juli
ORF

Die besten 10 im Juli 2022

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Die Imker
S. Fischer

1. Gerhard Roth (36 Punkte)

Die Imker“, S. Fischer

Gerhard Roth zählte nicht nur zu den bedeutendsten, sondern auch den produktivsten Schriftstellern der österreichischen Literaturszene. Bis zuletzt hat er unablässig geschrieben, und so kann sich die Nachwelt wenige Monate nach seinem Tod im Februar noch über einen letzten Gerhard Roth-Roman freuen: „Die Imker“. Es ist ein apokalyptisches Szenario, das Gerhard Roth darin entwirft: ein rätselhafter gelber Nebel lässt den Großteil der Menschen wie durch Zauberhand verschwinden, einzig Schuhe und Kleidung deuten auf die verlorenen Menschenleben hin. Zu den Überlebenden gehören einige Patienten der Psychiatrischen Klinik Gugging, die sich in eine alte Imkerei zurückziehen. Immer mehr Menschen finden dort Zuflucht, Schritt für Schritt entsteht eine neue Gesellschaft, aus der Gewalt und Grausamkeit jedoch nicht verschwunden sind.

Mehr dazu auf ö1

Aufruhr der Meerestiere
Luchterhand

2. Marie Gamillscheg (22 Punkte)

Aufruhr der Meerestiere“, Luchterhand

Mit ihrem Debut „Alles was glänzt“ machte die 1992 geborene Marie Gamillscheg 2018 auf sich aufmerksam, der Roman wurde von der Kritik sehr gelobt und mit dem österreichischen Buchpreis in der Kategorie „Debut“ ausgezeichnet. Nun folgt ihr zweiter Roman „Aufruhr der Meerestiere“, in dem sich die Schriftstellerin intensiv mit einer bestimmten Quallenart auseinandergesetzt hat, der Meerwalnuss. Diese stark austreibende Rippenqualle hat das Potential, ganze Ökosysteme in Gefahr zu bringen, weil sie sich auch unter widrigen Bedingungen vermehren kann und vielen Fischen die Nahrung wegfrisst. Die Meeresbiologin Luise, die Hauptfigur in Gamillschegs Roman, hat ihr Leben voll und ganz der Erforschung dieser Qualle verschrieben, Privates und Familiäres haben daneben keinen Platz. Doch dann bringt sie ein Forschungsaufenthalt in ihrer Heimatstadt Graz dazu, sich mit der schwierigen Beziehung zu ihrem Vater auseinanderzusetzen.

Mehr dazu auf FM4

Heimweh nach dem Tod
Rowohlt

3. ex aequo: Imre Kértesz (20 Punkte)

Heimweh nach dem Tod“, Rowohlt
Übersetzung: Ingrid Krüger, Pál Kelemen

Imre Kertészs „Roman eines Schicksallosen“ gilt nicht nur als einer bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts, er zählt auch zu den wichtigsten literarischen Zeugnissen der Shoah. Mit 14 Jahren auf Grund seiner jüdischen Herkunft nach Auschwitz deportiert, hat Kertész darin seine Erfahrung des Konzentrationslagers verarbeitet. Vor kurzem sind im Nachlass des 2016 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers bislang unbekannte Arbeitstagebücher aufgetaucht, die den Entstehungsprozess des Romans dokumentieren und nun unter dem Titel „Heimweh nach dem Tod“ veröffentlicht wurden. 14 Jahre hat Kertész an „Roman eines Schicksallosen“ gearbeitet. Die Tagebücher zeigen, wie gewissenhaft der Schriftsteller sein Schreiben über das Lager reflektiert hat und geben tiefe Einblicke in die philosophischen Denkprozesse, die diese Arbeit begleitet haben.

Variation über das Thema Erwachen
Hanser

3. ex aequo: Tomas Venclova (20 Punkte)

Variation über das Thema Erwachen“, Hanser
Übersetzung: Cornelius Hell

Tomas Venclova, Jahrgang 1937, gilt als die bedeutendste literarische Stimme Litauens. Als Gründungsmitglied der litauischen Helsinki-Gruppe engagierte er sich in den 70er Jahren für die Bürgerrechtsbewegung, kritisierte offen das sowjetische Regime – bis ihm die Staatsbürgerschaft entzogen wurde und er in die USA emigrieren musste. Bis zu seiner Emeritierung war er dort Professor für slawische Literatur an der Yale-University, heute lebt er wieder in Vilnius. Sein nun auf Deutsch übersetzter Gedichtband „Variation über das Thema Erwachen“ versammelt Gedichte aus den letzten Jahrzehnten, denn Venclova nimmt sich dafür viel Zeit, schreibt nur wenige Gedichte pro Jahre. Ebendiese Sorgfalt spürt man in jeder Zeile, in den Venclova die Erfahrungen seines bewegten Lebens revuepassieren lässt.

