Jonathan Franzen
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Der Beste im November 2021: Jonathan Franzen

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Fulminanter Auftakt zu neuer Familiensaga

Vor ein paar Jahren hat Jonathan Franzen, spätestens seit seinem Welterfolg „Die Korrekturen“ (2001) der Übervater des neueren amerikanischen Familienromans, mit der Ankündigung überrascht, nach Roman Nummer sechs sei Schluss mit dem Schreiben. Nun erscheint „Crossroads“ und entpuppt sich als meisterhafter Auftakt einer Trilogie, in der der Großautor noch einmal sein Können ausbreitet – und den Ursprung unserer Gegenwart erzählt.

Ein 826 Seiten langer Roman, der im Wesentlichen von den Gefühlsregungen einer weißen Pfarrersfamilie in den Jahren 1971 und 1972 in einer Vorstadt von Chicago erzählt – das klingt zunächst einmal nach einer literarischen Fleißaufgabe. Liest man dann die ersten Seiten, aus denen einem ein stilistisch gekonnter, aber etwas zu glatter Realismus entgegenschlägt, beginnt man tatsächlich zu zweifeln.

Ist diese Geschichte um Russ Hildebrandt, den zweiten Pastor aus dem reichen Vorort New Prospect, der sich nach 25 Ehejahren nach Abwechslung sehnt und sich recht ungeschickt an eine junge Frau aus seiner Gemeinde heranmacht, tatsächlich der Auftakt zum literarischen Vermächtnis des Verkaufswunders Franzen?

Und wie passt das Buch in das Bild des Autors als Zeitdiagnostiker? Schließlich positioniert sich der 1959 Geborene gerne als öffentlicher Intellektueller, der nicht nur mit seinen Familiensagas rund um die Lamberts in den „Korrekturen“ und den Berglunds in „Freiheit“ (2010) den Anspruch erhob, die Gegenwart zu vermessen. Auch mit seinem letzten Essay zur Klimakrise, „The End of the End of the Earth“, 2018 fiel der Hobbyornithologe durchaus als moralische Instanz auf.

Langsames Erzählen, tiefe Gefühle

„Crossroads“ fügt sich tatsächlich in dieses Bild ein, nimmt sich aber viele Seiten Zeit dafür. Kapitelweise wechselt Franzen seine Protagonisten: vom linkischen Möchtegern-Casanova Russ, in dem das durchwegs sympathische Herz eines gekränkten Weltverbessers schlägt, zu Tochter Becky, die hübsch und angesehen in der sozialen Elite ihrer Highschool rangiert und sich mit Liebesproblemen herumschlägt. Der älteste Sohn Clem vermasselt gerade sein Studium, weil er dem Rausch seiner ersten Liebesbeziehung verfällt und erwägt, in den Vietnam-Krieg zu ziehen.

Der hochbegabte fünfzehnjährige Perry ist ein Meister der psychologischen Manipulation und versteckt seine Drogenprobleme dadurch gekonnt vor seiner Familie. Und Marion, Russ’ Frau, ist die zurückgenommenste Figur, die aber an einer tragischen Vorgeschichte laboriert, die sie nicht einmal ihrer Psychotherapeutin offenlegt. Der jüngste Bruder Judson wird nie zum Zentrum der Erzählung, er bleibt eine Randfigur, deren Geschichte über jene der anderen Familienmitglieder erzählt wird.

Obwohl der Einstieg in die Vorstadtwelt behäbig ist, entfaltet sich bald die großangelegte und meisterhafte Konstruktion des Romans. Der unübersetzte Titel „Crossroads“ bestimmt diese: Jedes Familienmitglied befindet sich an einem „Scheideweg“, ringt um eine neue Richtung in seinem Leben. Diese wird in den Weihnachtstagen 1971 getroffen. Viele hundert Seiten später kann man dann lesen, wie die psychologisch fein ausgearbeiteten inneren Kämpfe ein Jahr später zu teils spektakulären Umwälzungen führen.

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Geister der vergangenen Weihnacht

Dabei findet Franzen für den Dezember 1971 für jedes Familienmitglied eine Szene, anhand derer er die Lebensgeschichte der Figur erzählt. Beim jeweils nächsten Konflikt, etwa zwischen Becky und Perry, weiß man dann um Missverständnisse, Krisen und die eigentlichen Absichten der Figuren besser Bescheid als das Gegenüber im Plot.

Am bravourösesten gelingt diese erzählerische Logik, mit der die Hildebrandts mit immer mehr psychischen Facetten ausgestattet werden, bei Marion. Bei einem ihrer heimlichen Besuche bei einer Psychotherapeutin erfährt man von ihrer Jugend als einem durch die Weltwirtschaftskrise deklassierten Mädchen aus dem jüdischen Großbürgertum, ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden, ihrer fatalen Beziehung zu einem verheirateten Mann und einem Klinikaufenthalt. Gleichzeitig werden die Leserinnen und Leser eingeweiht, was davon sie ihrem Mann immer verschwiegen hat und was davon sie beim Erzählen aus Scham sogar noch vor ihrer Therapeutin verbirgt.

