Die besten 10 im September 2022
1. Norbert Gstrein (47 Punkte) NEU
„Vier Tage, drei Nächte“, Hanser
Norbert Gstrein zählt zu den ganz großen Erzählern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, erst kürzlich wurde ihm der renommierte Thomas Mann-Preis verliehen. In seinem neuen Roman „Vier Tage, drei Nächte“ führt er seine Leserinnen und Leser wie schon des Öfteren nach Tirol, wo Gstrein 1961 als Sohn eines Hoteliers geboren wurde. Mit durchaus bösem Witz schenkt er der unrühmlichen Rolle, die das Alpenparadies in der Corona-Pandemie gespielt hat, seine Aufmerksamkeit. Denn die titelgebenden „Vier Tage, drei Nächte“ beziehen sich auf die Saisonstartparty, die ein Tiroler Edelhotelbesitzer trotz Corona-Schließungen um jeden Preis feiern will. Doch der Roman verharrt nicht in dieser Zeitkritik: im Zentrum stehen Sohn und Tochter jenes Hoteliers, die, obwohl Halbgeschwister, eine vertrackte und jahrzehntelange erotische Beziehung zueinander pflegen, die mit dem Lockdown wieder aufgewärmt wird.
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2. Anna Kim (37 Punkte) NEU
„Geschichte eines Kindes“, Suhrkamp
Ein brisanter Adoptionsfall im amerikanischen Wisconsin der 50er Jahren steht im Zentrum von Anna Kims neuem Roman „Geschichte eines Kindes“. Der kleine Daniel wurde von seiner Mutter kurz nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Die Sozialarbeiterin, die mit seinem Fall betraut wird, vermutet, dass das Kind einen schwarzen Vater haben könnte – was seine Unterbringung in einer Pflegefamilie in einem Amerika der Rassentrennung zu einer heiklen Angelegenheit macht. Verzweifelt wird versucht, das Kind ethnisch zu bestimmen, der Sozialdienst übt zunehmend Druck auf die Mutter aus, die die Identität des Vaters aber nicht verraten will. Autorin Anna Kim wurde die Originalakte des Falles zugespielt. Ihre Literarisierung des Stoffs ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit der amtlich-bürokratischen Sprache der Dokumente, die Objektivität genau da behauptet, wo höchst subjektive Werturteile getroffen werden.
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3. Hernan Diaz (24 Punkte) NEU
„Treue“, Hanser Berlin
Übersetzung: Hannes Meyer
Der amerikanische Traum steckt in der Krise. Vom Tellerwäscher zum Millionär? Immer mehr Autorinnen und Autoren überführen das berühmteste Leitmotiv amerikanischer Kultur seiner Mythenhaftigkeit, dekonstruieren es als kapitalistisches Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung. Zu ihnen gehört der amerikanisch-argentinische Schriftsteller Hernan Diaz, der seit seinem Debüt 2017 zu den großen Hoffnungen der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt. „Treue“ spielt im New York der 1920er Jahre, im Zentrum steht die Figur Benjamin Rask, der bestens weiß, was man tun muss, damit sich Geld vermehrt. Ins dementsprechend Unermessliche scheint auch sein Vermögen zu wachsen, sein Leben wiederum kriegt erst nach seiner Ehe mit der geheimnisvollen Helen einen Sinn. Der Rest, könnte man sagen, ist Geschichte – und zwar die des Jahres 1929, als die amerikanische Wirtschaft in einem bis dahin beispiellosen Krach kollabierte.
