Bestenliste Februar
ORF

Die besten 10 im Februar 2022

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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versprechen
Luchterhand

1. Damon Galgut (29 Punkte) NEU

„Das Versprechen“, Luchterhand
Übersetzung: Thomas Mohr

Für seinen Roman „Das Versprechen“ ist der südafrikanische Schriftsteller Damon Galgut im letzten Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden, dem renommiertesten Literaturpreis im englischsprachigen Raum. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor. „Das Versprechen“ ist ein klassischer Familienroman, bestehend aus vier großen Kapiteln, die jeweils einem Mitglied der Swarts gewidmet sind, einer weißen Farmerfamilie aus der Nähe von Pretoria. Die zerrütteten Familienverhältnisse der Swarts verschränkt Galgut mit der jüngeren Geschichte Südafrikas, die Handlung umspannt die Jahre 1986-2018, vom Ende der Apartheid bis zum Ende der Zuma-Präsidentschaft. Gefeiert als Psychogramm der südafrikanischen Gesellschaft, besticht der Roman vor allem durch Galguts eigenwilligen Prosastil: sein Erzähler tritt immer wieder kommentierend hervor, spricht Leser als auch Figuren direkt an und verleiht dem Buch dabei Witz und Leichtfüßigkeit.


löwenherz
Hanser

2. Monika Helfer (23 Punkte) NEU

„Löwenherz“, Hanser

Mit ihrer Familienchronik ist Monika Helfer der große Durchbruch im deutschsprachigen Literaturbetrieb gelungen. Die beiden Romane „Die Bagage“ und „Vati“ über die Großeltern und ihren Vater eroberten die Bestsellerlisten im gesamten deutschsprachigen Raum. "Weil jeder eine Familie hat“, erklärt sich die Autorin den Erfolg. Mit „Löwenherz“ hat Monika Helfer nun den dritten und letzten Teil dieser autobiographischen Reihe veröffentlicht, es ist der intimste und persönlichste der drei Romane. Im Zentrum steht diesmal ihr jüngerer Bruder Richard, der sich mit 30 Jahren das Leben genommen hat. In ebenso zärtlichen wie präzisen Sätzen erzählt die Schriftstellerin von ihrem Bruder als einem Träumer, Fantasten und Eigenbrötler, der nie ganz anzukommen scheint im Leben. Gleichzeitig entwirft sie ein Panorama der Vorarlberger Gesellschaft der 70er Jahre, die von der konservativen Landbevölkerung dominiert wurde.

Paradies
Penguin

3. Abdulrazak Gurnah (20 Punkte)

Das verlorene Paradies“, Penguin  
Übersetzung: Inge Leipold  

Abdulrazak Gurnah: Als die Schwedische Akademie den Namen des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers verkündete, herrschte im deutschsprachigen Raum zunächst große Ratlosigkeit. Zum einen war dem Nobelpreiskomitee mit dieser Entscheidung mal wieder eine große Überraschung gelungen, zum anderen waren keine deutschen Übersetzungen des tansanisch-britischen Autors aufzutreiben. Der Penguin-Verlag hat nun eine Wiederauflage von Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ vorgelegt, der 1994 für den Booker Price nominiert war und als der literarische Durchbruch des Schriftstellers gilt. Die Handlung spielt in Ostafrika, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. An Hand des Schicksals des zwölfjährigen Yusufs entwirft Gurnah ein ebenso detailreiches wie ambivalentes Porträt der multiethnischen Gesellschaft Ostafrikas und konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit den Schrecken der deutschen Kolonialherrschaft.   

Vernichten
DuMont

4. Michel Houellebecq (16 Punkte) NEU

„Vernichten“, DuMont
Übersetzung: Stephan Kleiner , Bernd Wilczek

Schon Wochen vor der Veröffentlichung von Michel Houellebecqs neuem Roman wurde wild spekuliert, was sich hinter dem Titel „Vernichten“ wohl verbergen würde. Der Verlag hatte eine strenge Sperrfrist auferlegt, im Netz kursierten Raubkopien – einen solchen Hype schafft Literatur nur selten. Seit 11. Jänner liegt der Roman nun vor, darin macht Houellebecq seinem Ruf als Seismograph der Gegenwart alle Ehre. Die Rahmenhandlung ist im Jahr 2027 angesetzt, Frankreich befindet sich in einem schmutzigen Wahlkampf rund um die Präsidentschaftswahlen, ein radikaler Liberalismus hat sich als politischer Mainstream durchgesetzt. Vor diesem Hintergrund erzählt Houellebecq die Geschichte einer unglücklichen Familie, in deren Zentrum ein zerrüttetes Liebespaar steht. Ungewohnt für Houellebecq: Die Liebe erweist sich als Rettungsanker im Daseinskampf angesichts des Irrsinns der Welt. Insgesamt zeigt sich der Schriftsteller von einer weniger zynischen und provokativen Seite – ein altersmildes Werk, wie viele Kritiker meinen.

