Die besten 10 im Oktober 2022
1. Helena Adler (37 Punkte)
„Fretten“, Jung und Jung
Helena Adler hat Malerei studiert, in den letzten Jahren aber den Pinsel gegen den Stift getauscht. Bildreich und wortgewaltig ist ihre Literatur: Wie schon im letzten hochgelobten Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ setzt sich die Salzburgerin auch in „Fretten“ mit ihrer bäuerlichen Herkunft, ihrer Mutterschaft und dem Leben in der Provinz auseinander. „Mein Milieu ist ein Malheur. Und mein Überleben ein waghalsiges Manöver“, heißt es da. Nur auf den ersten Blick ist Helena Adlers Literatur eine Abrechnung mit ihrer Herkunft. Wer genau liest, erkennt darin eine Liebeserklärung: an ihre Eltern, das Landleben und allen voran ihr Kind.
2. Norbert Gstrein (19 Punkte)
„Vier Tage, drei Nächte“, Hanser
Norbert Gstrein zählt zu den ganz großen Erzählern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, erst kürzlich wurde ihm der renommierte Thomas Mann-Preis verliehen. In seinem neuen Roman „Vier Tage, drei Nächte“ führt er seine Leserinnen und Leser wie schon des Öfteren nach Tirol, wo Gstrein 1961 als Sohn eines Hoteliers geboren wurde. Mit durchaus bösem Witz schenkt er der unrühmlichen Rolle, die das Alpenparadies in der Corona-Pandemie gespielt hat, seine Aufmerksamkeit. Denn die titelgebenden „Vier Tage, drei Nächte“ beziehen sich auf die Saisonstartparty, die ein Tiroler Edelhotelbesitzer trotz Corona-Schließungen um jeden Preis feiern will. Doch der Roman verharrt nicht in dieser Zeitkritik: im Zentrum stehen Sohn und Tochter jenes Hoteliers, die, obwohl Halbgeschwister, eine vertrackte und jahrzehntelange erotische Beziehung zueinander pflegen, die mit dem Lockdown wieder aufgewärmt wird.
Mehr dazu auf Ö1
3. Anna Kim (15 Punkte)
„Geschichte eines Kindes“, Suhrkamp
Ein brisanter Adoptionsfall im amerikanischen Wisconsin der 50er Jahren steht im Zentrum von Anna Kims neuem Roman „Geschichte eines Kindes“. Der kleine Daniel wurde von seiner Mutter kurz nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Die Sozialarbeiterin, die mit seinem Fall betraut wird, vermutet, dass das Kind einen schwarzen Vater haben könnte – was seine Unterbringung in einer Pflegefamilie in einem Amerika der Rassentrennung zu einer heiklen Angelegenheit macht. Verzweifelt wird versucht, das Kind ethnisch zu bestimmen, der Sozialdienst übt zunehmend Druck auf die Mutter aus, die die Identität des Vaters aber nicht verraten will. Autorin Anna Kim wurde die Originalakte des Falles zugespielt. Ihre Literarisierung des Stoffs ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit der amtlich-bürokratischen Sprache der Dokumente, die Objektivität genau da behauptet, wo höchst subjektive Werturteile getroffen werden.
Mehr dazu auf Ö1
4. Jennifer Egan (14 Punkte) NEU
„Candy Haus“, S. Fischer
Übersetzung: Henning Ahrens
Mit ihrem Roman „Der größere Teil der Welt“ gelang Jennifer Egan der internationale Durchbruch, im Jahre 2010 wurde sie dafür mit dem begehrten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Jetzt knüpft sie in ihrem neuen Roman „Candy Haus“ über unsere Gegenwart ein schillerndes Netz aus Lebensläufen. Es geht um die Jahrzehnte einer rasenden technischen Evolution, die Lebensstile, Probleme und Figuren hervorbringt, die man eben noch für unmöglich hielt. Ihren Fokus legt Egan dabei auf einen Tech-Mogul Bix Bouton, der ein digitales Netzwerk erfindet, das Menschen ermöglicht, ihre Erinnerungen auszulagern. Damit kann man sich die eigenen Erinnerungen von außen vollständiger ansehen, als man sie vor dem inneren Auge hat. Wer seine Daten anonymisiert ins sogenannte kollektive Bewusstsein einspeist, bekommt dabei auch noch unbegrenzten Zugriff auf die Erinnerungen anderer. Jennifer Egan stellt sich der Bedrohung ihres Metiers durch digitale Möglichkeiten und soziale Medien, indem sie mit sprachlichen Mitteln gekonnt ein fiktives Netz erzeugt.