4. Thomas Stangl (22 Punkte) NEU
„Quecksilberlicht“, Matthes & Seitz
Ein Roman ist Thomas Stangls neues Buch „Quecksilberlicht“ höchstens deshalb, weil es das Buchcover behauptet. Denn beim Lesen merkt man schnell, dass diese Gattungszuschreibung nicht passen will, dass es sich hier vielmehr um eine Sammlung fragmentarischer Erzählpassagen handelt, um ein anspruchsvolles Spiel mit literarischen Identitäten. Denn der Erzähler (einer, der dem realen Autor nicht unähnlich scheint) nimmt in den rund 250 Seiten des Buchs die Perspektiven unterschiedlichster historischer Persönlichkeiten in den Blick – von seiner Simmeringer Großmutter über die Schwestern Brontë bis hin zu jenem chinesischen Kaiser, der durch die Einnahme von Quecksilber unsterblich werden wollte und dabei verendete. Was diese Figuren gemeinsam haben? Zugegebenermaßen nicht sehr viel – außer, dass sie allesamt tot sind und von Thomas Stangl auf geradezu magische Weise zum Leben erweckt werden.
5. Ralf Rothmann (18 Punkte)
„Die Nacht unterm Schnee“, Suhrkamp
Die ersten beiden Romane „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ über den zweiten Weltkrieg von Ralf Rothmann avancierten innerhalb von kürzester Zeit zu Bestsellern, nun ist der dritte und letzte Band der Trilogie mit dem Titel „Die Nacht unterm Schnee“ erschienen, der im Deutschland der Nachkriegszeit spielt. Der mehrfach ausgezeichnete Autor zeichnet darin nicht nur ein Panorama jener Jahre, sondern auch das Portrait einer sehr jungen Frau, die im Krieg mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Sie überlebt nur, weil ein anderer Russe sie findet und gesund pflegt. Ihr ganzes Leben bleibt sie davon schwer gezeichnet. „Die Nacht unterm Schnee“ ist auch die fiktionalisierte Geschichte der Mutter des Autors, der er damit ein literarisches Denkmal setzen wollte. Mit viel psychologischem Gespür beschäftigt sich Ralf Rothmann im Roman damit, wie daheimgebliebene Frauen die traumatisierende Zeit des Krieges wie auch die Jahre danach erlebt haben.
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6. Daniela Dröscher (16 Punkte) NEU
„Lügen über meine Mutter“, Kiepenheuer & Witsch
Nach ihrem jüngsten Roman „Lügen über meine Mutter“ wurde die deutsche Schriftstellerin Daniela Dröscher mit niemand geringerem als Annie Ernaux verglichen, der Grande-Dame der autobiographischen Literatur. Dröscher wuchs im Westdeutschland der 80er Jahre auf, im Bundesland Rheinland-Pfalz. Ebendort ist auch der Roman verortet, in dem das 6jährige alte Ego der Schriftstellerin über das alles bestimmende Thema innerhalb der Familie erzählt: Das Körpergewicht der Mutter. Ist sie übergewichtig? Sollte sie abnehmen? Es ist nicht die Mutter, die sich diese Fragen stellt, sondern der Vater. Obsessiv beginnt er ihr Gewicht zu kontrollieren, zwingt sie jeden Samstag auf die Waage und macht ihren vermeintlich unpassenden Körper schließlich sogar für seine stockende Karriere verantwortlich. Analytisch und trotzdem zärtlich beschreibt Dröscher das Leben einer Frau, die versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht von Schönheitsidealen, nicht von kleinen Haustyrannen.
7. Rebecca Solnit (15 Punkte)
„Orwells Rosen“, Rowohlt
Übersetzung: Michaela Grabinger
Spätestens seit ihrem 2008 erschienenen Essay „Wie Männer mir die Welt erklären“ ist die amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit international bekannt. Die darin erzählte Anekdote über einen Mann, der versucht hat Solnit ihr eigenes Buch zu erklären, gilt als Geburtsstunde des Begriffs „Mansplaining“. Ihr neues Buch „Orwells Rosen“ kann man auf unterschiedliche Weisen lesen: zum einen als Natur- und Kulturgeschichte der Gartenarbeit, zum anderen als ein Plädoyer für die Schönheit von Kunst und Natur als Bollwerk gegen den Totalitarismus. „Neben meiner Arbeit interessiert mich am meisten das Gärtnern“, schrieb George Orwell 1940, während in Europa der Krieg tobte und er an seinem berühmten Roman „1984“ arbeitete. Bei einem Besuch in Orwells Garten bemerkte Rebecca Solnit, dass die Rosen, die er damals pflanzte, immer noch blühen. Ausgehend von dieser Beobachtung widmet sich Solnit den großen Fragen der Gegenwart, erkennt in Stalin, der Zitronen am Polarkreis züchten wollte, den ersten Klimaskeptiker und deutet die Rosenindustrie als Beispiel kapitalistischer Ausbeutung.
