Die besten 10 im November 2022
1. Robert Menasse (46 Punkte) NEU
„Die Erweiterung“, Suhrkamp
In seinem neuen Roman beschäftigt sich Robert Menasse einmal mehr mit seinem Lieblingsthema: der Europäischen Union. Nach „Die Hauptstadt“ liegt mit „Die Erweiterung“ der zweite Teil Menasses EU-Trilogie vor. Während im ersten Teil mit Brüssel das europäische Zentrum im Fokus stand, ist es nun die Peripherie, genauer gesagt Beitrittskandidat Albanien. Roter Faden von „Erweiterung“ ist der Helm des Skanderbeg, eines albanischen Fürsten des 15. Jahrhunderts. Der Helm ruht im Kunsthistorischen Museum Wien und ist doch Ikone der Albaner für ihre nationale Einheit. Menasse spinnt eine rasante Handlung aus Diebstahl, Fälschung, Mafia und skrupellosen Politikern. Den äußeren Rahmen der Handlung bildet die EU-Erweiterung im Spannungsfeld zwischen Integration und nationalen Egoismen. Die Beobachtung des Autors: In Mitgliedsländern wie Polen gewinnen Politiker die Wahlen mit anti-europäischen Slogans. In Kandidatenländern wie Albanien werden Politiker gewählt, die einen pro-europäischen Kurs verfolgen. Und zwischen allem: das politische Gerangel in Brüssel.
2. Helena Adler (17 Punkte)
„Fretten“, Jung und Jung
Helena Adler hat Malerei studiert, in den letzten Jahren aber den Pinsel gegen den Stift getauscht. Bildreich und wortgewaltig ist ihre Literatur: Wie schon im letzten hochgelobten Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ setzt sich die Salzburgerin auch in „Fretten“ mit ihrer bäuerlichen Herkunft, ihrer Mutterschaft und dem Leben in der Provinz auseinander. „Mein Milieu ist ein Malheur. Und mein Überleben ein waghalsiges Manöver“, heißt es da. Nur auf den ersten Blick ist Helena Adlers Literatur eine Abrechnung mit ihrer Herkunft. Wer genau liest, erkennt darin eine Liebeserklärung: an ihre Eltern, das Landleben und allen voran ihr Kind.
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3. Javier Marías (14 Punkte) NEU
„Tomás Nevinson“, S. Fischer
Übersetzung: Susanne Lange
Lange Zeit galt Javier Marías als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, doch im September ist der spanische Schriftsteller im Alter von 70 Jahren überraschend an den Folgen einer Covid19-Erkrankung gestorben. Nun ist sein literarisches Vermächtnis in deutscher Übersetzung erschienen: „Tomás Nevinson“ heißt Marías jüngster Roman, in dem der Romancier ein letztes Mal seine große Erzählkunst unter Beweis gestellt hat. Das Buch ist eine Mischung zweier Genres, die für das Werk Marías von Beginn an essentiell waren: dem Spionagethriller und dem Eheroman. Der titelgebende Held Tomás Nevinson ist der Ehemann von Berta Isla, jener Figur, der Javier Marías den gleichnamigen Vorgängerroman gewidmet hat. Nevinson ist als Student in die Fänge des britischen Geheimdienstes MI6 geraten und führt seither ein quälendes Doppelleben als Spion, das er auch vor seiner Frau Berta verheimlichen muss. Nachdem Tomás Nevinson seine Spionagearbeit endlich abgeschlossen geglaubt hat, drängt ihn sein Boss – der skrupellose Bertram Tupra, ein alter Bekannter im Erzählkosmos des Javier Marías – zu einem neuen Auftrag. Nevinson wird in eine spanische Kleinstadt geschickt, wo er eine Frau ausfindig machen und töten soll, die verdächtigt wird, sowohl an Anschlägen der irischen Terrormiliz IRA als auch der baskischen ETA beteiligt gewesen zu sein. Getarnt als Spanischlehrer fängt er dort eine Affäre mit einer Frau an, die immer mehr der Zielperson seines Auftrags zu entsprechen scheint.
