Bestenlisten-Plakat August
ORF

Die besten 10 im August 2021

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.

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Mein Lieblingstier
S. Fischer

1. Ferdinand Schmalz (27 Punkte) NEU


Mein Lieblingstier heißt Winter, S. Fischer

„Mein Lieblingstier heißt Winter“ – das war auch der Titel des Manuskripts, mit dem Ferdinand Schmalz 2017 den Bachmannpreis gewonnen hat. Daraus ist nun der erste Roman des Dramatikers geworden, der mit Stücken wie „dosenfleisch“ und „jedermann (stirbt)“ zu einem der gefragtesten Theaterautoren Österreichs geworden ist. Sein Romandebut ist eine Art Kriminalroman: die Hauptperson mit dem klingenden Namen Franz Schlicht begibt sich darin auf die Suche nach einer verschwundenen Leiche. In unterschiedlichen Kapiteln umkreist Schmalz einmal mehr das Thema Tod, wie in seinen Stücken sind es auch hier die skurrilen Geschichten und Figuren, die faszinieren. Mit viel Gefühl und jeder Menge Humor erzählt Schmalz von Menschen, die der Welt abhandengekommen sind.

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Suhrkamp

2. ex aequo: Dževad Karahasan (19 Punkte)

„Tagebuch der Übersiedlung“, Suhrkamp
Übersetzung: Katharina Wolf-Grießhaber

Er ist einer der großen europäischen Gelehrten der Gegenwart: der Schriftsteller Dzevad Karahasan. Während des Bosnien-Krieges ist der heute 68jährige Autor nach Österreich geflohen, pendelt heute zwischen Graz und Sarajevo. Einer seiner Schlüsseltexte liegt nun in neuer Übersetzung vor: „Tagebuch der Übersiedlung“ heißt das Buch, das erstmals Anfang der 1990er Jahre, während des Krieges, erschienen ist. „Ich komme aus einem zerstörten Land“, schreibt Dzevad Karahasan darin. Dieses Buch: es ist der Versuch, zu verstehen, was der Krieg war und was er angerichtet hat. Am Beispiels Sarajevos etwa, das bis vor dem Krieg Sinnbild für gelebte multikulturelle und multireligiöse Offenheit war. Dass zur Erträglichkeit des Lebens während des Krieges auch die Kultur beigetragen hat: das macht Karahasan in das „Tagebuch der Übersiedlung“ deutlich. Ein Buch, das man jedenfalls gelesen haben sollte, wenn man die jüngste, schmerzvolle Geschichte Europas besser verstehen möchte.

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Der versperrte Weg
Wallstein

2. ex aequo: Georges-Arthur Goldschmidt (19 Punkte) NEU

Der versperrte Weg, Wallstein 

Am 18. Mai 1938 schickte die Familie Goldschmidt ihre beiden Söhne, Erich (14) und Jürgen-Arthur (10) von Hamburg mit dem Zug zu Verwandten nach Italien. Es ist der Beginn eines Exils, das der 93-Jährige Georges-Arthur Goldschmidt seit mehreren Jahrzehnten im Schreiben zu fassen versucht. Sein jüngstes Buch „Der versperrte Weg“ trägt den Untertitel „Roman des Bruders“ – zum ersten Mal erzählt Goldschmidt ausführlich vom seinem älteren Bruder Erich, der ihn auf der Flucht vor den Nazis begleitete, von Italien weiter nach Frankreich, wo sie sich das Brüderpaar in einem katholischen Erziehungsheim verstecken konnte. Mit 18 schloss sich Erich der Résistance an, überlebte den Krieg und wurde später Offizier der Fremdenlegion. „Der versperrte Weg“ ist ein Roman darüber, wie das Schicksal zwei Menschen zusammenschweißt und das Leben sie dennoch voneinander entfernt.

Hanser Berlin

4. Mathias Enard (15 Punkte)

„Das Jahresbankett der Totengräber“, Hanser Berlin
Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller

Für seinen Roman „Kompass“ wurde Mathias Enard mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Nun ist ein neuer Roman Enards auf Deutsch erschienen: „Das Jahresbankett der Totengräber“. Erzählt wird darin von dem jungen Ethnologen David, der aufs Land zieht, um Feldforschung für eine Doktorarbeit über das Moderne Landleben zu betreiben. Es verschlägt den jungen Mann nach La-Pierre-Saint-Christophe, einen verschlafener Ort im französischen Westen – eine Region, in der Mathias Enard aufgewachsen ist. Schnell wird Davids teilnehmende Beobachtung mehr Teilnahme als Beobachtung und er mischt sich in das Dorfleben.

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Sommer
Luchterhand

5. ex aequo: Ali Smith (14 Punkte) NEU

Sommer, Luchterhand
Übersetzung: Silvia Morawetz

Mit „Sommer“ ist nun der letzte Teil von Ali Smiths hochgelobter Jahreszeiten-Tetralogie auf Deutsch erschienen. Vier Bücher in vier Jahren – das Projekt der schottischen Schriftstellerin ist nicht weniger als der Versuch, der Gegenwart im Schreiben habhaft zu werden. Genauer gesagt: die politisch prekäre Entwicklung Großbritanniens seit dem Brexit-Referendum literarisch greifbar zu machen. Dieses Kunststück gelingt Smith durch die enge Verstrickung gesellschaftlicher Diskurse mit dem Figurenarsenal der Romane. „Sommer“ setzt im Jahr 2020 an, nur weniger Tage nach dem offiziellen Brexit-Datum. Durch die problematische Beziehung zwischen einem ungleichen Geschwisterpaar macht Ali Smith deutlich, wie ignorant sich die britische Regierung gegenüber den großen Krisen der Gegenwart verhält – sei es nun Corona, die Klimakatastrophe oder die schleichende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung.