8. ex aequo: Andrea Tompa (12 Punkte) NEU
„Omertà“, Suhrkamp
Übersetzung: Terézia Mora
Andrea Tompa wurde 1971 als Teil der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen geboren, seit 1990 lebt sie in Budapest, wo sie zu den schärfsten Kritikerinnen Orbans zählt. „Omertà“ ist der erste Roman Tompas, der auf Deutsch vorliegt. Schauplatz ist eine ländliche Gegend nahe der Stadt Klausenburg, die ehemals zu Ungarn und seit 1920 zu Rumänien gehört. In den 40er Jahren soll die rückständige Region nach sowjetischem Vorbild modernisiert und kollektiviert werden. Teil dieser Entwicklung ist der Gärtner Vilmos, dessen Garten zum Versuchslabor für Obstsorten und wettbewerbsfähige Rosenzüchtungen wird, die dem isolierten Ostblockland Anerkennung verschaffen sollen. Der Welt, die hier skizziert wird, verleiht Tompa über die höchst unterschiedlichen Stimmen ihrer Figuren Kontur. Neben Vilmos ist da Kali, eine junge Bäuerin, die ihrem prügelnden Mann davonläuft und als Dienstmädchen bei Vilmos lebt; Annuska, eine 16jährige Halbwaise, die sich in Vilmos verliebt, und ihre Schwester Eleonora, die ins Kloster geht und den politischen Säuberungen zum Opfer fällt.
8. ex aequo: Rachel Cusk (12 Punkte)
„Coventry“, Bibliothek Suhrkamp
Übersetzung: Eva Bonné
"To send someone to Coventry“ meint im Englischen, jemanden vollständig auszugrenzen, ihn so zu behandeln, als sei er unsichtbar und unhörbar, heißt es im titelgebenden Essay von Rachel Cusks Essayband „Coventry“. Der schmale Band mit sechs Essays ist 2019 auf Englisch erschienen, in einer umfassenderen Fassung, die auf Wunsch der Autorin verkleinert wurde. In „Coventry“ seziert die Autorin Alltägliches und Politisches, das Themenspektrum reicht von Feminismus über Unhöflichkeit bis hin zu Enthemmung, Brexit und Jesus. Alle Texte erzählen von Beobachtungen in einer verunsicherten Welt, vom zwischenmenschlichen Zusammenleben, von den Verlusten, die wir dabei zwangsweise erleiden und von deren Konsequenzen. Die Essays, so heißt es, würden ins Zentrum des gesellschaftlichen Geschehens treffen. Rachel Cusk, geboren 1967 in Kanada, aufgewachsen in Los Angeles, lebt heute in Großbritannien, in Brighton.
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10. Helena Adler (10 Punkte) NEU
„Fretten“, Jung und Jung
Helena Adler hat Malerei studiert, in den letzten Jahren aber den Pinsel gegen den Stift getauscht. Bildreich und wortgewaltig ist ihre Literatur: Wie schon im letzten hochgelobten Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ setzt sich die Salzburgerin auch in „Fretten“ mit ihrer bäuerlichen Herkunft, ihrer Mutterschaft und dem Leben in der Provinz auseinander. „Mein Milieu ist ein Malheur. Und mein Überleben ein waghalsiges Manöver“, heißt es da. Nur auf den ersten Blick ist Helena Adlers Literatur eine Abrechnung mit ihrer Herkunft. Wer genau liest, erkennt darin eine Liebeserklärung: an ihre Eltern, das Landleben und allen voran ihr Kind.