Universum

Ein Oktopus in Untermiete

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Ein Oktopus im Wohnzimmer?

Für den Meeresbiologen David Scheel war das ein lang gehegter Wunsch. Seit mehr als 20 Jahren studiert er diese faszinierenden Tiere in allen Ozeanen der Welt und hat dabei außergewöhnliche Verhaltensweisen beobachtet. Oktopoden sind die einzige bekannte Tierart, die eine völlig eigenständige biologische Entwicklung hinter sich haben – alle anderen bekannten intelligenten Lebewesen teilen sich einen gemeinsamen Evolutionspfad. David Scheel sucht deshalb die unmittelbare Nähe zu den smarten Kopffüßern und holt sich einen Kraken als Untermieter. Aus dem „Alien“ im Aquarium wird in kürzester Zeit ein spaßvoller, fordernder Mitbewohner, der sogar den Fernsehabend mit der Familie teilt. Die preisgekrönte BBC-Dokumentation „Ein Oktopus in Untermiete“ von Anna Fitch (ORF-Bearbeitung: Doris Hochmayr) verbindet Scheels Ich-Erzählung und außergewöhnliche Krakengeschichten aus der ganzen Welt zu einem spannenden Einblick in die außergewöhnliche Intelligenz und das Verhalten der Tiere.

 

ORF/BBC/Ernie Kovacs/Passion Planet

David Scheel ist Professor für Meeresbiologie an der Alaska Pacific University in Anchorage. Er lehrt seine Studentinnen und Studenten Fakten über Oktopoden – zum Großteil selbst gesammeltes Wissen aus zwei Jahrzehnten. Erfolgreich ist er auch in den eigenen vier Wänden. Er hat den häuslichen Kampf, welches Haustier angeschafft werden soll, gegen seine Tochter Laurel gewonnen: kein Hund. Ein Oktopus kommt ins Wohnzimmer. Zum einen soll der achtbeinige Gast seine Studien vervollständigen helfen, zum anderen treibt ihn das unbändige Interesse für eine Spezies, die immer noch viele Rätsel aufgibt. Die erste Zeit ist das monströse Aquarium gähnend leer – der angeschaffte Große Blaue Kraken, eine tagaktive Art der Kopffüßer, verschanzt sich hinter den Steinen. Wie lässt sich das Vertrauen eines solchen Tieres gewinnen? Mit Krabben – ein gefundenes Fressen für einen Oktopus. Bald ist es nicht nur Hunger, der „Heidi“ – so der gewählte Name – aus ihrem Versteck holt, sondern auch die Neugier. Der Kraken scheint zu beobachten, begutachten, abzuschätzen. Ein beiderseitiges Messen beginnt.

 

Die Faszination für diese Tierart liegt nicht nur für Biologinnen und Biologen auf der Hand: Seit einer halben Milliarde Jahren hat der Oktopus eine völlig eigenständige evolutionäre Entwicklung hinter sich. Seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind somit einzigartig – deshalb ist in populärwissenschaftlichen Berichten häufig zu lesen, dass sich die Begegnung mit einem Oktopus wie eine Begegnung mit außerirdischem Leben anfühlt. Es gibt kein anderes bekanntes rezentes Tier auf Erden, das sich in ähnlich komplexer Weise völlig losgelöst von allen anderen Lebewesen entfaltet hat. Körperliche Besonderheiten gibt es daher viele. Oktopoden besitzen drei Herzen, ein systemisches und zwei Kiemenherzen, die das Blut zu den Kiemen transportieren, um den hohen Stoffwechselverbrauch dieser Tierart zu kompensieren. Ihr Blut ist blau, da nicht eisenhältiges Hämoglobin, sondern Hämocyanine, die Kupfer-Ionen enthalten, den Sauerstoff binden. Und dann wären da noch neun Gehirne – auch jeder der acht Füße hat eines zur Verfügung.

 

ORF/BBC/Quinton Smith/Passion Planet

Diese Tiere sind Meister der Tarnung. Sie können Farbe und Oberfläche der Haut in wenigen Sekunden an die Umgebung anpassen. Das lässt die Wissenschaft darauf schließen, dass sie ein hohes Bewusstsein gegenüber der Außenwelt besitzen, sie beobachten genau. David Scheel hat nun im Selbstversuch in den eigenen vier Wänden die Gelegenheit, all die vielen Geschichten über die spitzfindigen Oktopoden zu prüfen. Er setzt sich Masken auf, um zu sehen, ob der Oktopus anders auf ihn reagiert. Und siehe da – er tut es mit äußerster Präzision und flüchtet in Windeseile vor jener Maske, die David Scheel trägt, wenn er den Oktopus fängt, um ihn zu wiegen. Auch das zweite Experiment bestätigt alle Erzählungen über Oktopoden, die aus Aquarien Reißaus nehmen oder Futterquellen plündern, die nicht für sie bestimmt sind. Zwei Eigenschaften machen es möglich: Oktopoden besitzen kein Skelett und sind imstande, sich durch engste Öffnungen zu zwängen, indem sie ihr Körpergewebe dehnen oder zusammenziehen können. Überdies haben sie die Fähigkeit, über die Haut Sauerstoff aufzunehmen, was ihnen auch längere Spaziergänge an Land ermöglicht.

 

Tochter Laurel geht mehr auf Tuchfühlung und lässt täglich acht Krakenbeine auf ihren Armen wandern. Der regelmäßige direkte Hautkontakt setzt rasch eine besondere Bindung zwischen ihr und dem Kopffüßer in Gang. Der Kraken schwimmt sofort auf sie zu, sobald sie sich dem Aquarium nähert. Er ist zu Späßen aufgelegt und spritzt Wasser aus seinem Tank zielgenau auf Laurel. Spielen ist für die Wissenschaft ein untrügliches Zeichen von hoher Intelligenz. Und Heidi spielt unentwegt, ob mit Dosen, Einmachgläsern oder Legohäusern. Versuch und Irrtum sind auch für Heidi die Basis allen Lernens. Die starke soziale Ausrichtung allerdings verwundert David Scheel. Denn laut wissenschaftlicher Definition benötigt soziale Interaktion viel Zeit und ein Leben in der Gruppe. Kraken jedoch sind Einzelgänger und leben allerhöchstens zwei Jahre. Die Tatsache, dass ein Kraken seinen Lebenszyklus im Durchschnitt innerhalb eines einzigen Jahres absolviert, passt nicht in unsere Entwicklungsbeschreibung von Intelligenz. Das kurze Leben scheint den Oktopoden allerdings einen Vorteil zu verschaffen: Mehr Generationen ermöglichen eine raschere Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen, wie sie gerade jetzt durch die Klimaerwärmung im Gange sind. Der Anstieg der Meerestemperaturen beschleunigt zudem die Wachstumsphase der Kopffüßer. Sie zählen daher noch zu den sogenannten „Gewinnern“ des Klimawandels.

 

ORF/BBC/Quinton Smith/Passion Planet

Für David Scheel und Laurel ist der bevorstehende Abschied nach so kurzer Zeit jedoch schwierig. Eine Parallel-Entwicklung zwischen Kopffüßern und anderen intelligenten Lebewesen wie etwa dem Menschen ist noch nicht erforscht: die emotionale Komponente. Selbst wenn das schillernde Farbspiel der Haut des Oktopoden darauf schließen lässt, dass er zu unterschiedlichsten Emotionen fähig sein könnte – der Mensch hat es noch nicht geschafft, sie lesen zu lernen.

Regie

Anna Fitch

Bearbeitung

Doris Hochmayr