
Der Beste im September 2024: Arno Geiger
Ein Kaiser nimmt Reißaus
Arno Geiger gewährt Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, eine letzte Reise ans Meer und in die Tiefe seiner Jahre, ohne Hofstaat, ohne Bürde der Geschichte, voller Abenteuer und erstaunlicher Erkenntnisse. Ist das ein historischer Roman? Ja und nein.
Karl hat zehnmal mehr gelebt als andere und zehnmal weniger. (. . .) Jemand, der so aussieht, ist fast so alt wie die Welt.“ Mit dem Thema seines neuen Romans hat Arno Geiger wohl alle überrascht: Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, in dem die Sonne nie unterging, als Abgedankter, dessen Sonne unverkennbar untergeht, im spanischen San Yuste.
Ist das ein historischer Roman? Ja und nein. „Man schreibt das Jahr 1558, Karl ist nicht so alt wie die Welt, aber so alt wie das Jahrhundert“, abgedankt hat er drei Jahre zuvor, geplagt von der Gicht, zermürbt von vielen Kriegen, vom Kampf gegen die Reformation, vom Konflikt mit seinem Bruder Ferdinand. Seit eineinhalb Jahren lebt er zurückgezogen, in einer Villa neben dem Kloster, deren Anlage auf die klösterliche Praxis ausgerichtet ist – von seinem Bett blickt er auf den Hauptaltar. „Von den sechzig Jahren, die eins vielleicht zu leben hat, hat Karl achtundfünfzig heruntergebogen, kaum zu glauben, was für ein alter Sack er geworden ist.“

Geiger steckt den historischen Stoff in ein betont heutiges Gewand, bringt zwar da und dort ein paar Alltagsflicken an, meidet aber zumeist die abgetragene Wendung, sucht eher das markante Bild und nimmt dafür manches Ungehobelte in Kauf. Es ist ein Ton, der bei aller Nonchalance sub specie aeternitatis ins Zeitlose und Parabelhafte zielt und so eine reizvolle Spannung zwischen der Geschichtserzählung und ihrer gleichnishaften Deutung erzeugt. Denn was immer da erzählt wird, bewegt sich nahe einer realen, unverrückbaren Grenze: Der 21. September 1558 ist der Todestag Karl V., er wird keine sechzig Jahre zu leben haben.
Gicht, Krampfadern, Hämorrhoiden
Gleich die erste Szene beschwört die „milde Septemberluft“ und führt uns anschaulich vor Augen, was den Erzähler an seiner Figur interessiert, aus deren Perspektive er bis fast zum Schluss die Welt betrachtet: Der gewesene Kaiser und König wird mittels Hebevorrichtung in einen Badezuber bugsiert, nackt, aller Ämter und Würden entkleidet, und von vielen Augen bestaunt.