Zuweilen erfährt man so Details, die plötzlich, nachdem ein Familienmitglied durch die lange Erzählung hindurch klar umrissen scheint, die Figur nachträglich uminterpretieren. Warum Marion etwa aufgrund eines Traumas Weihnachten hasst und bis dahin ihrer Familie gegenüber bei den Festabläufen mürrisch war. Mit anderen Worten: Franzen schafft es, die Komplexität von Innenwelten und Beziehungen nicht nur anzudeuten, sondern tatsächlich zu erzählen, und allein das macht „Crossroads“ lesenswert.

Querverweise und Vorahnungen

Mit „Crossroads“ sind aber nicht nur die inneren Entscheidungsmöglichkeiten der Hildebrandts gemeint, es ist auch der Name einer populären Jugendgruppe, um die sich die Handlung anordnet. Für Russ, der die Gruppe gegründet hat, bedeutet sie letztlich eine Niederlage. Mit seinem Versuch, frömmelndes Beten und sozialen Aktivismus zu verbinden, den Jugendlichen den Geist der Bürgerrechtsbewegung weiterzugeben und ihnen zu zeigen, wie nah man sich Jesus fühlen kann, wenn man einmal im Jahr nach Arizona fährt, um im First-Nation-Reservat anzupacken, hat er sich gegenüber den radikaleren, hippen Jugendlichen lächerlich gemacht.

Crossroad
Rowohlt

Nun leitet sein Rivale Rick Ambrose die populäre Gruppe, und nicht nur der missratene Sohn Perry, sondern auch das Lieblingskind Becky frequentieren die Crossroads. Doch mehr als nur ein handlungsbewegendes Element, zeigt die Gruppe, was in den weiteren Teilen der Trilogie noch zu erwarten sein könnte: Hier wird nämlich nichts anderes abgehandelt als eine Geschichte der Gegenwart. Tatsächlich bearbeitet Franzen darin die komplexe Gemengelage aus politischem Dissens, strukturellem Rassismus und der aktuellen innerlinken Diskussion, wo denn die Linie zwischen „gut“ und „gut gemeint“ genau verläuft.

Eine Geschichte der Gegenwart

Darauf deuten auch feine Andeutungen hin. In den Kapiteln um Russ, der seine Nächstenliebe gerne dadurch zu Schau stellt, dass er mit Gemeindemitgliedern in Chicagos South Side fährt, um armen Schwarzen zu helfen, und dabei verstanden hat, dass sich weiße und schwarze Erfahrungen grundlegend unterscheiden, bekommt dieser ein wichtiges politisches Signalwort mitgegeben.

„Privileg“, in manchen politischen Diskussionen längst zum Kampfbegriff geworden, taucht da in den 1970er Jahren immer wieder in relativer Unschuld auf. Man darf davon ausgehen, dass die Geschichte von „Crossroads“ zusammen mit den weiteren Bänden der Trilogie „A Key to All Mythologies“ eine jetzt noch nicht klar festzumachende Bedeutung bekommen wird. Insofern könnte sich die Idee, eine Gegenwartsanalyse ausgerechnet anhand einer – eben privilegierten – weißen Mittelschichtsfamilie zu erzählen, die auch noch Gott ständig im Munde führt, als nicht nur gewagt, sondern auch scharfsichtig erweisen.

Verbeugung vor dem 19. Jahrhundert

Erfrischend ist, dass Franzen bei allem Deutungsanspruch und seinem Ruf als „Great American Novelist“ nicht nur mit Ernst und riesigem Anspruch an dieses Opus Magnum herangeht, sondern auch Selbstironie mitbringt. Der Titel der Trilogie, „A Key to All Mythologies“ ist nämlich eine Verbeugung vor „Middlemarch“ (1872), jenem Roman, in dem Mary Ann Evans alias George Eliot anhand einer fiktiven englischen Kleinstadt ein Epochenbild der englischen Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung malte.

Darin arbeitet der Pastor Edward Casaubon, ein entfernter Vorgänger von Russ Hildebrandt, sein Leben lang an einer großen theologischen Schrift, die er eben, sehr vermessen, „The Key to all Mythologies“ nennt. Das Buch bleibt Fragment, die Mythen bleiben Mythen. Selbst wenn das Großprojekt Franzens am Ende nicht gelingen sollte – mit „Crossroads“ ist der Auftakt geglückt.

Text: Florian Baranyi, ORF.at

Buchinfo:

Jonathan Franzen: Crossroads
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell
832 Seiten
Rowohlt

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