Am Schauplatz

Niemand soll es wissen

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Wie kann es passieren, dass man in Österreich neun Jahre zur Schule geht, Deutsch als Erstsprache hat und nicht lesen und schreiben lernt?

Fast eine Million Menschen in Österreich hat Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Was die wenigsten wissen: Rund die Hälfte davon hat Deutsch als Erstsprache. Darüber geredet wird kaum. Zu groß ist die Scham der Betroffenen. Viele verstecken ihre Schwäche ein Leben lang, in ständiger Angst, dass es jemand bemerken könnte.

Sandra (rechts) und ihre Mutter Irene (links) im Garten beim Disskutieren
ORF
Als Sandra (rechts) mit 15 Jahren mit der Schule fertig wurde, konnte sie gerade einmal ihren Vornamen schreiben. Ihre Mutter Irene (links) war viele Jahre ihre einzige Vertraute und Komplizin im Verheimlichen ihrer Schwäche.

Rund eine Viertel Million Menschen in Österreich kann bis auf einzelne Worte gar nicht lesen. So ging es auch der heute 34-jährigen Sandra aus Salzburg. Als sie mit 15 Jahren die Schule abgeschlossen hatte, konnte sie nur ihren Vornamen schreiben. „Wenn ich einen Text angeschaut habe, habe ich nur Punkte, Kugeln und Striche gesehen, die keinen Sinn ergeben haben“. Sandra hat das viele Jahre verheimlicht, sogar vor ihrer Mutter.  „Eine meiner beliebtesten Ausreden war, dass ich meine Brille vergessen habe“, erzählt sie. Wenn man nicht lesen kann, ist jede soziale Situation Stress. „Im Nachhinein muss ich sagen, zu vertuschen nicht lesen zu können, war anstrengender, als lesen zu lernen.“ Seit sie selbst Mutter geworden ist, besucht sie jetzt einen Basisbildungskurs für Erwachsene.

Sophie in ihrem Auto bei Sonnenschein.
ORF
Sophie (31) wohnt auf dem Land und fährt alle Strecken mit dem Mopedauto, weil sie die Führerscheinprüfung nicht schafft. „Wenn ich einen schwierigen Text lese, kann ich nachher nicht nacherzählen, worum es gegangen ist“, sagt Sophie.

Sophie ist sogenannte funktionale Analphabetin. Sie kann grundsätzlich lesen und schreiben, sobald aber ein Text lang ist, hat sie Probleme, den Sinn zu erfassen. So wie Sophie geht es rund 750. 000 Menschen in Österreich. „Ich kann einfach nicht nacherzählen, was ich gelesen haben“, sagt Sophie. Wegen ihrer Leseschwäche hat sie Probleme, den Führerschein zu machen und auch bei der Jobsuche. „Wenn man nicht gut lesen, schreiben und rechnen kann, wird man ausgelacht. Ich habe schon viele Freundschaften deshalb verloren“ erzählt die 31-Jährige.

Kurt im Supermarkt vor dem Milchregal
ORF
Kurt versucht im Alltag dem Lesen auszuweichen. Beim Einkaufen orientiert er sich an den Bildern auf den Verpackungen. „Schwierig wird es für mich dann, wenn sie die Verpackung ändern, dann finde ich nichts mehr “, sagt Kurt

Kurt versucht, im Alltag dem Lesen auszuweichen. Beim Einkaufen orientiert er sich an den Bildern auf den Verpackungen. „Schwierig wird es für mich dann, wenn sie die Verpackung ändern, dann finde ich nichts mehr “, sagt Kurt. Kurts Gedächtnis ist exzellent. Er ist gewohnt, sich quasi alles zu merken. Nicht nur Käseverpackungen im Supermarkt, sondern auch Termine, Busstationen und Straßennamen. Kurt hatte als Kind nach einem Auto-Unfall lange in der Schule gefehlt. Danach hat er den Anschluss verpasst und nie richtig lesen gelernt. „Für Menschen mit Leseschwäche ist der Alltag anstrengend“, sagt Kurt, und weiter: „Man kann sich nicht schnell etwas aufschreiben oder spontan reagieren.“

Doch wie kann es eigentlich passieren, dass man in Österreich neun Jahre zur Schule geht, Deutsch als Erstsprache hat und nicht lesen und schreiben lernt? Am Schauplatz-Reporterin Julia Kovarik begibt sich auf Ursachen-Suche.