4. ex aequo: Daniela Dröscher (13 Punkte)
„Lügen über meine Mutter“, Kiepenheuer & Witsch
Nach ihrem jüngsten Roman „Lügen über meine Mutter“ wurde die deutsche Schriftstellerin Daniela Dröscher mit niemand geringerem als Annie Ernaux verglichen, der Grande-Dame der autobiographischen Literatur. Dröscher wuchs im Westdeutschland der 80er Jahre auf, im Bundesland Rheinland-Pfalz. Ebendort ist auch der Roman verortet, in dem das 6jährige alte Ego der Schriftstellerin über das alles bestimmende Thema innerhalb der Familie erzählt: Das Körpergewicht der Mutter. Ist sie übergewichtig? Sollte sie abnehmen? Es ist nicht die Mutter, die sich diese Fragen stellt, sondern der Vater. Obsessiv beginnt er ihr Gewicht zu kontrollieren, zwingt sie jeden Samstag auf die Waage und macht ihren vermeintlich unpassenden Körper schließlich sogar für seine stockende Karriere verantwortlich. Analytisch und trotzdem zärtlich beschreibt Dröscher das Leben einer Frau, die versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht von Schönheitsidealen, nicht von kleinen Haustyrannen.
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4. ex aequo: Péter Nádas (13 Punkte) NEU
„Schauergeschichten“, Rowohlt
Übersetzung: Heinrich Eisterer
Péter Nádas gehört zu den großen zeitgenössischen Autoren von Weltruhm, immer wieder wird er als Kandidat auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Im Oktober feierte er seinen 80. Geburtstags, zeitgleich ist nun auch sein neuer Roman „Schauergeschichten“ erschienen. Zur Zeit der kommunistischen Diktatur wurde Péter Nádas ein Arbeitsverbot auferlegt, mehr als ein halbes Jahrhundert lebt er nun schon zurückgezogen in dem kleinen Dorf Gombosszeg im Nordwesten Ungarns. Ein Dorf ist auch Schauplatz des neuen Romans, der im Ungarn des Jahres 1967 spielt, zur Zeit des Regimes von János Kádár: Die Bauern sind enteignet worden, müssen sich der Kolchosenwirtschaft anpassen. Die dörfliche Idylle, die Schönheit des Landlebens sucht man auf den 600 Seiten des detail- und figurenreichen Romans vergeblich. Péter Nádas entwirft ein Panorama des Neids und der Missgunst, lässt seinen Icherzähler in der Vielstimmigkeit der Dorfbewohner aufgehen, wo jeder Satz auf Beleidung, auf Kränkung und Verletzung des Gegenübers ausgelegt zu sein scheint. Subtil untersucht Nádas den Hass, die Sehnsucht, die Einsamkeit der Bewohner. „Schauergeschichten“ ist ein schonungsloser Roman mit aktuellen Bezügen.
6. ex aequo: Claire Keegan (12 Punkte) NEU
„Kleine Dinge wie diese“, Steidl
Übersetzung: Hans-Christian Oeser
Claire Keegan wurde 1968 in Wicklow als Tochter einer irischen Bauernfamilie geboren, in Irland zählt sie zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. „Kleine Dinge wie diese“ heißt ihr jüngster Roman, in dem sich Keegan mit den Verbrechen der katholischen Kirche auseinandersetzt, genauer gesagt mit den sogenannten „Magdalenenwäschereien“: Bis in die 1990er wurden in Irland Anstalten für unehelich schwanger gewordene Mädchen betrieben, die zur Schwerstarbeit in Klöstern gezwungen wurden, um ihre Sünden abzubüßen. Nur 112 Seiten zählt das schmale Buch Keegans, dessen Handlung in einer Kleinstadt im Irland der 1980er angesiedelt ist. Hauptfigur ist der Kohlehändler Bill Furlong: er wurde als uneheliches Kind geboren und hat sein relativ wohlhabendes, bürgerliches Leben der Zuwendung einer Frau zu verdanken, die seiner Mutter trotz gesellschaftlicher Ahndung eine Anstellung gab. Die Schriftstellerin lässt ihre LeserInnen den Stolz spüren, mit dem Furlong auf seine soziale Stellung in der Gemeinde blickt, aber auch die Dankbarkeit gegenüber der Frau, die ihm diese ermöglicht hat. Eines Tages begegnet Furlong im nahe gelegenen Kloster – seinem größten Kohleabnehmer im Ort – einer verzweifelten und verängstigten jungen Frau. Er merkt, dass hier etwas nicht stimmt, doch weiß auch, dass man sich mit der katholischen Kirche lieber nicht anlegen sollte. Mit kurzen, präzisen Sätzen versteht es Claire Keegan den Gewissenskonflikt ihrer Hauptfigur zu Papier zu bringen.