Kommentare
Suhrkamp

5. ex aequo: Alexander Kluge (12 Punkte) NEU

„Das Buch der Kommentare“, Suhrkamp

Jurist, Schriftsteller, Filmregisseur, Drehbuchautor, Philosoph, Kurator – Alexander Kluge zählt nicht nur zu den wichtigsten Intellektuellen im deutschen Sprachraum, er ist auch einer jener wenigen Menschen, auf den die Bezeichnung „Universalgenie“ ohne Zweifel zutrifft. Einem breiten Publikum bekannt geworden als prägende Figur des „Neuen Deutschen Films“ sieht sich Kluge persönlich am ehesten als Schriftsteller. Sein Hauptwerk seien seine Bücher, so der Georg-Büchner-Preisträger. Im Februar feiert Alexander Kluge seinen 90. Geburtstag, aus diesem Anlass ist bei seinem Stammverlag Suhrkamp „Das Buch der Kommentare“ erschienen, eine Sammlung von Prosaminiaturen, die der Schriftsteller seit dem Herbst 2020 verfasst hat und inhaltlich von der Pandemie über Pilotenfische bis hin zu G. W. Leibniz reichen. „Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie berichten vertikal. Sie sind Bergwerke, Katakomben […]. Es reizt mich, diese Form der Narration neu zu erproben“, so Alexander Kluge über sein „Buch der Kommentare“.

Paradies
Claassen

5. ex aequo: Hanya Yanagihara (12 Punkte) NEU

„Zum Paradies“, Claassen
Übersetzung: Stephan Kleiner

Mit „Ein wenig Leben“ feierte die hawaiianische Journalistin und Schriftstellerin Hanya Yanagihara 2015 ihren ganz großen Durchbruch: der Roman über die drastischen Folgen sexuellen Missbrauchs gilt als eines der meistverkauften und meistdiskutierten Bücher der letzten Jahre. Ihr neuer Roman „Zum Paradies“ ist ein 900-seitiger Wälzer, mit dem sich die Autorin viel vorgenommen hat: sie verwebt zeitgenössische Diskurse wie Klimakrise, Pandemie und Identitätspolitik mit einer kontrafaktischen Vergangenheit und einer dystopischen Zukunft. Die Handlung gliedert sich in drei Teile, die jeweils genau hundert Jahre auseinanderliegen und von drei unterschiedlichen menschlichen Schicksalen erzählen. Als einzige inhaltliche Konstante agiert der Schauplatz: ein Townhouse am Washington Square Park in Manhattan. Der erste Teil führt in ein fiktives New York des Jahres 1893, das als Mitglied der „Free States“ gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt hat. Im zweiten Teil befinden wir uns im Jahr 1993, in einem Manhattan, das schwer unter der AIDS-Epidemie zu leiden hat. Den dritten Teil hat Yanagihara in die Zukunft des Jahres 2093 versetzt, in eine durch Seuchen zersetzte, autoritäre Welt.


Unzertrennlichen
Rowohlt

5. ex aequo: Simone de Beauvoir (12 Punkte)

Die Unzertrennlichen“, Rowohlt
Übersetzung: Amelie Thoma

Es ist ebenso erstaunlich wie erfreulich, dass es aus dem Nachlass Simone de Beauvoirs noch solche Schätze zu bergen gibt: Bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 hat Simone de Beauvoir gezögert, das Manuskript von „Die Unzertrennlichen“ zu veröffentlichen. Warum, ist bis heute ungeklärt, aber es mag damit zu tun haben, dass Beauvoir darin den frühen Tod ihrer Jugendfreundin Élisabeth „Zaza“ Lacoin verarbeitet hat. 2020 ist der Roman erstmals in Frankreich erschienen, nun liegt die deutsche Übersetzung vor. Beauvoir erzählt darin von einer innigen Freundschaft zweier junger Frauen aus der Pariser Bourgeoisie. Sylvie verehrt die aufmüpfige und eigensinnige Andrée, eifert ihr mit aller Kraft nach und hegt eine fast obsessive Zuneigung für sie. Doch Andrée droht immer mehr an dem bürgerlichen Korsett, in das sie von ihrer herrschsüchtigen Mutter gezwängt wird, zu zerbrechen. 