Von den „zwei Körpern des Königs“, die Ernst Kantorowicz dem mittelalterlichen Herrscher attestiert hat, widmet Geiger sich mit besonderer Hingabe dem einen, natürlichen, der andere, politische, quasi unsterbliche erscheint bloß als dynastische Folie für das leidende Individuum. Historisch verbürgt sind nicht nur Karls Gicht, seine Krampfadern und Hämorrhoiden, seine Fieberschübe (postum als Malaria diagnostiziert), sondern auch sein Hang zur Völlerei. Die Frage, was einer ist, wenn er nur noch er selbst ist und dieses Selbst von einem hinfälligen, schmerzenden Leib ausgefüllt wird, bestimmt diese Geschichte. Arno Geigers Karl, herrisch und verzagt, fromm und zweifelnd, genusssüchtig und lebensmüde, wollte „endlich die Person sein, die er nie sein durfte. Aber die Person ist nicht mitgekommen.“ Karl hadert mit seinen Fehlern, die er in seiner denkwürdigen Abdankungsrede einbekannt hat, und verzweifelt an seiner Glaubensschwäche: „Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat.“
Gänsefüße als Kennzeichen
So gewährt ihm sein Autor eine letzte Reise ans Meer und in die Tiefe seiner Jahre, ohne Hofstaat, ohne Bürde der Geschichte, voller Abenteuer und erstaunlicher Erkenntnisse. Zu diesem Zweck gesellt er den prägnant gezeichneten historischen Gestalten, etwa Karls Leibarzt Henri Mathys und dem Beichtvater Juan Regla, einige erfundene bei, allen voran den elfjährigen Geronimo, einen illegitimen Sohn des Kaisers, der nichts von seinem Vater weiß. Mit seiner Hilfe nimmt Karl Reißaus, bei Nacht und Nebel verlassen sie San Yuste Richtung Norden. Karl will nach Laredo an der kantabrischen Küste, wo er zwei Jahre zuvor an Land ging. Noch in derselben Nacht werden sie in ein Scharmützel mit finsteren Gesellen verwickelt, die einen jungen Fuhrmann beinahe zu Tode prügeln. Er und seine Schwester sind Cagots – die Rezensentin musste nachschlagen: ein kleinwüchsiger Menschenschlag, der bis ins 19. Jahrhundert von den Pyrenäen bis in die Bretagne als aussätzig und schwachsinnig verfemt war. Die Cagots mussten Gänsefüße als Kennzeichen tragen und die Kirchen über einen eigenen Eingang betreten. In „Reise nach Loredo“ finden die Allerletzten der Gesellschaft und der Allererste eines Weltreichs zusammen, bis es sie in eine mythische Tote Stadt verschlägt, die einem von ihnen zum Verhängnis wird.
Stillstand in der Geisterstadt
Dass der Roman mit dem Aufbruch nach Laredo eine Abzweigung ins Magische nimmt, wird offenkundig, als der immobile Karl plötzlich fit genug für einen Maultierritt ist. Dann geraten die Jahreszeiten durcheinander, und schließlich tritt zu Geronimos Entzücken ein leibhaftiger Greif auf. Karl weidet sich an der Begeisterung seines Sohnes: „Es macht Freude, ein Kind zu sehen, das auf Zehenspitzen steht. Kinder auf Zehenspitzen geben ein gutes Gefühl, vor allem am Vormittag.“ Zwar vermag der Herrscher a.D. die Scheidewand zwischen sich und dem Leben nicht mehr einzureißen, doch erfährt er, was Freundschaft sein kann, und bekommt sogar eine Ahnung von der Liebe (die er doch auch mit Isabella von Portugal erlebt hat).
Buchinfo:
Arno Geiger: Reise nach Laredo
Roman, 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.08.2024
Hanser Verlag
Mit seiner berückenden Hadesfahrt durch Spaniens Wälder und Wüsten bis zum grandiosen Finale in der Brandung des Atlantik hat Arno Geiger viel mehr zustande gebracht als ein Memorial für den hässlichen Habsburger, nämlich ein freundlich-unerbittliches Lehrstück über Größe und Demut, Erfolg und Lebensglück. So ist „Reise nach Laredo“ mit seiner eigenwilligen Spröde ein typischer Arno-Geiger-Roman und steht doch, gerade in der österreichischen Tradition, nicht ohnegleichen da.

Manches wie der zähe Stillstand in der Geisterstadt mit dem schurkischen Wirt erinnert an Hofmannsthals „Reitergeschichte“ und an Joseph Roths frühe Erzählung „April“, die phantastisch-delirierende Aventüre des todkranken Kaisers an Leo Perutz’ Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ über Rudolf II. Eine Spur zum texanischen Laredo hat der Autor mit seinem Motto aus „The Streets of Laredo“ selbst gelegt: „Take me to green valleys, there lay the sod o’er me / For I‘m a young cowboy and I know I’ve done wrong“, singt Johnny Cash.
Einmal denkt Karl daran, wie er Tizian „zum Entsetzen seines Gefolges“ den herabgefallenen Pinsel reichte. Und an Tizians Bemerkungen über das Aufhören zur rechten Zeit. Man kann nur hoffen, dass der Autor, heute so alt wie sein Held zum Zeitpunkt der Resignation, das nicht auf sich bezieht.
Text: Daniela Strigl, „Die Presse“