6. ex aequo: Cormac McCarthy (12 Punkte) NEU
„Der Passagier“, Rowohlt
Übersetzung: Nikolaus Stingl
Pulitzerpreisträger, langjähriger Kandidat auf den Literaturnobelpreis: Cormac McCarthy zählt zu den ganz Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Wenn auch mehrfach verfilmt („No Country for Old Men“, „The Road“), als zugänglich galten seine Romane nie: sein Erzählkosmos zeichnet sich durch komplexe Handlungsstrukturen und eine beklemmende Düsternis aus. Im Zentrum stehen die Schattenseiten der menschlichen Existenz, Gewalt und Grausamkeit durchziehen sein gesamtes Werk. Lange war es still um den 1933 in Rhode Island geborenen McCarthy, 16 Jahre nach seinem Welterfolg „Die Straße“ hat sein Verlag gleich zwei neue Romane angekündigt: Ende Oktober erschien „Der Passagier“, Ende November soll „Stella Maris“ folgen. Die Hauptfigur in „Der Passagier“ ist der Bergungstaucher Bobby Western, der 1980 am Golf von New Orleans zu einem abgestürzten Flugzeug hinabtaucht. Er findet acht in ihren Sitzen festgeschnallte Leichen, doch es fehlt die Blackbox – und der neunte Passagier. Western wird plötzlich zum Verdächtigen innerhalb dieser Geschichte, dubiose Agenten verfolgen ihn und konfrontieren ihn mit abstrusen Anschuldigungen. Getragen wird der Roman von diesem Plot jedoch nicht: die 528 Seiten sind voll von sprachgewaltigen Dialogen, die der Protagonist mit unterschiedlichsten Figuren führt und die mal um ganz Alltägliches wie Bohneneintöpfe kreisen, mal existenzielle Fragen nach Gott behandeln, oder sich über mehrere Seiten mit theoretischer Physik auseinandersetzen. Man kann sagen, McCarthy zieht in diesem Spätwerk nochmal alle Register seines bisherigen Schaffens.
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6. ex aequo: Lydia Mischkulnig (12 Punkte) NEU
„Die Gemochten“, Leykam
Mit „Die Richterin“ hat sich die österreichische Schriftstellerin Lydia Mischkulnig zuletzt als große Romanautorin gezeigt, mit dem Erzählband „Die Gemochten“ stellt die 1963 in Kärnten geborene Mischkulnig nun ihr Können auf dem Gebiet der kurzen Form unter Beweis. Die Erzählwelten, die sie darin entfaltet, sind das moderne Leben, bevölkert von Müttern und Töchtern, Eheleuten, Geliebten und Unbekannten, und auch „menstruierende Menschen“ halten polemisch-augenzwinkernd Einzug in das Buch. In den dreizehn Texten des Bandes setzt die Autorin immer wieder auf das Mittel der Irritation, stößt ihre Leser und Leserinnen mitunter vor den Kopf und bricht offenkundig gerne mit der Erwartungshaltung. Da sind etwa die titelgebenden „Gemochten“, ein Paar, das sich einmal pro Woche im Stundenhotel trifft. Nicht heimlich, sondern ganz bewusst so, dass es alle in ihrem Umfeld mitkriegen – denn die Treffen sollen den sonst so bieder wirkenden beiden einen Hauch Anrüchigkeit und Leidenschaft verleihen. Sex haben sie dabei nicht, aber mögen tun sie sich wirklich. Nicht alle Texte in dem Band lesen sich als Erzählungen, manche sind eher essayistisch angelegt, wie „Am Ufer des Nahrungsstroms“, in dem beim Verzehr von Stopfleber laut über die Zwangsernährung von Hungerstreikenden nachgedacht wird. Auch literarische Referenzen wird man beim Lesen etliche finden, zu Bachmann und Kafka, oder auch Ibsens „Nora“.
