilt er längst als einer der großen Erzähler Großbritanniens. Nachdem seine wütende Brexit-Satire „Die Kakerlake“ 2019 von der Kritik eher zurückhaltend wahrgenommen wurde, meldet sich der Starautor nun mit einem großen Wurf zurück. „Lektionen“ heißt sein jüngster, mehr als 700 Seiten starker Roman, in dem McEwan nicht weniger versucht als ein menschliches Leben in seiner Gesamtheit zu erfassen: alle Höhen und Tiefen, alle gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeiten, die dabei durchschritten werden. Im Zentrum steht die Figur Roland Baines, ein gescheiterter Pianist und Schriftsteller, Jahrgang 1948 – ganz wie sein Schöpfer Ian McEwan. Kubakrise, Falkland-Krieg, die Thatcher-Jahre, das Reaktorunglück in Tschernobyl, der Fall der Berliner Mauer – bis hin zur Covid19-Pandemie lässt McEwan seinen Protagonisten die vergangenen Jahrzehnte durchschreiten und verknüpft diese geschichtlichen Umwälzungen mit den privaten Krisen des Roland Baines.
7. ex aequo: Lydia Mischkulnig (12 Punkte)
„Die Gemochten“, Leykam
Mit „Die Richterin“ hat sich die österreichische Schriftstellerin Lydia Mischkulnig zuletzt als große Romanautorin gezeigt, mit dem Erzählband „Die Gemochten“ stellt die 1963 in Kärnten geborene Mischkulnig nun ihr Können auf dem Gebiet der kurzen Form unter Beweis. Die Erzählwelten, die sie darin entfaltet, sind das moderne Leben, bevölkert von Müttern und Töchtern, Eheleuten, Geliebten und Unbekannten, und auch „menstruierende Menschen“ halten polemisch-augenzwinkernd Einzug in das Buch. In den dreizehn Texten des Bandes setzt die Autorin immer wieder auf das Mittel der Irritation, stößt ihre Leser und Leserinnen mitunter vor den Kopf und bricht offenkundig gerne mit der Erwartungshaltung. Da sind etwa die titelgebenden „Gemochten“, ein Paar, das sich einmal pro Woche im Stundenhotel trifft. Nicht heimlich, sondern ganz bewusst so, dass es alle in ihrem Umfeld mitkriegen – denn die Treffen sollen den sonst so bieder wirkenden beiden einen Hauch Anrüchigkeit und Leidenschaft verleihen. Sex haben sie dabei nicht, aber mögen tun sie sich wirklich. Nicht alle Texte in dem Band lesen sich als Erzählungen, manche sind eher essayistisch angelegt, wie „Am Ufer des Nahrungsstroms“, in dem beim Verzehr von Stopfleber laut über die Zwangsernährung von Hungerstreikenden nachgedacht wird. Auch literarische Referenzen wird man beim Lesen etliche finden, zu Bachmann und Kafka, oder auch Ibsens „Nora“.
7. ex aequo: Velimir Chlebnikov (12 Punkte) NEU
„Werke“, Suhrkamp
Im Jahr 1912 veröffentlichte Velimir Chlebnikov zusammen mit Dichterkollegen wie Vladimir Majakowsky die Streitschrift Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack. Der Text gilt als die Geburtsstunde des russischen Futurismus und hat tiefe Spuren in den literarischen Avant-Garde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Chlebnikov forderte darin sein Recht als Dichter ein, mit der Sprache der großen Schriftsteller Dostojewski und Puschkin experimentieren zu dürfen, sie kreativ zu verändern und durch Wortschöpfungen zu erweitern. Seine Bedeutung für die russische als auch europäische Literatur ist enorm, unzählige Neologismen Chlebnikovs sind im Russischen bis heute gebräuchlich. Seine experimentellen Gedichte erschöpfen sich dabei nie im reinen Spiel mit den Wörtern, sondern zielen immer auch auf eine sprachkritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen ab. Anlässlich des 100. Todestags des großen Dichters hat der Suhrkamp-Verlag die im Jahr 1972 von Lektor Peter Urban initiierte Werkausgabe neuaufgelegt, an der Übersetzung beteiligt waren die ganz großen Namen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: H.C. Artmann, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Oskar Pastior und Gerhard Rühm.
10. ex aequo: Juri Andruchowytsch (11 Punkte)
„Radio Nacht“, Suhrkamp
Übersetzung: Sabine Stöhr
„Sie hören Radio Nacht, am Mikrofon ist Josip Rotsky, alias Jos. Hier hat es eben zwölf geschlagen, und ich bleibe bis zum Morgen auf Sendung. Heute ist Freitag, der 13. Dezember - alles ideal, wie Sie sehen: der schlimmste Tag des schlimmsten Monats am schlimmsten Wochentag.“
Josip Rotsky ist Radiomoderator, der in dieser Nacht am schlimmsten Tag des Monats, wie es gleich zu Beginn des Romans „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch heißt, sein ungewöhnliches Leben als Musiker und ehemaliger Revolutionär Revue passieren lässt. Der Moderator wird der Mithilfe am Anschlag auf den „Vorletzten Diktator“ beschuldigt und ist deshalb in den Karpaten auf der Flucht. Über seinen Romanhelden sagt der renommierte ukrainische Schriftsteller im Interview: „Ich mag diese Vagabunden, die sich auf dem schmalen und gefährlichen Grat zwischen der Welt der Künstler und der Welt des Verbrechens bewegen.“
Juri Andruchwytsch nutzt geschickt die Lebensgeschichte seines Helden, die politische Entwicklung in der Ukraine während der letzten Jahrzehnte zu erzählen. Mit seiner teils abschweifenden Fantastik und den vielfältigen literarischen Bezügen zu Joseph Roth und Joseph Brodsky erfasst der Roman die ukrainisch-russische Realität weit besser als jeder Realismus. Sabine Stöhr hat das Werk ins Deutsche übersetzt.
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10. ex aequo: Sirka Elspaß (11 Punkte) NEU
„ich föhne mir meine wimpern“, Suhrkamp
Die deutsche Autorin Sirka Elspaß zählt zu den großen Nachwuchstalenten auf dem Gebiet der modernen Lyrik. Sie hat Kreatives Schreiben in Hildesheim studiert, war am Institut für Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und hat in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht – auch auf ihrem Instagram-Kanal hat die 27-Jährige mit lyrischen Interventionen auf sich aufmerksam gemacht. Ihr literarisches Debut „ich föhne mir meine wimpern“ ist nun im renommierten Suhrkamp-Verlag erschienen, mit dem Gedichtband ist ihr in diesem Herbst auch gleich ein großer Coup gelungen: das Buch war das einzige Lyrikwerk, das heuer unter den Nominierungen für den Österreichischen Buchpreis zu finden war – auch wenn sie sich damit letztendlich nicht gegen die Prosa durchsetzen konnte. Der Sound der 27-Jährigen bewegt sich leichtfüßig zwischen Pop und Poesie, ist nicht enigmatisch, sondern zugänglich. Immer wieder kreisen die Gedichte um den weiblichen Körper, der etwa auf einer Damentoilette in Versailles plötzlich zu bluten beginnt. In den Gedichtzeilen fließen viele Tränen, aber zum Kitsch verkommt hier nie etwas, denn Sirka Elspaß versteht es die Erwartungen rechtzeitig zu brechen.