Letzte Sommer
Zsolnay

8. ex aequo: Gianfranco Calligarich (10 Punkte) NEU

„Der letzte Sommer in der Stadt“, Zsolnay
Übersetzung: Karin Krieger

Im Original ist „Der letzte Sommer in der Stadt“ bereits vor knapp fünfzig Jahren erschienen, in Italien gilt der Roman des Journalisten und Drehbuchautors Gianfranco Calligarich als regelrechtes Kultbuch. Mit einiger Verzögerung hat auch der internationale Buchmarkt das Werk für sich entdeckt: in über 20 Sprachen wird der Klassiker gerade übersetzt, die deutsche Ausgabe ist nun bei Zsolnay erschienen. Der Grund für die Wiederentdeckung liegt auf der Hand: „Der letzte Sommer in der Stadt“ ist eine nostalgische Zeitreise in das Rom der 70er Jahre, beim Lesen fühlt man sich unweigerlich an Kinoklassiker wie Fellinis „La Dolce Vita“ oder Sorrentinos „La Grande Bellezza“ erinnert. Vor dem schillernden Hintergrund der ewigen Stadt erzählt Calligarich die Geschichte eines jungen Mannes, der von Mailand nach Rom zieht und das Leben dort in vollen Zügen genießt – bis er sich Hals über Kopf in eine Frau verliebt, die alles durcheinander bringt.

hundepark
kiepenheuer & witsch

8. ex aequo: Sofi Oksanen (10 Punkte) NEU

„Hundepark“, Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Angela Plöger

Sofi Oksanen, 1977 als Tochter einer Estin in Finnland geboren, feierte ihren literarischen Durchbruch 2010 mit dem Roman „Fegefeuer“, der in mehr als 38 Sprachen übersetzt wurde und mit dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde. In ihrer Literatur setzt sich Oksanen häufig mit der schwierigen Geschichte Estlands und Finnlands auseinander und mischt sich in Kolumnen und Artikeln auch immer wieder in aktuelle Debatten ein. „Hundepark“ heißt ihr jüngster Roman. Alles beginnt mit der zufälligen Begegnung zweier Frauen, die einer fremden Familie mit zwei Kindern beim Spielen im Park zusehen. Schicht für Schicht wird die Vorgeschichte dieser Szene freigelegt, die von Helsinki bis in die Ukraine führt: Die beiden Frauen kennen sich aus einer Agentur, die Eizellen an europäische Familien vermittelt. Die beiden Kinder im Park sind – zumindest biologisch gesehen – ihre. Oksanen erzählt von der gnadenlosen Ausbeutung weiblicher Körper in einem halbseidenen Geschäftsmodell zwischen Ost und West, das im Kern auf dem Ausnützen von Lebensträumen beruht: Dem Traum von einem Kind und den von einer besseren Zukunft.

Aichinger
Edition Korrespondenzen

10. ex aequo: Helga und Ilse Aichinger (8 Punkte)

„Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, Edition Korrespondenzen

Mit Ilse Aichinger, so heißt es, hat die Literatur nach 1945 begonnen: Zum ersten Mal in der österreichischen Literaturgeschichte ist das Wort „Konzentrationslager“ in ihrer Erzählung „Das Vierte Tor“ gefallen, ein Text, der zur Vorlage für ihren berühmten Roman „Die größere Hoffnung“ geworden ist. Ilse Aichinger wurde 1921, wenige Minuten vor ihrer Zwillingsschwester Helga, als Tochter einer jüdischen Ärztin in Wien geboren. Helga konnte kurz vor dem Krieg mit einem der letzten Kindertransporte nach London fliehen, Ilse blieb bei der Mutter in Wien und musste mitansehen, wie Großmutter, Onkel und Tante deportiert wurden. Der Briefwechsel der vom Schicksal so tragisch getrennten Zwillinge wurde anlässlich des 100. Geburtstags Ilse Aichingers nun erstmals veröffentlicht.

beamte
Hanser

    

10. ex aequo: Herta Müller (8 Punkte)

Der Beamte sagte“, Hanser

„Denn niemand hat eine eigene Sprache, auch Schriftsteller nicht. Es gibt nur die Wörter, die es gibt, die hat jeder, und aus diesen Wörtern, wenn man sie so zusammensetzt, wie sie noch nie waren, entsteht Poesie.“ Die Collagen der Herta Müller bilden inzwischen ein eigenes Genre innerhalb des Werks der Literaturnobelpreisträgerin: seit mehr als 30 Jahren sammelt die Schriftstellerin Wörter, die sie in Zeitungen oder Magazinen findet, ausschneidet und zu neuen poetischen Kunstwerken zusammensetzt. In ihrem jüngsten Buch „Der Beamte sagte“ ist aus dieser Kunsttechnik erstmals eine eigenständige Erzählung entstanden, die sich mit einer wichtigen Station innerhalb der Biographie der Schriftstellerin befasst: 1987 reiste Herta Müller nach Westdeutschland, wo sie eineinhalb Jahre in einem Auffanglager für Flüchtlinge verbringen musste, da die deutschen Beamten ihr unterstellten, eine Agentin des Ceauşescu-Regimes zu sein.

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