Robert Menasse
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Der Beste im Dezember 2022: Robert Menasse

EU-Balkan-Politik als Pageturner

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In „Die Hauptstadt“ (2017) wollte Robert Menasse die EU erzählbar machen. Das Experiment wurde zum Erfolgsroman, der den deutschen Buchpreis einheimste. Mit „Die Erweiterung“ legt er nach: ein gewitztes, fesselndes Werk über die Westbalkan-Politik der EU und eine nationalistische Strategie, die sich starker Symbole bedient.

Eine Trilogie über die EU samt all ihren bürokratischen Hinterbühnen und kleinen wie großen Funktionsträgerinnen und -träger, ihren politischen Ansprüchen und faktischen Widersprüchen. Noch dazu sollten die Teile unabhängig voneinander lesbar sein. So lässt sich Menasses selbst gesetzter Anspruch zusammenfassen. Ein Hang zur großen literarischen Geste begleitet ihn seit seinem Debütprojekt, der „Trilogie der Entgeisterung“ (1988-1995) in der er in drei Romanen und einer Nachschrift Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“ umkehren wollte.

Robert Menasse
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Robert Menasse

Eine gewisse Spannung beziehen Menasses Romane also schon aus der Frage, ob er die jeweilige Aufgabe, die er sich gestellt hat, auch einlöst. Für „Die Erweiterung“, in der sich alles rund um einen EU-Westbalkan-Gipfel und den Beitrittskandidaten Albanien dreht, dessen Ministerpräsident nur allzu versiert das Spiel der Symbolpolitik beherrscht, kann man das getrost bejahen – es ist ein politischer Diagnoseroman geworden, der geschickt zwischen Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Fiktion operiert.

Drehen an den Schrauben der Fiktion

In Tirana regiert ein ehemaliger Basketballprofi und renommierter Maler, dessen engster Berater ein Dichter ist, der sich im heiteren Spiel der internationalen Beziehungen besonders auf das Fach der Symbolpolitik verlegt hat. Was zusammengefasst wie eine Parabel klingt, ist nahe an der Wirklichkeit, deckt sich die Biografie des namenlosen Premiers doch auffällig mit dem gerade in dritter Legislaturperiode amtierenden Edi Rama in Albanien.

Freilich dreht Menasse hier gekonnt an den Schrauben der Fiktion: Der Dichter rät seinem Chef gegenüber der EU, sich als Reinkarnation des Nationalhelden Skandebeg zu inszenieren, um einen großalbanisch-nationalistischen Anspruch vorzutäuschen. Den politischen Spin verpackt der Politiker dann auch unverhohlen im Gespräch mit einer Journalistin: „Entweder kommt Albanien in die EU, oder es kommen die Albaner. Als Pflegerinnen, als Schwarzarbeiter, als – ich formuliere es einmal vorsichtig so: als Familien mit gewissen Interessen.“

Die Erweiterung
Suhrkamp

Robert Menasse: „Die Erweiterung“
Roman
Erscheinungstermin: 10.10.2022, 653 Seiten
Suhrkamp

Wenn Artefakte politisch werden

Dass Menasse im nächsten Absatz erzählen kann, wie sich der Ministerpräsident ob seines gelungenen taktischen Manövers erfreut, zeigt, was zeitgenössisches politisches Erzählen leisten kann: Vermittlung, Analyse und Kommentar zugleich. Wobei in „Die Erweiterung“ bei allem ernsthaften Anspruch die Komik nicht zu kurz kommt.

Dafür sorgt etwa die kauzige Figur des österreichischen EU-Beamten Karl Auer, der sich ausgerechnet in eine albanische Völkerrechtsexpertin, die das Team des Ministerpräsidenten berät, verliebt. Auch die genüsslich ausgebreitete Posse rund um Skandebegs Helm vergnügt: Dieser fristet als Exponat von geringer Relevanz sein Dasein im Wiener Weltmuseum – bis er für die Symbolpolitik des albanischen Ministerpräsidenten wichtig wird. Diplomatische Verwicklung, Diebstahl, Lösegeldforderung und eine Verwechslungsepisode rund um eine Kopie des Artefakts inklusive.

EU-Erweiterung als Beziehungsgeschichte

Auch der polnische EU-Beamte Adam Prawdower spielt eine große Rolle: Als Jude sieht er antisemitische Tendenzen in der populistischen Politik seines ehemaligen Freundes und Weggefährten in der bewaffneten Solidarnosc-Bewegung des amtierenden polnischen Präsidenten. Dass ausgerechnet Adam die Westbalkan-Konferenz der EU im polnischen Poznan organisieren muss, die für seinen ehemaligen Blutsbruder nur ein politischer Spielball ist, birgt natürlich Konfliktpotential.

Wie Menasse aus dieser Konstellation eine hintergründige Groteske entfaltet, die schelmisch gegen gegenwärtige Politik austeilt und in der Darstellung mehr zählt als der Inhalt, ist gewieft und unterhaltsam. Dass der Showdown des Romans ausgerechnet auf dem albanischen Schiff „SS Skanderbeg“ stattfindet – und damit das Staatsschiff als große politische Allegorie aufgerufen wird – ist ein großer Knalleffekt. Was bleibt nach dem Zentrum Brüssel in „Die Hauptstadt“ und der Vermessung der Außengrenzen der EU in „Die Erweiterung“ als Schauplatz noch übrig? „Wenn ich an dem Projekt weiter arbeiten sollte und über den Zerfall der EU schreiben und erzählen sollte, dann werde ich nach Ungarn gehen müssen“ so Menasse im ORF-Interview.

Text: Florian Baranyi, orf.at

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