6. ex aequo: Michel Jean (12 Punkte)
„Maikan“, Wieser
Übersetzung: Michael von Killisch-Horn
Michel Jean zählt zu den wichtigsten indigenen Schriftstellern Kanadas, in seinem Schreiben setzt er sich immer wieder mit dem Schicksal der autochthonen Bevölkerung des Landes auseinander. In seinem Roman „Maikan“, der im französischem Original bereits 2013 erschienen ist, wendet er sich einem besonders finsterem Kapitel der kanadischen Geschichte zu: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 wurden rund 150.000 Kinder in mehr als hundert verschiedene kirchliche Internatsschulen gesteckt, um sie zu „zivilisieren“ – das heißt, um ihnen ihre kulturelle Prägung als Indigene auszutreiben. Michel Jean erzählt von drei jungen Innu, die im August 1936 ihrem Umfeld entrissen und in das Internat Fort George in der James Bay gebracht wurden, wo sexueller Missbrauch, Gewalt und Demütigung an der Tagesordnung stand. Der Titel des Buchs „Maikan“ heißt übersetzt „Wölfe“: so nannten die Kinder ihre Peiniger – die Mönche und Nonnen des Internats. Erst 2021 wurden die sterblichen Überreste von rund 1000 Indigenen in der Nähe einiger ehemaliger Umerziehungslager gefunden, was dem Roman zusätzlich Aktualität verleiht.
10. ex aequo: Monika Fagerholm (10 Punkte) NEU
„Wer hat Bambi getötet?“, Residenz
Übersetzung: Antje Rávik Strubel
Monika Fagerholm zählt zu den bedeutendsten skandinavischen SchriftstellerInnen der Gegenwart, sie wurde 1960 in Finnland geboren und ist Angehörige der schwedischsprachigen Minderheit des Landes. In ihrem neuen Roman „Wer hat Bambi getötet?“ (ins Deutsche übersetzt von Antje Ravik-Strubel, Gewinnerin des deutschen Buchpreises 2021) fühlt Fagerholm der finnischen Vorstadtidylle auf den Zahn. Im Zentrum stehen die beiden Teenager Nathan und Gusten, die behütet in einem Villenviertel von Helsinki aufwachsen. Doch als Nathans erste große Liebe Sasha ihn verlässt, gerät die Welt aus den Fugen: zutiefst gekränkt beschließt sich Nathan an seiner Ex-Freundin zu rächen. Nach einer alkoholreichen Party zerren er und drei weitere junge Männer, darunter sein bester Freund Gusten, das Mädchen in einen Keller, vergewaltigen und misshandeln sie immer und immer wieder. Mit viel Geld wird versucht das grausame Verbrechen zu vertuschen, doch Gusten beginnt sein Gewissen zu plagen. „Wer hat Bambi getötet?“ ist in einem rasanten, fast schon punkigen Bewusstseinsstrom erzählt, unter dem sich eine präzise Sozialstudie der finnischen Upper Class auftut.
10. ex aequo: Oksana Sabuschko (10 Punkte) NEU
„Die längste Buchtour“, Droschl
In ihrer Heimat der Ukraine zählt die Schriftstellerin Oksana Sabuschko zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen des Landes. Als am 24. Februar russische Panzer in die Ukraine rollten, war Sabuschko grade auf einer Buchtour in Polen unterwegs – seither reist sie ohne Pause weiter durch die Welt, um auf die dramatische Situation aufmerksam zu machen. Mit dem Essay „Die längste Buchtour“ ist Sabuschko der Bitte ihres Verlags nachgekommen, das, was sie der Weltöffentlichkeit ständig erklären muss, einmal zu Papier zu bringen. Das Buch richtet sich also vor allem an eine westliche Leserschaft, die die komplexen Hintergründe des Krieges in der Ukraine verstehen möchten. Sabuschko zeichnet die seit Februar andauernde russische Aggression als den grausamen Höhepunkt eines Informationskrieges, den das postsowjetische Russland seit Beginn der 90er Jahre gegen die Ukraine führt. Ebenso polemisch wie faktenbasiert entlarvt sie das Narrativ der Ukraine als zwischen russischen und ukrainischen Bewohnern zerrissenes Land als gezieltes Produkt der Kreml-Propaganda. Gleichzeitig gelingt es ihr den Faschismus Putins in den größeren historischen Kontext der europäischen Geschichte einzuordnen.