
Der Beste im Juni 2022: Tomas Venclova
Die Irrfahrt, die keine Heimkehr erlaubt
Der litauische Dichter Tomas Venclova musste in der Sowjetzeit ins Exil. Bis heute ist er eine kritische Stimme.
„Tyrannen werden nicht Angst auslösen, sondern Verachtung.“ Diese Gedichtzeile von Tomas Venclova hat leider einen hohen Aktualitätswert. Der 1937 in Litauen geborene Lyriker ist aber kein Visionär, der Schreckliches voraussah, sondern einer, der dem politischen Grauen selbst ins Auge sah. Als Sohn eines hohen kommunistischen Literaturfunktionärs genoss er in der Jugend zwar Privilegien, doch er ging früh in Opposition zur Sowjetmacht. 1977 musste er in die USA emigrieren. Selbst nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Litauens in den 1990er-Jahren blieb Venclova ein unangepasster Mahner: So forderte der Dichter seine Landsleute auf, sich der Mitverantwortung am Holocaust in Litauen zu stellen.

Ist also Tomas Venclova ein politischer Dichter? Sagen wir es so: In dem eben erschienenen Gedichtband „Variation über das Thema Erwachen“ gibt es Gedichte, in denen direkt auf politische Begebenheiten Bezug genommen wird. Ersichtlich etwa bei „Die Fahrpläne am 9. November“: Der Berliner Mauerfall ist hier Beginn der Demokratiebestrebungen in den Staaten Osteuropas. Im Gedicht ist dies allerdings in die Metaphorik einer Zugfahrt eingebunden: „Es rasseln die Kupplungen der / Republiken, / Grenzen sind ins Wanken geraten, die Zugluft weht, doch der / Lokführer / hantiert an derselben Stelle herum wie zuvor.“
Tomas Venclova schätzt die Enjambements, weil er damit in bestimmten Verszeilen Schlüsselworte zur Geltung bringen kann: „Republiken“, die nach Freiheit streben, und der „Lokführer“, also die Mächtigen im Sowjetstaat, die den Status quo erhalten wollen. Doch man merkt auch, dass der Dichter dies alles in einer sehr ausgeprägten Bildsprache einbringt. Wenn man also Venclova als Verfasser von politischer Lyrik bezeichnen wollte, so muss man genauso die hohe Poetizität seiner Texte hervorheben.

Tomas Venclova: Variation über das Thema Erwachen
Gedichte. Edition Lyrik Kabinett
Übersetzt von Cornelius Hell
Nachwort von Michael Krüger
112 Seiten
Erschienen am: 14.03.2022
Hanser
„Variation über das Thema Erwachen“ heißt das Gedicht, das zugleich den Titel für den neuen Lyrikband liefert. In ihm geht es sehr stark um persönliche Erinnerungen, doch diese werden durch etwas Bestimmtes hervorgerufen: „Was echot im Dunkeln? Juni-Winde / in Gärten nah am See? Dann sind wir beide / im Sommerhaus ganz oben und noch jung / am Morgen eingeschlafen.“ Die Natur spielt in Venclovas Lyrik keine geringe Rolle. Sie wird vom lyrischen Ich beobachtet, zugleich gibt sie in ihren Erscheinungsformen Zeichen, die das Ich zu deuten hat. Es wäre aber falsch, deswegen Venclova einen Naturlyriker zu nennen, so wie er eben auch kein politischer Dichter in Reinkultur ist — sondern er verwebt Politik, Natur und persönliches Erleben zu einem eigenständigen poetischen Ganzen.
„Schwermut und Leichtsinn“ würden sich in Tomas Venclovas Gedichten die Waage halten, so Michael Krüger in seinem Nachwort. Mit „Leichtsinn“ ist wahrscheinlich gemeint, dass der Autor sich leichten Sinnes auf die Tradition einlässt — seien es antike Philosophen oder Odysseus. Statt der Metaphorik der Zugfahrt kommt nun die der Schiffsreise zum Zug: "Die Musik füllt das unbeständige Schiff. / Es lebt nur sie zwischen Welle und Himmel — / die Nacht des Erinnerns, man findet kein Ithaka." Das Leben ist eine Irrfahrt, die Heimkehr auszuschließen scheint. Und diese Erkenntnis hat natürlich mit poetischer Schwermut zu tun. Dass man nun das Schwermütige wie auch den leichten Sinn von Tomas Venclovas Lyrik auf Deutsch nachspüren kann, verdankt man Cornelius Hell, der 33 Gedichte aus den Jahren von 2003 bis 2021 brillant übersetzt hat.
Text: Andreas Puff-Trojan, Die Presse