Ferne Gestade
Penguin

5. Abdulrazak Gurnah (16 Punkte)

Ferne Gestade“, Penguin
Übersetzung: Thomas Brückner

Mit der Entscheidung für Abdulrazak Gurnah hat die Schwedische Akademie bei der Vergabe des Literaturnobelpreises 2021 wie so oft für eine Überraschung gesorgt. Insbesondere im deutschsprachigen Raum war der britisch-tansanische Schriftsteller nur einschlägigen Fachkreisen ein Begriff, die wenigen deutschen Übersetzungen seiner Bücher waren vergriffen. Der Penguin-Verlag hat nun mit der Wiederauflage seines Werks begonnen, nach „Das verlorene Paradies“ ist nun „Ferne Gestade“ wieder in deutscher Übersetzung erhältlich. Im Gegensatz zu ersterem ist die Handlung von „Ferne Gestade“ nicht in Afrika, sondern im Großbritannien der Neunziger Jahre angesiedelt und kreist um zwei Geflüchtete aus Sansibar. Der eine ist bereits in den 60ern nach London gekommen und hat sich als Literaturprofessor etabliert, der andere hat gerade erst seinen Asylantrag gestellt. Verbunden sind die beiden Männer durch ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit, das sie einholt, als sie sich zufällig in einem englischen Küstenort über den Weg laufen.

Mehr dazu auf orf.at

Landpartie
Penguin

6. Gary Shteyngart (14 Punkte)  NEU

Landpartie“, Penguin
Übersetzung: Nikolaus Stingl

Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Gary Shteyngart ist vor allem mit Kultur- und Reisereportagen für den renommierten New Yorker bekannt geworden. Als Autor satirischer Romane sind dem 1972 als Sohn jüdischer Russen in der Sowjetunion geborenen Shteyngart inzwischen etliche Bestseller gelungen. Sein jüngster Roman „Landpartie“ ist eine Hommage an Boccaccios  berühmten Novellenzyklus „Decamerone“. Eine Gruppe von Freunden flüchtet sich darin in ein luxuriöses Landhaus im Hudson Valley, während New York von der Corona-Pandemie erschüttert wird. Gastgeber ist der Schriftsteller Sasha Senderovsky, der mit Shteyngart nicht nur den Beruf gemeinsam hat, sondern seinem Schöpfer ganz insgesamt sehr ähnlich zu sein scheint. Denn auch Shteyngard besitzt ein Haus im Hudson Valley und dort habe er sich während des Lockdowns 2020 wahnsinnig einsam gefühlt, weswegen er sich kurzer Hand fiktive Gesellschaft herbei geschrieben hat. Humorvoll lässt Shteyngart seine Figuren in wechselnden Konstellationen sich ineinander verlieben und gegenseitig betrügen, was aus dem Roman eine kurzweilige Lektüre macht, die einen zuweilen an gute amerikanische Sitcoms denken lässt.

Mehr dazu auf Ö1

New York
Rowohlt Berlin

7. ex aequo: Fran Lebowitz (13 Punkte) NEU

New York und der Rest der Welt“, Rowohlt Berlin
Übersetzung: Sabine Hedinger, Willi Winkler

Fran Lebowitz ist in den USA eine absolute Kultfigur. Anfang der 1970er wurde sie von Andy Warhol für sein Magazin „Interview“ entdeckt und schreibt seither spitzzüngige und polemische Kolumnen für unterschiedlichste Zeitschriften, darunter „Mademoiselle“ und „Vanity Fair“. Die 1950 in New Jersey geborene Lebowitz verkörpert den Typus einer ebenso schrulligen wie schlagfertigen New Yorkerin, wie man sie etwa aus Woody Allen-Filmen kennt. Als Stilikone und begehrter Talkshowgast prägt sie seit Jahrzehnten das New Yorker Stadtleben, das sie in ihren Artikeln mit unheimlich viel Witz und charmanter Bösartigkeit zu kommentieren und beobachten weiß: Sätze wie „Ein Salat ist keine Mahlzeit, sondern ein Lebensstil“ kennt man, selbst wenn man den Namen Fran Lebowitz noch nie gehört hat. Kaum verwunderlich, dass ihr Regielegende Martin Scorsese 2020 mit „Pretend It’s A City“ eine eigene Dokuserie auf Netflix gewidmet hat – womit sie endgültig auch über den großen Teich hinaus berühmt wurde. Mit dem bei Rowohlt erschienenen Band „New York und der Rest der Welt“ kann man Fran Lebowitzs humorvolle Alltagsbetrachtungen nun auch auf Deutsch genießen.

