Imre Kertesz
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Der Beste im Mai 2022: Imre Kertész

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Im Nachlass des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész tauchte
sein „Arbeitstagebuch zum Roman eines Schicksallosen" auf.
Es birgt nicht nur Einsichten in die Entstehung seines zentralen Werks, sondern grundlegende Erkenntnisse über das Schreiben.

Wenn sie gestorben sind, verschwinden auch die größten Schriftstellerinnen und Schriftsteller sang- und klanglos aus dem Medienbetrieb und tauchen bestenfalls zu einem runden Geburts- oder Todestag wieder auf – vielleicht zeigt sich gerade daran die Inkompatibilität der Literatur mit der auf Personen und Aktualitäten fixierten Medienwelt. Ein überraschender Fund im Nachlass des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész ist aber nicht nur deswegen ein Glücksfall, weil dadurch sein einzigartiges literarisches Werk auch im medialen Diskurs noch einmal aufpoppt, sondern weil es ein neues Licht auf sein zentrales Werk, den „Roman eines Schicksallosen“, wirft.

Imre Kertesz
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Imre Kertesz beim Schreiben

Schon die bereits vorliegenden Tagebücher und Aufzeichnungen von Imre Kertész sind ein literarisches Großereignis: das berühmte „Galeerentagebuch“, das die Jahre 1961 bis 1991 umfasst, das erst in seinem Todesjahr 2016 erschienene Buch „Der Betrachter“, in dem sich vor allem die Jahre 1991 bis 2001 widerspiegeln, sowie der grandiose Schlussstein „Letzte Einkehr“ über die Jahre 2001 bis 2009. Sie enthalten nicht nur autobiografische Momente, Lektüre-Analysen und Arbeitsjournale, sondern, oft aphoristisch verkürzt, zentrale Momente seines Denkens.

Nun sind, mustergültig ediert und mit wichtigen Anmerkungen versehen, seine bis dato unbekannten Aufzeichnungen aus den Jahren 1958 bis 1962 erschienen – aus einer Zeit, in der sich Kertész ins Schreiben erfolgreicher Komödien und Musicals verstrickte, um damit Geld für das Romanschreiben zu lukrieren – wovon ihn aber gerade diese Arbeit ständig abhielt: nicht nur aus Zeitgründen, sondern weil sie ihn von sich selbst entfernte; „habe mich fast schon in den einfältigen Zustand eines monomanisch einseitigen, seine Heiterkeitserfolge wiederkäuenden Bühnenautors eingelebt“, konstatiert Kertész am 1. April 1960. Schreiben ist für ihn hingegen „nichts anderes als Kontakt mit meinem Ich“.

Wer denkt, dieses Tagebuch sei nur etwas für Kertész-Spezialisten oder enthalte vor allem Material zu Entstehung und Interpretation des „Romans eines Schicksallosen“, liegt grundfalsch. Schon auf der zweiten Seite findet sich die grundlegende Einsicht über Schreiben und Literatur, „dass sich zum dichterischen Erlebnis niemals das erhöht, dem wir nachrennen und das uns gefällt, sondern nur das, was wir gezwungen sind zu erleben, unser Schicksal an sich“. Und Kertész formuliert einen Lackmustest für Literatur, der heute vielleicht noch stärker zeigt, worauf es ankommt, als bei seiner Formulierung vor über sechs Jahrzehnten: „Der Schriftsteller hat Talent oder hat es nicht, das gibt nicht den Ausschlag, und ein weniger talentierter, aber großer Geist kann sogar auf schriftstellerischem Gebiet mehr erreichen als ein mittelmäßiger und talentierter, der sich im monomanischen Frondienst seines eigenen Talents zersplittert und es letzten Endes zu nichts weiter bringt, als dazu beizutragen, eine ohnehin schon von verwirrenden Erscheinungen wimmelnde Welt mit imaginären Figuren zu bevölkern.“ Für Kertész ist der Schriftsteller kein Napoleon, für den die Welt „bloßes Material“ bedeutet, ihm geht es darum, „die lebendigsten, realsten und überschäumendsten Momente des Ichs festzuhalten“.

Heimweh nach dem Tod
Rowohlt

Imre Kertész: Heimweh nach dem Tod
Arbeitstagebuch zur Entstehung des «Romans eines Schicksallosen» Herausgegeben von: Ingrid Krüger, Pál Kelemen
Übersetzt von: Ingrid Krüger, Pál Kelemen
Erscheinungstermin: 22.03.2022
144 Seiten
Rowohlt

Vor dieser Hintergrundfolie ringt Kertész mit der Konstruktion und ersten Entwürfen seines Romans. Das ist zunächst noch der nie vollendete Roman „Ich, der Henker“, doch bald steht der Entschluss fest, ihn beiseitezulegen „und stattdessen meine eigene Mythologie zu schreiben – die Geschichte meiner Deportation“. So präzise skizziert er die naive Erzählstimme oder die klare Einsicht, dass der autobiografische Stoff nicht die Konstruktion des Romans dominieren darf, dass man das Werk schon vor sich sieht – um dann festzustellen: „Ich habe den Glauben an meinen Deportationsroman verloren.“ Dieser Kampf mit den Dämonen ist nie larmoyant, sondern selbst große Literatur.

Die Bezeichnung des Romans ändert sich mehrfach, bis hin zur Ironie des Titels „Ferien im Lager“. In diesem Arbeitstagebuch wird nämlich nicht nur die im deutschen Sprachraum wohl noch zu wenig wahrgenommene Tatsache deutlich, dass „Der Fremde“ von Albert Camus für den Stil des Romans Pate gestanden ist, sondern auch die Auseinandersetzung mit Thomas Manns „Zauberberg“. Kertész blendet das Sanatorium ein in das Todeslager, weil beides ein Heraustreten aus der normalen Alltagswelt bedeutet und der Zustand des „Muselmanen“, des willenlos auf seinen Tod wartenden Häftlings im Krankenlager, von Anfang an im Mittelpunkt steht. „Der Mensch kann nie so nahe bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor dem Tod“, weiß Imre Kertész aus eigener Erfahrung. So kommt er zur Einsicht: „Heimweh nach dem Tod – unter einer solchen Überschrift könnte ich die Gefühle zusammenfassen, die mich inspirieren, dieses Buch zu schreiben“, notiert Kertész.

Noch über ein Jahrzehnt sollte Kertész an dem Roman arbeiten, der dann 1975 unter dem Titel „Sorstalanság“ erschien und erst nach Jahrzehnten durch seine zweite deutsche Übersetzung Beachtung fand. Dieser Titel führt bewusst weg von den autobiografischen Bezügen zur Schicksallosigkeit des „funktionalen Menschen“, die Kertész um Weihnachten 1963 zum ersten Mal klar skizziert hat.

Durch das jetzt erschienene Arbeitstagebuch ist dieser Essay nun zugänglich und zeigt, wie sehr Kertész eben nicht nur einen autobiografisch basierten KZ-Roman schreiben, sondern auch eine Zeitdiagnose entwerfen wollte. Oder in seinen Worten: „Buchenwald: Alpha und Omega aller Wahrheit in meinem Leben. Alles zählt nur an Buchenwald gemessen, die ganze Dekadenz, die dem Menschen unter zivilisierten Bedingungen auflauert. Mein Ziel kann nicht sein, Romanautor zu werden, einzig und allein Romanautor, der eventuell gute Bücher schreibt und den man eventuell liest; gemessen an Buchenwald zählt das überhaupt nicht.“

Text: Cornelius Hell, Die Presse



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