Wieser Verlag

5. ex aequo: Egon Christian Leitner (14 Punkte)

„Ich zähle jetzt bis drei“, Wieser

Egon Christian Leitner ist in der österreichischen Literaturlandschaft ein ungewöhnlicher Einzelgänger. Durch seinen erfolgreichen Aufritt beim Bachmannpreis 2020 (er wurde mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet) wurde er einem breiteren Publikum bekannt. Seit Jahren schreibt er an seinem Projekt eines „Sozialstaatsromans“, den nun das 900-seitige „Ich zähle jetzt bis 3“ abschließt. In einer experimentellen Zusammenstellung von Interventionen und Tagebuchauszügen breitet da ein umfassend gebildeter Erzähler Thesen von Erasmus bis Hannah Arendt und Geschichten aus allen Kontinenten aus. Diese versammeln sich zur Fundamentalkritik am Neoliberalismus und seinen Auswirkungen. Ein dermaßen politisch engagiertes Buch gelingt künstlerisch nur im absoluten Glücksfall, Leitners Buch ist ein solcher.


Entweder
Suhrkamp

7. Oswald Egger (12 Punkte) NEU

Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt, Suhrkamp

Wenn das Wort „Gesamtkunstwerk“ auf eine der Neuerscheinungen dieser Saison zutrifft, dann zweifellos auf Oswald Eggers „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“. Denn das Buch des in Südtirol aufgewachsenen Sprachkünstlers ist allein schon optisch beeindruckend: Dem Fließtext sind zahlreiche Aquarelle und Zeichnungen der titelgebenden Flusslandschaft beigefügt, die von Egger selbst stammen. So ausufernd der Gedankenstrom scheint, auf dem der Autor den Geschichten österreichischer Auswanderer nach Amerika folgt – formal ist dieser Strom strikt gebettet. In insgesamt 386 und stets gleich langen Absätzen breitet Oswald Egger ein sprachliches Panorama der Mississippi-Landschaft aus, das – so ist man nach der Lektüre fast verleitet zu sagen – eine Reise dorthin fast ersetzen könnte.

8. James Baldwin (11 Punkte)

„Ein anderes Land“, dtv  
Übersetzung: Miriam Mandelkow

James Baldwin zählt nicht nur zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, er war auch einer der zentralen Intellektuellen der Bürgerrechtsbewegung rund um Martin Luther King. Die deutsche Neuübersetzung seines Romans „Another Country“ kommt angesichts des Erstarkens der „Black Lives Matter“-Bewegung genau zur richtigen Zeit: der 1962 erschienene Text kreist um den Selbstmord des schwarzen Jazzmusikers Rufus, der sich aus Verzweiflung über seine Lebensrealität im segregierten Amerika in den Hudson River stürzt. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Rufus‘ Schwester Ida, die nach Erklärungen für den Selbstmord ihres Bruders sucht und sich dabei immer stärker mit der tieftraurigen Wahrheit über das Leben der schwarzen Bevölkerung konfrontiert sieht.

Otto Müller Verlag

9. Julian Schutting (9 Punkte) NEU

Winterreise, Otto Müller


Es ist der wohl berühmteste Liederzyklus der Romantik: Die „Winterreise“ von Wilhelm Müller. 1827 von Franz Schubert vertont, werden die Lieder seit bald zwei Jahrhunderten immer wieder neu interpretiert und gedeutet. Todessehnsucht, Vereinzelung, Liebesschmerz – die Grundthemen des Zyklus bleiben zeitlos. Der Lyriker Julian Schutting hat sich für seinen neuen Gedichtband an eine Nachdichtung gewagt, die dem Original genauso autonom wie würdigend gegenübertritt. In gewisser Weiser radikalisiert Schutting, was bei Müller angelegt ist: erbarmungslos lässt der Autor das lyrische Ich umherirren, dem tiefen Schmerz wird mit zuweilen ironischem Ton begegnet. Abgeklärt wird hier auf das Leben zurückgeblickt.

Limmat

10. Adelheid Duvanel (8 Punkte)

„Fern von hier“, Limmat          

Adelheid Duvanel: man würde sie in einem Atemzug mit Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger nennen, wäre das Werk dieser großen Dichterin des 20. Jahrhunderts nicht dem Vergessen anheimgefallen. 1936 in der Schweiz geboren verdingte sich Duvanel ihren Lebensunterhalt als Textilzeichnerin, bis sie in den 60er Jahren unter dem Pseudonym „Judith Januar“ beginnt Erzählungen zu veröffentlichen. Ihr Schreiben ist Anwaltschaft der Schwachen, der Aussätzigen und Suchtkranken, ihre Poetik eine Art schwarze Anthropologie, die den versehrten Existenzen ihrer Literatur ihre Würde zurückzugeben vermag. 1996 stirbt Duvanel in einem kleinen Wald im Umkreis von Basel, an Unterkühlung und Medikamentenmissbrauch. Unter dem Titel „Fern von hier“ ist nun erstmals das gesamte Erzählwerk der Schriftstellerin zugänglich gemacht: Adelheid Duvanel zeigt sich darin als präzise Prosaistin, deren Erzählkraft sich mit der Kafkas messen kann. Eine längst überfällige Wiederentdeckung.

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