Kilometer null
Berlin Verlag

7. ex aequo: Stefan Kutzenberger (13 Punkte) NEU

Kilometer null“, Berlin Verlag

Im neuen Roman des oberösterreichischen Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Stefan Kutzenburger wird gleich im ersten Satz die Hauptfigur erschossen - in einem 11.300 Kilometer entfernten Ort in Uruguay. Wie es dazu kam, davon erzählt „Kilometer Null“, mit dem Kutzenberger nach „Friedinger“ und „Jokerman“ die Trilogie um seinen Protagonisten, einen Literaturwissenschaftler namens Stefan Kutzenberger, abschließt. Es ist ist eine verschlungene Geschichte, in der es zu einem Krieg kommt zwischen Anhängern des Realen und des Fiktionalen. Kutzenberger erschafft ein literarisches Universum, geprägt und inspiriert von Autoren des lateinamerikanischen magischen Realismus wie Jorge Luis Borges. Mit feiner Selbstironie und Leichtigkeit gelingt ihm ein 400 Seiten starkes Lesevergnügen.

Orwells Rosen
Rowohlt

9. Rebecca Solnit (12 Punkte) NEU

Orwells Rosen“, Rowohlt
Übersetzung: Michaela Grabinger

Spätestens seit ihrem 2008 erschienenen Essay „Wie Männer mir die Welt erklären“ ist die amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit international bekannt. Die darin erzählte Anekdote über einen Mann, der versucht hat Solnit ihr eigenes Buch zu erklären, gilt als Geburtsstunde des Begriffs „Mansplaining“. Ihr neues Buch „Orwells Rosen“ kann man auf unterschiedliche Weisen lesen: zum einen als Natur- und Kulturgeschichte der Gartenarbeit, zum anderen als ein Plädoyer für die Schönheit von Kunst und Natur als Bollwerk gegen den Totalitarismus. „Neben meiner Arbeit interessiert mich am meisten das Gärtnern“, schrieb George Orwell 1940, während in Europa der Krieg tobte und er an seinem berühmten Roman „1984“ arbeitete. Bei einem Besuch in Orwells Garten bemerkte Rebecca Solnit, dass die Rosen, die er damals pflanzte, immer noch blühen. Ausgehend von dieser Beobachtung widmet sich Solnit den großen Fragen der Gegenwart, erkennt in Stalin, der Zitronen am Polarkreis züchten wollte, den ersten Klimaskeptiker und deutet die Rosenindustrie als Beispiel kapitalistischer Ausbeutung.

Innere Gewalt
bahoe books

10. ex aequo: Alexander Lippmann (10 Punkte) NEU

„Innere Gewalt“, bahoe books

In „Innere Gewalt“, dem neuen Roman des Wiener Schriftstellers Alexander Lippmann, dreht sich alles um die Figur Olivia Wolf. Sie ist eine frustrierte, uninspirierte Mitarbeiterin einer Werbeagentur, die sich halbherzig durch neue Hobbies wie Kampfsport oder Malerei aus dem Alltagstrott zu befreien versucht, die Staffelei dann aber doch lieber unbenutzt im Wohnzimmer verstauben lässt und etliche Gründe parat hat, warum diese oder jene Sportstätte ihren Vorstellungen einfach nicht entspricht. Was sie in der Werbeagentur, für die sie arbeitet, eigentlich genau macht, weiß sie selbst nicht recht. Inzwischen ist Olivia allerdings perfekt darin, so zu tun, als wäre sie schwer beschäftig und schafft es kleine Arbeiten über eine Woche hinzustrecken, sodass ihre mangelnde Produktivität niemandem auffällt. Während der Roman als gewiefte Satire auf die Marketingwelt beginnt, entwickelt sich „Innere Gewalt“ allmählich zu einem Psychogramm einer Frau, die an den Ansprüchen, die das Leben an sie stellt, zu zerbrechen droht.

Das Foto schaute mich an
Bibliothek Suhrkamp

10. ex aequo: Katja Petrowskaja (10 Punkte) NEU

„Das Foto schaute mich an“, Bibliothek Suhrkamp

Seit 1999 lebt die 1970 in Kiew geborene Journalistin Katja Petrowskaja in Deutschland und hat sich spätestens mit ihrem Triumph beim Bachmann-Wettbewerb 2013 auch einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Ihr neues Buch „Das Foto schaute mich an“ ist eine Sammlung von kurzen Essays über Fotos und Ausstellungen, die sie in den letzten sieben Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlich hat. Interessant ist der Band nicht nur dank der Feinsinnigkeit und Intelligenz, mit der es Petrowskaja versteht über Bilder zu schreiben. Der erste Text darin – eine Auseinandersetzung mit einem Foto eines Bergarbeiters im Donbass – entstand 2015 und damit in einer Zeit, in der im Osten der Ukraine bereits gekämpft wurde, ohne dass man im Westen Europas davon sonderlich Notiz genommen hätte. Es sei kein Buch über den Krieg, sagt Petrowskaja, aber sie habe aus Ohnmacht gegenüber der Gewalt, die über ihr Heimatland hineingebrochen ist, begonnen über Fotos zu schreiben. Fotos, wie das eines alten Mannes vor einem zerschossenen Haus im Prag des Jahres 1968, in denen das Gedächtnis eines Europas bewahrt ist, das heute wieder mit der Omnipräsenz des Krieges konfrontiert ist.

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