kreuz und quer
Ein Fenster zur Vernunft - Die Katholische Aufklärung
Im 18. Jahrhundert befand sich die katholische Kirche jedoch in einer dynamischen Aufbruchstimmung – nahm die aktuellen Geistesströmungen auf und regte Diskurse an, die noch heute fortschrittlich erscheinen: So wurde die Abschaffung des Zölibats ernsthaft diskutiert, eine umfassende Reform der Liturgie gefordert und ein von den Menschenrechten getragenes pastorales Wirken vertreten.
Die neue „kreuz und quer“-Dokumentation „Ein Fenster zur Vernunft“ von Martin Betz ist ein filmischer Ausblick auf dieses weitgehend unbekannte Kapitel der Kirchengeschichte.
Der Vatikan hat die geheimen Archive aus der Zeit Papst Pius XII. für Historikerinnen und Historiker, Wissenschafterinnen und Wissenschafter geöffnet. Damit ist es auch möglich, auf eine Persönlichkeit zu blicken, die während der dunkelsten Periode des 20. Jahrhunderts Oberhaupt der Katholischen Kirche war.
Mit zum Teil unveröffentlichtem Archivmaterial sowie Neuaufnahmen aus dem Vatikan und Deutschland befasst sich um 23.20 Uhr die Dokumentation „Die Geheimnisse der Akten – Der Vatikan öffnet seine Archive“ mit Eugenio Pacelli, so sein bürgerlicher Name, einem der kontroversesten Protagonisten der jüngeren Kirchengeschichte. Der Film von Lucio Mollica und Luigi Maria Perotti entstand als Koproduktion von BR, MDR und ORF.
„Ein Fenster zur Vernunft – Die katholische Aufklärung“
Ein Film von Martin Betz
Erst vor wenigen Jahren hat der deutsche Kirchenhistoriker Ulrich Lehner die katholische Aufklärung erstmals als globales Phänomen wissenschaftlich untersucht. Für diesen „kreuz und quer“-Film widmet sich Lehner der dynamischen Entwicklung im Heiligen Römischen Reich, das für ihn wie ein Laboratorium für den weltoffenen Katholizismus im 18. Jahrhundert wirkt. Die Metafilm-Produktion folgt den Spuren katholischer Reformer in Wien und den Klöstern des Donau- und Alpenraums, wo der rigide Geist der Gegenreformation allmählich vom aufgeklärten Freiheitsbegriff ausgehöhlt wurde. Das öffnete ein historisches Fenster für religiöse Toleranz und umfassende Bildungsreformen.
Weltveränderung durch Wissensausbreitung: Diese Maxime der Aufklärung zeigte sich nicht nur in prächtigen Bibliotheken wie jener von Stift Admont, sondern auch in den Bildungsprogrammen von Ursulinen und Englischen Fräulein, die jungen Frauen höhere Bildung, die ihnen bis dahin verwehrt blieb, zugänglich machten. Katholische Aufklärung versöhnt auch Glaube und Naturwissenschaften, indem diese nicht mehr um die Deutungshoheit der Welt ringen, sondern einander ergänzen. Kleriker im 18. Jahrhundert sind nicht nur Priester, sondern oft auch Hydrauliker, Ingenieure, Chemiker, Botaniker oder Astronomen.
Etwa der Jesuit Maximilian Hell, der 1769 im Zuge des Venustransits die genaueste Entfernung zwischen Erde und Sonne berechnet, „das Zentimetermaß des Universums“, wie es die Historikerin Nora Pärr nennt. „Die Jesuiten haben die Enträtselung der Himmelsmechanik und der kosmischen Massen als den schönsten Gottesbeweis gesehen“, erklärt der Historiker Franz Fillafer.
Der Versuch, den Glauben empirisch zu begründen, setzt sich auch in den katholisch-theologischen Fakultäten fort: „Die Bibel wurde mit einem extrem ausgefeilten Feinbesteck fast salamitaktisch zerkleinert und wissenschaftlich untersucht“, so Fillafer. Im Bereich der Moraltheologie hält der Freiheitsbegriff von Immanuel Kant Einzug in die Lehrbücher. Und der Innsbrucker Kleriker Karl Joseph Michaeler fordert ganz offen, den Zölibat abzuschaffen, und rät katholischen Priestern, bis dahin Geheimehen einzugehen.
Mit ihren Forderungen wandten sich die katholischen Reformer hierzulande eher an den Kaiserhof als den Heiligen Stuhl in Rom. Denn längst waren Staat und Kirche so miteinander verschränkt, dass pastorale und gemeinwirtschaftliche Aufgaben der Pfarren nicht mehr voneinander zu trennen waren:
Ab den 1780er Jahren mussten Priester quasi als Staatsbeamte kaiserliche Weisungen vollziehen, etwa die Impfprogramme gegen die Pocken umsetzen oder „notfalls auch einer Frau bei der Entbindung beistehen“, wie die Medizinhistorikerin Sonia Horn anmerkt.
Für Franz Fillafer wirkt die von katholischen Reformern unterstützte josephinische Säkularisierung wie das „Stockholm-Syndrom“: „Die Kirche ist eigentlich eine Geisel des Staates, die von dem Geiselnehmer aber nicht mehr loskommt und ihn zu lieben und verherrlichen beginnt.“
Die jahrzehntelang gewachsene katholische Reformbewegung wird ausgerechnet durch das zentrale Ereignis der Aufklärung ausgehebelt. „Die Französische Revolution von 1789 mit ihren massenhaften Exekutionen vergiftet eigentlich das Klima, in dem ein Diskurs über katholische Aufklärung möglich ist“, erklärt Ulrich Lehner.
Die Revolution bildet den Auftakt für den Antimodernismus der katholischen Kirche, der 1873 im Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit gipfelt. „Das hat sich wie ein Mehltau auf das geistige Leben der Kirche im 20. Jahrhundert gelegt“, so Fillafer.
Erst im II. Vaticanum der frühen 1960er Jahre werden einige Ideen der katholischen Aufklärer wieder aufgegriffen und in Reformen in Bezug auf religiöse Toleranz und Liturgie umgesetzt. Doch so manch 250 Jahre alte Forderung der katholischen Aufklärung steht bis heute zur Diskussion …
Gestaltung
Martin Betz
Redaktion
Helmut Tatzreiter
Irene Klissenbauer