Nur ein kleiner Unterschied? - Die Entdeckung der Gendermedizin

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Nur ein kleiner Unterschied? - Die Entdeckung der Gendermedizin

Was es bedeutet, als Frau wie eine Art „kleinerer, leichterer Mann“ behandelt zu werden, musste Steffi Platt aus Berlin am eigenen Leib erfahren. Sie war Leistungssportlerin, doch schon kurz nach dem Ende ihrer Profi-Karriere erlitt sie einen sogenannten Ermüdungsbruch im Kreuzbein. Durch jahrelanges Training ohne Berücksichtigung der speziellen weiblichen Physis, hatte ihre Knochenstabilität schwer gelitten. Ein Krankheitsbild, das viele weibliche Sportlerinnen betrifft und über das wenig gesprochen wird. Zyklusunregelmäßigkeiten oder das komplette Ausbleiben der Menstruation sind Warnsignale dafür. Die Sportwelt orientiert sich bisher weitgehend am Maßstab des männlichen Körpers, das hormonelle Auf und Ab des weiblichen Zyklus gilt eher als Störfaktor.

Univ. Prof. Dr. Margarethe Hochleitner
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Univ. Prof. Dr. Margarethe Hochleitner, Institut für Gendermedizin und Diversität, Medizinische Universität Innsbruck

Ähnliche Erfahrungen wie die Sportlerin Steffi Platt machen Frauen auch als Patientinnen: Die Medizin hat sich ebenfalls jahrzehntelang vor allem am „Modell Mann“ orientiert. Das fiel lange niemandem auf, bis Forscherinnen wie die Innsbrucker Kardiologin Margarethe Hochleitner sich fragten, warum auf der kardiologischen Intensivstation nur männliche Patienten behandelt wurden - obwohl die Statistik sogar mehr Todesopfer unter den Herzpatientinnen verzeichnete.

Dass Frauen oft andere Symptome zeigen als männliche Patienten, ist inzwischen in den Notfallstationen angekommen. Mittlerweile haben Gendermedizinerinnen und Gendermediziner zahlreiche Hinweise zusammengetragen, die auf Unterschiede bei den verschiedensten Krankheitsbildern hindeuten. Sie erforschen beispielsweise Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Infektionskrankheiten. Es gibt kaum eine Disziplin, bei der der Geschlechtsunterschied keine Rolle spielt.

Gendermedizin: Auf dem Weg in die personalisierte Medizin

Gendermedizinerinnen untersuchen, warum Diabetes-Patientinnen ein höheres Risiko haben, einen Herzinfarkt zu erleiden, als männliche Diabetiker. Weshalb Frauen weniger Gewicht durch Sportprogramme verlieren als Männer. Wie könnte man die Therapien verändern, um Patientinnen besser behandeln zu können? Wie beeinflussen die weiblichen Geschlechtshormone den Fettstoffwechsel, die Insulinausschüttung, die Dosierung von Blutdruckmedikamenten oder die Effektivität von Krebsmedikamenten?

Zu allen diesen Fragen gibt es überraschende Antworten und Hinweise, ein enormes Potenzial für die Personalisierung von medizinischen Therapien. In der Praxis sind diese Erkenntnisse noch lange nicht angekommen, denn geschlechtsspezifische Forschung ist teuer. Die Grundlagenforschung begnügt sich noch heute oft mit der Forschung an männlichen Mäusen und in der klinischen Praxis fehlen große, teure Studien, die die Hinweise mit wissenschaftlicher Evidenz unterfüttern.

Univ. Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer
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Univ. Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer Klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Gendermedizin, MedUni Wien

Doch in der Medizin wie im Sport steigt die Aufmerksamkeit für das Thema: Patientinnen und Sportlerinnen geben sich nicht länger damit zufrieden, bei Behandlung oder Training nur die zweite Geige zu spielen. Da auch Männer von der neuen, geschlechts-sensiblen Behandlung profitieren könnten, ist die Gendermedizin längst keine feministischen Randbereich und auf dem Weg in die personalisierte Medizin, von der alle Individuen, männlich, weiblich, und divers profitieren werden. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.


Ein Film von Isabel Hertweck-Stücken