
Die Beste im September 2025: Raphaela Edelbauer
Mit Terror gegen Fake News
Was tun gegen Fake News und die grassierende Irrationalität? In Raphaela Edelbauers neuem Roman „Die echtere Wirklichkeit“ kämpft eine Terrorgruppe für die absolute Wahrheit. Edelbauer, seit ihrem Debüt 2019 ein Shootingstar der österreichischen Literatur, kombiniert raffiniert philosophische Theorie mit einer sanften Aktivismussatire und einem Spannungsplot – angetrieben von einer Rollstuhlfahrerin, deren Motivation aber ziemlich fragwürdig ist.

Der Effekt auf dem Buchcover ist wahrscheinlich unbeabsichtigt, aber denkbar passend: Beim Lesen von Edelbauers neuem Roman nützt sich der Druck mit der Zeit ab, bis der Titel letztlich ganz verschwindet. Auch die Namensgebung „Die echtere Wirklichkeit“ hat es mit dem Komparativ in sich – doppelte Anzeige also, dass es ziemlich kompliziert ist mit der einen, unumstößlichen Wahrheit.
Edelbauer ist bereits bekannt für großangelegte Romanprojekte: In ihrem letzten Buch „Die Inkommensurablen“ (2023) ging es um ein Gesellschaftspanorama vor dem Ersten Weltkrieg. In den Sci-Fi-Thriller „Dave“, ausgezeichnet 2021 mit dem österreichischen Buchpreis, ließ sie viel Wissen zu KI und Gedächtnisforschung einfließen. Auch der neue, vierte Roman „Die echtere Wirklichkeit“ ist als Großprojekt zwischen Gegenwartsdiagnose und Philosophiediskussion angelegt. Hintergrund ist der gärende Populismus, grassierende Lügen und die Popularisierung „eigener Wahrheitsansprüche“.
Schräges Aktivistenbiotop
Wer hat also Schuld, dass die Lüge salonfähiger, der Umgang mit der Wahrheit elastischer geworden ist? Für Edelbauers philosophische Terrorgruppe Aletheia, um die sich der Roman dreht, ist die Sache klar: Nicht Medien oder die KI sind die Wurzel des Problems, sondern viel grundlegender die Philosophie des Konstruktivismus und Subjektivismus.

Edelbauer, die Philosophie studiert hat, jongliert hier beeindruckend mit der Philosophiegeschichte, Grundlagen und Richtungsstreitigkeiten. Dass der Roman aber nicht zur trockenen Theorie verkommt, hat mit der Erzählhaltung und dem Personal zu tun: Mit dem schrägen und absurden Biotop aus vier ganz unterschiedlichen Figuren ist die Geschichte als – zumeist sachte – Aktivismuspersiflage angelegt.
Kopf der Gruppe ist der Theoretiker Bernward, der Wahrheitsmanifeste in 71 Unterpunkten verfasst und zuvorderst die Abhaltung von Lesekreisen einfordert. Zu allem bereit ist die Alt-Achtundsechzigerin namens „Chirurgin“ mit Expertise im Bombenbauen. Die Millardärstochter Brigitte kennzeichnet vor allem der nervöse Tick, sich bei Diskussionen die Haare auszureißen, und Paul, ein verträumter Ex-Student, hat zwar „pathologische Entscheidungsfaulheit“, dafür aber ein beachtliches Vorstrafenregister.
Rollstuhlfahrerin ohne Gewissen
Der Roman ist verschachtelt erzählt, erst sukzessive blättert sich die Geschichte auf. Doch Einstiegsschwierigkeiten gibt es keine, für Spannung sorgt die Mitte zwanzigjährige Ich-Erzählerin Byproxy, die seit ihrer Querschnittlähmung mit 18 im Rollstuhl sitzt und zu der „exzentrischen WG aus Trödlern und Träumern“ stößt. Obacht: Für Mitleid lässt Edelbauer keinen Millimeter Platz. Byproxy entpuppt sich schnell als unzuverlässige Erzählerin. Als Rollstuhlfahrerin hat sie zwar scheinbar die schlechtesten Karten in der liftlosen WG im 3. Stock des Abbruchhauses, gleicht aber mit Intriganz und ihrem absoluten Gespür für Manipulation alle körperlichen Nachteile aus.
Raphaela Edelbauer: „Die echtere Wirklichkeit“
Erscheinungstermin: 16.08.2025, 448 Seiten
Klett-Cotta
Während im Abbruchhaus Schimmel und Dogmen wuchern (keine Zigaretten, keine Milchprodukte, keine Außenkontakte, kein Sprechen über persönliche Befindlichkeiten) und fleißig Literatur gewälzt und „infernalischer Potluck“ aus Ravioli- und Makrelendosen gekocht wird, rüttelt Byproxy die Gruppe in der Frage der aktivistischen Methodik durch: Im chronisch zerstrittenen Kollektiv findet sie einen idealen Nährboden, um eigene Pläne zu verfolgen.
Zuerst wird eine fragwürdige News-Seite, betrieben von einem Gummibärchenhersteller, mittelmäßig erfolgreich gehackt, dann wird es ernst: Sollen auf handzahme Aktionen Bomben folgen?
Vorgeschichte als geheimes Zentrum
Edelbauer gelingt es witzig und unangestrengt, philosophische Theorie und aktivistische Grundsatzfragen zu diskutieren. Gelungen ist auch der spöttische Erzählton der gewieften Erzählerin, wobei der Spott auch manchmal zu viel des Guten ist. Der Vorführeffekt eines Aktivismus als Kasperltheater nützt sich irgendwann ab, das Einhauen auf das populistischen Zeltfest als Anschauungsmaterial für einen losen Wahrheitsbegriff hätte auch mehr Sachtheit vertragen: Dass die sonst so abgeklärte Ich-Erzählerin sich von Fahnen, Schweiß und Bier derart in den Kulturpessimismus treiben lässt, überrascht. Spott und Verwitzelung auf der einen, Theoriediskussion auf der anderen Seite haben zudem den Preis, dass die Figurenentwicklung und Atmosphärisches streckenweise in den Hintergrund geraten.
Edelbauers „Die echtere Wirklichkeit“ ist aber so kunstvoll geschachtelt, klug und gewitzt erzählt, dass man darüber leicht hinwegsehen kann. Im letzten Drittel zieht es spannungsmäßig noch einmal so richtig an, angetrieben von der Frage, welche Agenda die Ich-Erzählerin verfolgt: Ist sie Unruhestifterin oder doch vielleicht Komplizin oder in ganz anderer Mission unterwegs? Mit der stückweise erzählten Vorgeschichte werden zumindest Fährten Richtung psychischer Verfasstheit gelegt. Mehr soll aber nicht verraten werden. Nur so viel: Die Auseinandersetzung mit der Wahrheit bleibt kompliziert.
Text: Paula Pfoser, ORF Topos