Vorborgenes Begehren
Was sie immer schon über Sex, Intimität und Begehren wissen wollten, hat Arthur Schnitzler in seinem gesellschaftskritischen Episoden-Stück „Reigen“ im Fin de Siècle festgehalten. Ein Karussell der Libido, und ein Jahrmarkt des Machthungers; ein Prater der Gefühle und Emotionen kurz vor der Katastrophe, denn der Erste Weltkrieg steht vor der Tür; Wien tanzt und flirtet am Rande des Abgrunds.

In seinem „Reigen“ verstößt Schnitzler gegen die Konventionen des zeitgenössischen Salontheaters, in dem Erotik zwar thematisiert wird, aber keinesfalls explizit. Denn das Überschreiten der Grenze zwischen Erotik und Sexualität galt damals als Tabubruch. Zunächst war der „Reigen“ gar nicht für die Bühne gedacht, nur 200 Exemplare wurden gedruckt, die Schnitzler an seine Freunde weitergab. 1920 kam es dann zur Uraufführung in Berlin und brachte klerikale und nationale Kreise auf die Barrikaden. Die Schauspieler mussten sich wegen Unzucht und Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht verantworten.

Das zumeist unter Polizeischutz gegebene Drama umfasst zehn Episoden, deren Akteure sich erotisch im Kreis bewegen. Allesamt sind sie, gleichgültig ob Soldat, Dirne, Graf, Dichter oder Ehefrau, in flüchtige sexuelle Affären verwickelt, ihre Begierden drehen sich in einem Kreis von Lügen und Nötigungen.

Für die Salzburger Festspiele hat Schauspiel-Chefin Bettina Hering 10 zeitgenössische AutorInnen mit einer Überschreibung der einzelnen Szenen beauftragt. Die Texte sind komisch, berührend, zugleich explosiv und stammen von brillanten internationalen Stimmen, wie von dem Schweizer Lukas Bärfuss, der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen oder der französischen-marokkanischen Autorin Leila Slimanì.

Die lettisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross untersucht in ihrer Inszenierung die Beziehung zum Original und wie die heutigen brisanten und gesellschaftsrelevanten Fragen um das Begehren nachhallen. Sie wolle im „Reigen“ die Hierarchie von Macht ergründen und aufzeigen, wo die Macht in unserer Gesellschaft wirke. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg haben Hering und Ross den russischen Autor Mikhail Durnenkov gewonnen. Er lebt derzeit in Helsinki, nachdem er in Russland den Ukraine-Krieg öffentlich verurteilt hatte. Durnenkov verlor seine Dozentenstelle an der Moskauer Kunsttheaterschule, seine Stücke wurden in Russland verboten.
TV-Beitrag: Susanna Schwarzer