5. ex aequo: Juri Andruchowytsch (13 Punkte) NEU
„Radio Nacht“, Suhrkamp
Übersetzung: Sabine Stöhr
„Sie hören Radio Nacht, am Mikrofon ist Josip Rotsky, alias Jos. Hier hat es eben zwölf geschlagen, und ich bleibe bis zum Morgen auf Sendung. Heute ist Freitag, der 13. Dezember - alles ideal, wie Sie sehen: der schlimmste Tag des schlimmsten Monats am schlimmsten Wochentag.“
Josip Rotsky ist Radiomoderator, der in dieser Nacht am schlimmsten Tag des Monats, wie es gleich zu Beginn des Romans „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch heißt, sein ungewöhnliches Leben als Musiker und ehemaliger Revolutionär Revue passieren lässt. Der Moderator wird der Mithilfe am Anschlag auf den „Vorletzten Diktator“ beschuldigt und ist deshalb in den Karpaten auf der Flucht. Über seinen Romanhelden sagt der renommierte ukrainische Schriftsteller im Interview: „Ich mag diese Vagabunden, die sich auf dem schmalen und gefährlichen Grat zwischen der Welt der Künstler und der Welt des Verbrechens bewegen.“
Juri Andruchwytsch nutzt geschickt die Lebensgeschichte seines Helden, die politische Entwicklung in der Ukraine während der letzten Jahrzehnte zu erzählen. Mit seiner teils abschweifenden Fantastik und den vielfältigen literarischen Bezügen zu Joseph Roth und Joseph Brodsky erfasst der Roman die ukrainisch-russische Realität weit besser als jeder Realismus. Sabine Stöhr hat das Werk ins Deutsche übersetzt.
Mehr dazu auf Ö1
5. ex aequo: Thomas Stangl (13 Punkte)
„Quecksilberlicht“, Matthes & Seitz
Ein Roman ist Thomas Stangls neues Buch „Quecksilberlicht“ höchstens deshalb, weil es das Buchcover behauptet. Denn beim Lesen merkt man schnell, dass diese Gattungszuschreibung nicht passen will, dass es sich hier vielmehr um eine Sammlung fragmentarischer Erzählpassagen handelt, um ein anspruchsvolles Spiel mit literarischen Identitäten. Denn der Erzähler (einer, der dem realen Autor nicht unähnlich scheint) nimmt in den rund 250 Seiten des Buchs die Perspektiven unterschiedlichster historischer Persönlichkeiten in den Blick – von seiner Simmeringer Großmutter über die Schwestern Brontë bis hin zu jenem chinesischen Kaiser, der durch die Einnahme von Quecksilber unsterblich werden wollte und dabei verendete. Was diese Figuren gemeinsam haben? Zugegebenermaßen nicht sehr viel – außer, dass sie allesamt tot sind und von Thomas Stangl auf geradezu magische Weise zum Leben erweckt werden.
7. ex aequo: Michel Jean (12 Punkte) NEU
„Maikan“, Wieser
Übersetzung: Michael von Killisch-Horn
Michel Jean zählt zu den wichtigsten indigenen Schriftstellern Kanadas, in seinem Schreiben setzt er sich immer wieder mit dem Schicksal der autochthonen Bevölkerung des Landes auseinander. In seinem Roman „Maikan“, der im französischem Original bereits 2013 erschienen ist, wendet er sich einem besonders finsterem Kapitel der kanadischen Geschichte zu: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 wurden rund 150.000 Kinder in mehr als hundert verschiedene kirchliche Internatsschulen gesteckt, um sie zu „zivilisieren“ – das heißt, um ihnen ihre kulturelle Prägung als Indigene auszutreiben. Michel Jean erzählt von drei jungen Innu, die im August 1936 ihrem Umfeld entrissen und in das Internat Fort George in der James Bay gebracht wurden, wo sexueller Missbrauch, Gewalt und Demütigung an der Tagesordnung stand. Der Titel des Buchs „Maikan“ heißt übersetzt „Wölfe“: so nannten die Kinder ihre Peiniger – die Mönche und Nonnen des Internats. Erst 2021 wurden die sterblichen Überreste von rund 1000 Indigenen in der Nähe einiger ehemaliger Umerziehungslager gefunden, was dem Roman zusätzlich Aktualität verleiht.
