Valerie Fritsch
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Die Beste im April 2024: Valerie Fritsch

Valerie Fritschs Roman „Zitronen“: Ungesunde Mutterliebe

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„Zitronen.“ Das klingt harmlos, erfrischend, nach südlicher Wärme. Valerie Fritschs Zitronen hängen zwar auch auf Bäumen, doch ebenso stehen sie wie die Sterne am dunklen Himmel oder geben die Größe von Tumoren an. Sie ziehen sich leitmotivisch durch den gleichnamigen neuen Roman der jungen Österreicherin. Am besten charakterisiert aber das Cover die buchstäbliche Zweischneidigkeit des Titels: Unter grünen Blättern liegen da zitronengelbe, spitze, scharfkantige Glasscherben.

Zitronen
Suhrkamp

Valerie Fritsch: „Zitronen“
Roman, erschienen am 12.02.2024
Suhrkamp Verlag

Auch an Fritschs Roman kann man sich leicht schneiden. Die 1989 geborene Grazerin, die für ihre Bücher „Die VerkörperungEN“ (2011), „Winters Garten“ (2015) und „Herzklappen von Johnson & Johnson“ (2020) viel Beifall erhielt, entfaltet eine Sprache, die sich mitunter zu verselbstständigen scheint, gerne in alle Richtungen austreibt und den Weg, den die Geschichte einschlagen wird, zu überwuchern droht. Dann werden Mensch und Natur wie wundersame Fundstücke eines Paradiesgärtleins bewundert, in dem zu verweilen es sich lohnt. Doch in diesem Garten gibt es nicht nur Blüten, die betören, sondern auch Dornen, die böse Wunden zufügen können. Dann biegt man ab von André Heller und nimmt Kurs auf Clemens J. Setz. Dann wird es spannend.

Fritsch erzählt die Lebensgeschichte von August Drach. Und der, das wird bald klar, hat es nicht leicht. Der Vater ist gewalttätig gegenüber Frau und Sohn. Als er eines Tages plötzlich verschwindet, atmen beide auf. Doch das Martyrium des Buben nimmt bloß andere Formen an. Er kränkelt, wird aus unerfindlichen Gründen immer schwächer. Die Mutter kümmert sich scheinbar liebevoll um ihn, schirmt ihn von der restlichen Dorfjugend ab und lässt ihn zum lebensunfähigen Außenseiter werden.

Viele Jahre später kommt August dahinter: Seine Mutter hat ihn mittels Medikamenten krank gemacht, um ihn an sich zu binden und in seiner Pflege Lebensinhalt zu finden. „Münchhausen-Stellvertretersyndrom“, nennt das die Wissenschaft. „Es handelt sich um eine subtile Form der Kindesmisshandlung, die bis zum Tod des Opfers führen kann. Die Täter - 90 bis 95 Prozent sind Frauen - sind meistens die leiblichen Mütter“, weiß das Online-Lexikon Wikipedia dazu.

Die Rettung bringt nicht der neue Lebensgefährte der Mutter, ein Arzt, der der vorsätzlichen Schwächung des Kindes eines Tages auf die Schliche kommt, sondern ein Blitzschlag, der August trifft. Wer den überlebt, überlebt alles. Der Jugendliche kommt zur Behandlung nach Wien, wird dem Zugriff der Mutter entzogen und beginnt ein neues Leben, zunächst als Reinigungskraft in der Gerichtsmedizin, wo er anhand der Leichen alle Spielarten des Todes kennenlernt, dann als Kellner in einem Nachtlokal, wo er endlich die Liebe kennenlernt.

Valerie Fritsch
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In diesem Abschnitt des Romans und des Lebens ihres Protagonisten ist Valerie Fritsch ganz auf der Höhe ihres Könnens. Sie umkreist das, was sich zwischen August und der um einige Jahre älteren Künstlerin Ava ereignet, gleichsam von innen und außen, rückt ihnen ganz nahe und findet für die große Gefühlsverwirrung, die sie dabei beschreibt, starke Bilder. „Es war eine erste Liebe, die erste nach jener der Mutter, unbeholfen, absolut. Eine, die Rettung versprach. Eine, die zu groß schien für die Wirklichkeit“, heißt es da. Und: „Wer sagte: Du bist mein Leben, meinte auch: Du bist mein Tod.“

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Das kann nicht gut gehen - und tut das auch nicht. Den einmal erlittenen Deformationen entkommt man nicht so einfach. Was soeben noch an Ödon von Horváth erinnerte, gleitet rasch Richtung Abgrund und wird zu einer typischen Geschichte von männlicher Gewaltausübung, für die Fritsch deutliche Worte findet. Doch Valerie Fritsch hat ihre „Zitronen“ noch nicht ganz ausgepresst und noch ein paar Wendungen zu bieten. Am Ende muss man tief durchatmen. Hoch konzentriert schmeckt Zitronensaft ziemlich sauer. Er soll aber die Abwehrkräfte stärken.

Text: Wolfgang Huber-Lang/APA

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