7. ex aequo: Ralf Rothmann (12 Punkte)
„Die Nacht unterm Schnee“, Suhrkamp
Die ersten beiden Romane „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ über den zweiten Weltkrieg von Ralf Rothmann avancierten innerhalb von kürzester Zeit zu Bestsellern, nun ist der dritte und letzte Band der Trilogie mit dem Titel „Die Nacht unterm Schnee“ erschienen, der im Deutschland der Nachkriegszeit spielt. Der mehrfach ausgezeichnete Autor zeichnet darin nicht nur ein Panorama jener Jahre, sondern auch das Portrait einer sehr jungen Frau, die im Krieg mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Sie überlebt nur, weil ein anderer Russe sie findet und gesund pflegt. Ihr ganzes Leben bleibt sie davon schwer gezeichnet. „Die Nacht unterm Schnee“ ist auch die fiktionalisierte Geschichte der Mutter des Autors, der er damit ein literarisches Denkmal setzen wollte. Mit viel psychologischem Gespür beschäftigt sich Ralf Rothmann im Roman damit, wie daheimgebliebene Frauen die traumatisierende Zeit des Krieges wie auch die Jahre danach erlebt haben.
Mehr dazu auf Ö1
7. ex aequo: Sabine Scholl (12 Punkte) NEU
„Die im Schatten, die im Licht“, Weissbook
Wie kann Literatur im Unterschied zur Zeitgeschichte Historie vermitteln? Wie verleiht man bislang Ungehörten eine Stimme? Diese Fragen treiben die renommierte österreichische Schriftstellerin Sabine Scholl bei ihrer Arbeit als Schriftstellerin um. Ihn ihrem Roman „Die im Schatten, die im Licht“ fokussiert sie sich auf die Jahre zwischen 1930 und 1946, das Geschehen wird dabei mal aus der aristokratischen, mal aus der proletarischen, mal aus der jüdischen - stets aber aus der weiblichen Perspektive erzählt. Männer werden im Buch nur nebenbei erwähnt, als Ehemänner oder Geliebte. Die Frauen im Buch sind an reale Figuren angelehnt, die Geschichten handeln von wahren Vorkommnissen, wenn auch fiktiv ausgestaltet. Als Leserin begleitet man etwa das jüdische Mädchen Lotte auf der Flucht von Linz nach Shanghai, Rosi, die Prachtvillen im Salzkammergut für die deutschen Besatzer putzt und auch Francine, eine französische Schauspielerin in Paris.
10. Daniela Dröscher (11 Punkte)
„Lügen über meine Mutter“, Kiepenheuer & Witsch
Nach ihrem jüngsten Roman „Lügen über meine Mutter“ wurde die deutsche Schriftstellerin Daniela Dröscher mit niemand geringerem als Annie Ernaux verglichen, der Grande-Dame der autobiographischen Literatur. Dröscher wuchs im Westdeutschland der 80er Jahre auf, im Bundesland Rheinland-Pfalz. Ebendort ist auch der Roman verortet, in dem das 6jährige alte Ego der Schriftstellerin über das alles bestimmende Thema innerhalb der Familie erzählt: Das Körpergewicht der Mutter. Ist sie übergewichtig? Sollte sie abnehmen? Es ist nicht die Mutter, die sich diese Fragen stellt, sondern der Vater. Obsessiv beginnt er ihr Gewicht zu kontrollieren, zwingt sie jeden Samstag auf die Waage und macht ihren vermeintlich unpassenden Körper schließlich sogar für seine stockende Karriere verantwortlich. Analytisch und trotzdem zärtlich beschreibt Dröscher das Leben einer Frau, die versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht von Schönheitsidealen, nicht von kleinen Haustyrannen.